Die Sache mit Israel (eBook)
224 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-30368-6 (ISBN)
Ist Israel eine Demokratie? Ist Israel ein Apartheidstaat? Ist Kritik an Israel antisemitisch? Ist Israel ein fundamentalistischer Staat? Gehört Palästina den Palästinensern?
Richard C. Schneider, SPIEGEL-Autor und langjähriger Israel-Korrespondent der ARD, lebt seit fast 20 Jahren in Tel Aviv, kennt Alltag und Geschichte des Landes und weiß um die gängigen Vorbehalte und Vorurteile in Deutschland. Bei den Antworten auf diese fünf Fragen setzt er an, um einige grundlegende Dinge über Israel zu erklären - 75 Jahre nach der Staatsgründung Israels und in einem entscheidenden Moment für die Demokratie des Landes.
Richard C. Schneider, geboren 1957, ist Journalist, Buch- und Fernsehautor. Er war von 2006 bis 2015 ARD-Studioleiter und Chefkorrespondent in Tel Aviv, 2016 Leiter TV und Chefkorrespondent im ARD Studio Rom, und arbeitete bis Ende 2022 als Editor-at-large und Filmemacher für die ARD. Zudem schreibt er als SPIEGEL-Autor regelmäßig über Israel und den Nahen Osten. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit dem Nahostkonflikt, der israelischen Gesellschaft und der jüdischen Geschichte. Zuletzt sind von ihm erschienen »Alltag im Ausnahmezustand. Mein Blick auf Israel« (DVA 2018), »Wie hättet ihr uns denn gerne?« (2022, zusammen mit Özlem Topçu) und die vierteilige Dokumentarserie »Die Sache mit den Juden« (2021) über unterschiedliche Formen des Antisemitismus in Deutschland. Richard C. Schneider lebt nach Jahren in Tel Aviv heute wieder in München.
Prolog
Während ich diese Zeilen schreibe, ist noch völlig unklar, was geschehen wird, welche Folgen die aktuelle Krise in Israel haben wird. Es ist Anfang März 2023, im Mai feiert Israel seinen 75. Gründungstag. In vier Wochen soll die sogenannte Justizreform der Regierung Netanyahu in drei Lesungen verabschiedet werden und in Kraft treten. Die Eckpfeiler dieser tiefgreifenden Veränderungen des gesamten politischen Systems sind schnell erklärt:
- Zukünftig soll das Oberste Gericht nur noch die Möglichkeit haben, von der Regierung verabschiedete Gesetze, die in der Beurteilung der Richter den sogenannten Basic Laws, den Grundgesetzen des Staates, widersprechen, abzuweisen, wenn dem mindestens 12 von 15 Richtern zustimmen. Allerdings: Im Falle einer Ablehnung könnte mit einer einfachen Mehrheit von 61 Stimmen in der Knesset die Entscheidung des Obersten Gerichts überstimmt werden. Die Knesset, das israelische Parlament, hat 120 Mandate, 61 Mandate sind also die knappste Mehrheit.
- Die Reform sieht auch vor, dass in Zukunft die Regierung neue Richter berufen kann. Das Gremium, das diese Aufgabe hat, soll so umstrukturiert werden, dass die Regierungskoalition stets die Mehrheit der Sitze hat.
- Ebenso sollen die Rechtsberater der Ministerien künftig nicht mehr der Generalstaatsanwaltschaft unterstehen. Auf ihre Meinung kann, muss aber nicht mehr gehört werden. Die Minister sollen die Rechtsberater zukünftig auch einfach feuern können.
So weit ein paar der entscheidenden Punkte der von der Regierung als Justizreform deklarierten Veränderungen des politischen Systems. Die Gegner der Regierung sehen darin jedoch keine Reform, sondern einen Coup, einen Umsturz. Gewiss ist, dass mit diesen Plänen die Gewaltenteilung in Israel aufgehoben wäre, dass es keine Kontrolle der Politik mehr gäbe, dass die Zivilrechte des Individuums gefährdet wären. Wenn die Reform so umgesetzt wird, wie sie im Augenblick geplant ist, dann wäre nicht einmal das Recht zur Wahl garantiert, was Simcha Rothman, der Vorsitzende des Komitees für Verfassung, Gesetz und Justiz, Ende Februar sogar zugab. Man wolle das noch korrigieren, später, hieß es.
Inzwischen wird im In- und Ausland nur noch vom Ende der Demokratie in Israel gesprochen. Und alle, alle warnen vor den Folgen: Wirtschaftswissenschaftler, Banker, Hightech-Unternehmer, Politiker, Ex-Militärs, Ex-Geheimdienstler, Ex-Richter, Rechtsanwälte, Künstler. Doch das interessiert bislang weder Rothman noch Justizminister Yariv Levin. Die beiden sind die Treiber in dem Bemühen, die Reform bis zum Ende der Wintersaison der Knesset, also bis Ende März, durchzubringen.
Die Liste derjenigen, die vor den Folgen dieser Reform warnen, die fürchten, dass Israel bald ein Staat werden könnte wie Ungarn, Polen oder die Türkei, diese Liste wird lang und länger. Hunderttausende Israelis demonstrieren seit Bekanntwerden der Pläne gegen die Regierung, und es werden immer mehr. Am 1. März kam es zu Demonstrationen im ganzen Land, Straßen, Autobahnen und Verkehrsknoten wurden blockiert. In Tel Aviv ging die Polizei massiv gegen die Protestierenden vor. Kommt es zum Bürgerkrieg, wie viele befürchten?
Seit Wochen wird auch im ganzen Land gestreikt. Der frühere Premier Ehud Barak, einer der wohl höchstdekorierten Militärs des jüdischen Staates, forderte dazu auf, den Ungehorsam à la Gandhi zu üben. Hightech-Unternehmen ziehen bereits Milliarden von israelischen Banken ab, ebenso Venture-Capital-Investoren. Einige Start-ups, darunter ein Unicorn, haben ihren Weggang aus Israel angekündigt. Allein im Januar und Februar 2023 hat der israelische Schekel gegenüber dem US-Dollar um knapp sechs Prozent nachgegeben. Jetzt, Anfang März, ist immer noch völlig unklar, wohin die Reise gehen wird. Kann noch irgendjemand den Zug aufhalten, der immer schneller in Richtung Systemveränderung rast? Können die Demonstrationen etwas bewirken oder die einsetzende Wirtschaftskrise? Braucht es Druck von außen, aus Washington? Kommt da noch mehr als nur ein paar mahnende Worte? Im Moment sieht es nicht danach aus, als könnte irgendjemand, irgendetwas die Regierung Netanyahu von ihrem Vorhaben abbringen. Möglicherweise ist Israel Anfang April ein gänzlich anderes Land als das Israel, das man seit Jahrzehnten kennt.
Hinzu kommt: Seit Wochen werden die Spannungen im Westjordanland immer größer. Die israelische Armee geht so gut wie jeden Tag gegen Terroristen vor, die Aktionen werden immer blutiger, wie kürzlich in Nablus, wo das Militär bei einer Operation elf Palästinenser tötete und über hundert verletzte. Auch von palästinensischer Seite nehmen die Attentate und Angriffe zu, auch sie werden immer brutaler und aggressiver. Bei einem Attentat vor einer Synagoge in Jerusalem wurden sieben Israelis getötet und mehrere verletzt; bei einem anderen Attentat, bei dem ein Palästinenser in Jerusalem mit seinem Auto in eine Menschenmenge raste, starben zwei Israelis. Nachdem vor einigen Tagen bei einem Anschlag im Westjordanland zwei junge Israelis ermordet wurden, drehten radikale jüdische Siedler durch. Hunderte stürmten das palästinensische Städtchen Huwara mit seinen 7000 Einwohnern, zündeten Autos und Häuser an, wüteten dort mehrere Stunden. Dabei starb ein Palästinenser, Dutzende wurden verletzt. Die Armee und die Polizei brauchten endlos viel Zeit, um dem Wahnsinn ein Ende zu bereiten, sie konnten der Lage kaum Herr werden, was schlimm genug war.
Noch schlimmer aber war so manche Äußerung aus den Reihen der Regierungsparteien, wie etwa die von Zvika Fogel von der rechtsextremen Partei Otzma Yehudit des Nationalen Sicherheitsministers Itamar Ben Gvir. Er freute sich, eine brennende palästinensische Stadt zu sehen, und hoffte auf mehr: »Ich bin sogar sehr zufrieden, weil sie in Huwara verstanden haben, dass es ein Gleichgewicht des Terrors gibt, das die israelischen Streitkräfte im Moment nicht erreichen.« Auch wenn einige Politiker erklärten, dass es nicht angehe, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen, so ließen Tonfall und Wortwahl dennoch keinen Zweifel, dass Teile der neuen Regierung das »Pogrom«, wie die linksliberale Tageszeitung Haaretz und sogar der Kommandeur der israelischen Truppen im Westjordanland das Wüten in Huwara nannten, zumindest »nachvollziehen« konnten.
Die Aufregung in den israelischen Medien und der breiten Öffentlichkeit über die Raserei der Siedler ist ehrenvoll, aber nicht ehrlich. Selbst wenn ein Abgeordneter der oppositionellen Arbeitspartei einen hohen Betrag einsammelte, um den Palästinensern in Huwara, die mit der Ermordung der beiden israelischen Jungs unmittelbar zuvor nichts zu tun hatten, eine Art Kompensation zu übergeben, so hat die israelische Gesellschaft doch über Jahre und Jahrzehnte ausgeblendet, was in den besetzten Gebieten geschieht. Dass radikale Siedler immer wieder das Gesetz selbst in die Hand nehmen, wusste jede Regierung, wusste auch die Armee seit Langem. Abgefackelte Olivenhaine waren dabei noch das geringste Übel. Gewiss, nachdem nun in der aktuellen Regierung mit Otzma Yehudit und Religiöser Zionismus zwei Parteien an der Macht sind, die ideologisch aus der Siedlerbewegung stammen oder ihr sehr nahestehen, fühlten sich die Siedler, die Huwara verwüsteten, von ganz oben sozusagen gedeckt. Und nicht nur das, immer häufiger greifen Siedler auch die eigene Armee an, die ihre Ausschreitungen gegen Palästinenser zu stoppen versucht. So wollte ein Siedler bei den Unruhen in Huwara einen israelischen Offizier mit seinem Auto überfahren, andere bewarfen die eigenen Soldaten mit Steinen. Kein Einzelfall, solche Situationen häufen sich in jüngster Zeit.
Als am 1. November in Israel das fünfte Mal innerhalb von drei Jahren gewählt wurde, ahnte zunächst niemand, was da auf die israelische Gesellschaft zukommen würde. Nachdem Benjamin Netanyahu zwölf Jahre ununterbrochen Regierungschef war, gelang es 2021 acht Parteien, eine Koalition zu schmieden, die es in sich hatte. Sie alle einte der Wunsch, Netanyahu von der Macht fernzuhalten. Viele, die nun »Bibis« Gegner geworden waren, hatten einst eng mit ihm zusammengearbeitet. Sie misstrauten ihm zutiefst, sie hielten ihn für einen Lügner und Opportunisten, für einen Politiker, der vor allem an sich selbst dachte, nachdem er wegen mutmaßlicher Korruption in drei Fällen angeklagt worden war. Alle waren sie überzeugt, dass Netanyahu nur noch eines im Sinne hatte: seinen Prozess auf irgendeine Weise zu beenden und einer drohenden Gefängnisstrafe zu entgehen, koste es, was es wolle. Das Wohl des Staates schien ihm nicht mehr wichtig.
Acht Parteien schlossen also eine Koalition. Es waren linke, zentristische und rechte Parteien, die sich darauf einigten, miteinander eine Alternative zu Netanyahu anzubieten. Dabei entschieden sie, das heikelste Thema nicht anzutasten: die Frage, was mit den Palästinensern und den besetzten Gebieten geschehen soll. Sie wussten, dass die ideologischen Gräben zu tief waren, um dieses heiße Eisen anzufassen. Die eigentliche Sensation aber war, dass die sieben jüdischen Parteien zum ersten Mal in der Geschichte Israels eine arabische Partei aufnahmen. Ja, sie brauchten sie, um eine Mehrheit zu haben, aber es war zugleich – so schien es zumindest – ein Aufbruch zu etwas ganz Neuem.
Rund zwei Millionen Palästinenser sind israelische Staatsbürger, das sind etwa zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung Israels. Und nun saß eine ihrer Parteien in einer zionistischen Regierung. Möglich geworden war das, weil zuvor Netanyahu eben diese Partei, die UAL (United Arab List) des Mansour Abbas, in die Regierung holen wollte. Netanyahu hatte bei der vierten Wahl...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Regional- / Landesgeschichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2023 • Anti-Israelismus • Antisemitismus • Antizionismus • Apartheid • Arafat • BDS • Benjamin Netanjahu • Besetzte Gebiete • Dan Diner • David Ben Gurion • eBooks • Gaza • Gazastreifen • Geschichte • Hizbollah • Israel • israelisch-Palästinensischer Konflikt • Israel Palästina • Israelpolitik • Jerusalem • Knesset • Kolonialismus • Neuerscheinung • Palästina • settlements • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Staatsgründung Israels • Tel Aviv • Theodor Herzl • Tom Segev |
ISBN-10 | 3-641-30368-0 / 3641303680 |
ISBN-13 | 978-3-641-30368-6 / 9783641303686 |
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