Überfällig (eBook)
288 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-29939-2 (ISBN)
Zum Kinderkriegen gehören mindestens zwei. Verhütung aber ist weltweit »Frauensache«, mit allen damit verbundenen finanziellen Kosten, körperlichen und seelischen Nebenwirkungen, die empfängnisverhütende Mittel wie die - noch immer von knapp 50% der Frauen in Deutschland genutzte - Anti-Baby-Pille haben. Wir verstehen uns als modern und gleichberechtigt, doch in Sachen Verhütung scheinen wir in den 60er-Jahren steckengeblieben zu sein: Eine »Pille für den Mann« stellt die wohl größte Marktlücke des 21. Jahrhunderts dar. Studien werden aufgrund von Nebenwirkungen abgebrochen, die für hunderte Millionen von Frauen Alltag sind. Schuld daran sind nicht weinerliche Studienprobanden, sondern ein verkrustetes System, das technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt hemmt. Franka Frei deckt die dahinter stehenden Machtstrukturen auf und fordert ein radikales Umdenken, denn: Männliche Verhütung ist nicht nur möglich, sie findet bereits tausendfach Anwendung. Eine wachsende Bewegung betrachtet Verhütungsgerechtigkeit nicht als feministische Luxusforderung, sondern als längst überfällige Maßnahme, die angesichts hoher Zahlen ungewollter Schwangerschaften, ökologischer Krisen und der Angst vor Ressourcenknappheit von äußerster politischer Brisanz ist.
Franka Frei, 1995 in Köln geboren und im österreichischen Salzburg aufgewachsen, ist Autorin und Journalistin mit einem besonderen Schwerpunkt auf reproduktive Rechte und Gesundheit. Im Jahr 2020 erschien ihr populärwissenschaftliches Sachbuch »Periode ist politisch. Ein Manifest gegen das Menstruationstabu« (Heyne Hardcore). Im März 2021 folgte ihr Debütroman »Krötensex« bei Heyne, 2023 das populärwissenschaftliche Sachbuch »Überfällig. Warum Verhütung auch Männersache ist« beim Goldmann Verlag.
VORWORT
AUF FRUCHTBAREN HODEN
August 2022. Ein Städtchen namens Butzbach, irgendwo in der hessischen Provinz.
Ich besuche ein kleines Grüppchen von leidenschaftlichen Elektroexperten. Die vier Männer aus zwei Generationen haben ein neuartiges Gerät zur Verhütung entwickelt – und am eigenen Leib erprobt. Fasziniert halte ich den Apparat, aus dem buntes Kabelgewirr ragt, wie eine Schneekugel auf der ausgestreckten Handfläche. Für mich als siebenundzwanzigjährige Frau mit langer, leidvoller Pillen- und Spiralengeschichte wirkt das Ding wie eine Zeitmaschine, die mich in eine bessere Welt katapultiert. Mehr als die Hälfte meiner Lebenszeit (!) steht im Zeichen verschiedener rosa und weißer Tabletten, Hormonringe und Spiralen mit den unterschiedlichsten Nebenwirkungen – von Libidoverlust und Post-Pill-Akne bis hin zu schwallartigen Nachblutungen und dem nächtlichen Besuch der Berliner Notaufnahme. Verhütung macht selten Spaß. Dabei könnte es längst bessere, schmerzlose und hormonfreie Lösungen geben – für beide Geschlechter.
»Und da kommen die Hoden rein?« Mit zwei Fingern spiele ich an einer eierförmigen Klammer herum, die mit dem Prozessor verbunden ist. Kevin nickt. In den randlosen Brillengläsern des jungen Elektroingenieurs spiegeln sich die blinkenden Lämpchen in mehreren Farben. Im Raum wabert Erfindergeist. Der Duft von Gehirnschmalz und Revolution liegt in der Luft. Vor mir auf dem Tisch steht ein kleines Kameramikroskop. Der darin befindliche Teststreifen ist milchig-weiß betüncht.
Über eine eigens programmierte Software beobachten wir bewegungslose Spermien im Livestream. Wenn wirklich klappt, was hier zu sehen ist, nämlich dass Samenzellen durch wenige Minuten der präzisen Behandlung mit kaum spürbaren Elektrowellen nicht mehr dazu in der Lage sind, eine Eizelle zu befruchten, könnte eine langersehnte Verhütungsmethode für den Mann1 als Alternative zu Pille und Co. bald in jedem Badezimmerschrank vorzufinden sein. Das prophylaktische Eierwärmen wäre dann vielleicht vergleichbar mit alle paar Wochen Haareschneiden, Bartstutzen oder Autowaschen gehen – kein großer Umstand. Dank vieler Eigenversuche des kleinen Erfinderteams ist die futuristische Hodenklammer zur Verhütung im Prinzip einsatzfähig.
»Es ist seltsam, dass bisher noch niemand darauf gekommen ist«, bemerkt Kevin nüchtern. »Wir messen eine Temperatur und steuern eine Heizung. Das ist eigentlich total banal. Das, was es so kompliziert macht, ist das ganze Drumherum.«
Wir leben im 21. Jahrhundert. Wir klonen Mais, transplantieren Köpfe und können für eine halbe Million US-Dollar sogar Urlaub im Weltall machen. Digitalisierung, Globalisierung und das beständige Streben nach Wachstum, Profit und Innovation bringen Tempo in die turbokapitalistische Weltordnung. Wirtschaft, Politik, Technik – alles ist in Bewegung. Nur ein Karren steckt seit mehr als sechzig Jahren im Schnee von gestern fest: der, der endlich für Fortschritt im Bereich Verhütung sorgt.
Seit der Marktzulassung der Antibabypille Anfang der Sechzigerjahre ist Verhütung selbstverständlich »Frauensache« – mit all ihren körperlichen, seelischen, zeitlichen und finanziellen Kosten. Knapp die Hälfte der Frauen im Alter zwischen achtzehn und neunundvierzig Jahren in Deutschland schluckt nach wie vor täglich die Antibabypille.2 Mit den Beipackzetteln ließen sich ganze Wände tapezieren. Alternativen gibt es zwar. Doch von den mehr als 250 zugelassenen Pillenarten, Implantaten, Ringen, Stäbchen, Spiralen, Kappen und Spritzen haben alle eines gemeinsam: Sie sind auf den Körper mit Uterus zugeschnitten. Männern bleibt hingegen nur die schmale Auswahl zwischen einem langfristig durchtrennten Samenleiter (also einer Vasektomie) und dem Kondom. Ersteres ist ein operativer Eingriff, der sich nicht sicher rückgängig machen lässt, und Letzteres ist nicht zu Unrecht dafür bekannt, gerne mal zu versagen. Sind wir als Gesellschaft nicht längst an dem Punkt angelangt, an dem es auch für spermienproduzierende Menschen bessere Möglichkeiten zur Verhütung geben sollte?
Fakt ist: Verhütung für den Mann ist möglich.
Sowohl hormonelle Methoden als auch eine Reihe von nicht-hormonellen Methoden haben bereits ihre Wirksamkeit bewiesen. Mittel, mit denen sich der Samenleiter nur vorübergehend verschließen ließe, sind vergleichbar mit Spiralen sowie anderen Kunststoff- und Metallimplantaten, die Millionen von Menschen mit Uterus sich bei Gynäkolog:innen einsetzen lassen. Dazu gibt es nicht-invasive Alternativen, die weder einen Piks noch einen Schnitt oder irgendetwas, das in den Körper gelangt, erfordern. Kurz gesagt: Die Palette an Optionen zur Verhütung ist quasi doppelt so breit, wie allgemein bekannt.
Wo liegt also das Problem?
Was genau ist dieses »Drumherum«, das die Welt von einer potenziell revolutionären Erfindung aus Butzbach trennt?
EINE ART »PILLE FÜR DEN MANN« STELLT DIE WOHL GRÖSSTE MARKTLÜCKE DES 21. JAHRHUNDERTS DAR – DOCH DASS DAS SO IST, HEISST NICHT, DASS DAS SO BLEIBEN MUSS
Dieses Buch will Antworten auf komplizierte Fragen liefern. Verhütung ist politisch. Und dabei geht es um weit mehr als um technische Möglichkeiten oder Fragen des Geschlechts.
Weltweit sind mehr als 1,9 Milliarden Frauen im reproduktiven Alter – ungefähr die Hälfte von ihnen, rund 922 Millionen, nutzen zum aktuellen Zeitpunkt Kontrazeptionsmittel. Dass sie dies tun, nimmt immensen Einfluss auf ihr eigenes Wohlergehen, ihre Freiheit und ihre Rechte, aber auch auf das gesellschaftliche Zusammenleben, die Wirtschaft und die Umwelt. Moderne Verhütung gilt mitunter als größte gesellschaftliche Errungenschaft – ähnlich wie das Feuer, Penicillin oder die erste Mondrakete. Gleichzeitig stehen bestimmte Mittel immer mehr in der Kritik. Das umfangreiche Pillenschlucken ist kulturell enorm aufgeladen – irgendwo zwischen feministischer Befreiung und dem absoluten Gegenteil davon, also Zwang, Missbrauch und Unterdrückung. Und das kommt nicht von ungefähr, immerhin geht es um das gezielte Steuern der menschlichen Reproduktion.
Sprechen wir über Verhütung, müssen wir auch über ihre dunkle Geschichte reden, die bis in die Gegenwart reicht, und uns Fragen hinsichtlich unserer Zukunft stellen – zwischen Utopie und Dystopie. Denn geht es um Verhütung, geht es um Sex, Geld und Macht. Wer das Sagen über unsere Fortpflanzung hat, entscheidet buchstäblich über Leben und Tod.
Auf der Suche nach Antworten, warum es schon so lange als selbstverständlich gilt, dass Verhütung »Frauensache« ist, habe ich mich auf eine Reise begeben: Studien und Geschichtsbücher gewälzt, Kongresse besucht, mich mit Expert:innen aus der Forschung und der Politik sowie Aktivist:innen vernetzt. In Dutzenden faszinierenden Gesprächen durfte ich als Mensch mit Vulva so einiges über Hoden lernen – Körperteile, die für mich in ihren kulturellen und politischen Implikationen anfangs baumelndes Neuland darstellten. Letztendlich bin ich überraschend auf eine wachsende Bewegung gestoßen, in der Männer nicht nur gerne selbst verhüten würden, sondern es bereits tun. Aus Liebe zur Partnerin, zur Technik oder aus dem festen Glauben an eine bessere Gesellschaft, trotz enormer bürokratischer Hürden und fehlender Unterstützung, teilweise sogar unter Androhung von Geldstrafen und Freiheitsentzug.
VERHÜTUNG FÜR DEN MANN EXISTIERT LÄNGST – UND ZWAR NICHT NUR HINTER DEN VERSCHLOSSENEN TÜREN WEIT ENTFERNTER FORSCHUNGSLABORE
Um Missverständnissen gleich zu Beginn vorzubeugen, einige zentrale Punkte:
- Menschen und ihre Realitäten sind unterschiedlich. Die Wahl des passenden Verhütungsmittels sollte in jedem Fall aus einer selbstbestimmten, informierten Entscheidung fallen und niemals unter Zwang oder Druck geschehen.
- Alle bestehenden Methoden zur Verhütung – Kondom, Vasektomie, Pille, Spirale, NFP (Natürliche Methoden der Familienplanung) etc. – haben ihre Berechtigung und können auch in Zukunft das passende Mittel zum Zweck darstellen.
- Eine Art »Pille für den Mann« wird weder Abtreibungen noch Kondome ersetzen können. Kondome sind weiterhin zum Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten unabdingbar. Die Möglichkeit, eine ungewollte Schwangerschaft bei Bedarf abzubrechen, ist und bleibt von unermesslichem Wert für die Gesundheit, die Würde, die soziale und finanzielle Unabhängigkeit eines jeden Menschen.
- Verhütung ist nicht Frauen- oder Männerverantwortung, sondern gemeinsame Sache. Daher soll es keineswegs um Schuldzuweisungen gehen oder darum, den Spieß mit der Verhütung umzudrehen. Vielmehr ist das Ziel, den Spießrutenlauf zu beenden.
Vermutlich halten viele Menschen – besonders diejenigen, die nie längerfristig am eigenen Körper verhütet haben, den Wunsch nach besseren Kontrazeptionsmitteln erstmal für eine feministische Luxusforderung. Doch es ist einfach, Dinge zu ignorieren, wenn sie eine:n selbst nicht stören. Damit sich etwas ändern kann, braucht es Solidarität und Bewusstsein für Ungerechtigkeiten, die vielen vielleicht bislang kaum aufgefallen sind – nur so kann sich gesamtgesellschaftlich etwas ändern. Und zwar auf vielen Ebenen. Auch wenn wir alle gerne hätten, dass Sexismus, Rassismus und andere -ismen der Vergangenheit angehören – die Welt wächst auf ungerechten Strukturen, oft ist uns dies nicht mal bewusst. Niemand ist frei davon. Doch wir alle profitieren von gerechteren Verhältnissen.
Meine persönliche Geschichte ist...
Erscheint lt. Verlag | 20.4.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2023 • Abtreibung • Aktivismus • Care-Arbeit • Die Pille danach • Die Pille für den Mann • eBooks • female empowerment • Feminismus • Geburtenkontrolle • Geschlechtergerechtigkeit • Gleichberechtigung • Kontrazeption • Männlichkeit • Margarete Stokowski • Mental Load • Neuerscheinung • Neuerscheinungen 2023 • Periode ist politisch • Potenz • Rassismus • Sachbuch • Sorgearbeit • Soziologie • Spirale • Sterilisation • toxische männlichkeit • Überbevölkerung • Untenrum frei • Vasektomie • Verhütung • Verhütungsring • Viagra • wir sind doch alle längst gleichberechtigt |
ISBN-10 | 3-641-29939-X / 364129939X |
ISBN-13 | 978-3-641-29939-2 / 9783641299392 |
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