Vom Hintern (eBook)
352 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60325-6 (ISBN)
Heather Radke ist Essayistin, Journalistin und mitwirkende Redakteurin und Reporterin bei Radiolab, dem mit dem Peabody Award ausgezeichneten Programm von WNYC. Sie hat für Magazine wie The Believer, Longreads und The Paris Review geschrieben und unterrichtet am Creative Writing MFA Program der Columbia University. Bevor sie Schriftstellerin wurde, arbeitete Radke als Kuratorin am Jane Addams Hull-House Museum in Chicago.
Heather Radke ist Essayistin, Journalistin und mitwirkende Redakteurin und Reporterin bei Radiolab, dem mit dem Peabody Award ausgezeichneten Programm von WNYC. Sie hat für Magazine wie The Believer, Longreads und The Paris Review geschrieben und unterrichtet am Creative Writing MFA Program der Columbia University. Bevor sie Schriftstellerin wurde, arbeitete Radke als Kuratorin am Jane Addams Hull-House Museum in Chicago.
Einleitung
Der erste Po, an den ich mich erinnern kann, ist nicht mein eigener, sondern der meiner Mutter. Mit meinen sieben Jahren saß ich auf dem flauschigen Klodeckelbezug im Badezimmer meiner Eltern und sah ihr dabei zu, wie sie sich morgens fertig machte. In BH und Unterhose stand sie vor dem Spiegel, cremte sich ein und drehte das kurze braune Haar auf Lockenwickler: große, runde rosafarbene oben und ein paar kleinere grüne an den Seiten. Sie kippte das Fenster, um den Wasserdampf vom Duschen entweichen zu lassen, und ich wurde von der kalten, dünnen Michiganer Morgenluft wach gepustet. »Mach die Augen zu«, wies sie mich an, und während ich sie schloss, besprühte sie ihr Haar großzügig mit Haarspray. Weil ich den Hustenreiz fürchtete, hielt ich die Luft an. Anschließend nahm meine Mutter die Brille ab, beugte sich ganz nah an den Spiegel und bog sich die Wimpern nach oben, sodass mir ihr Hinterteil entgegenragte.
Der Körper meiner Mutter war bis dahin der einzige Erwachsenenkörper, den ich je nackt gesehen hatte, also stellte ich mir sämtliche Frauenkörper wie ihren vor: klein und wohlproportioniert, mit vollen Brüsten und einem üppigen Po, der es mit jeder Hose aufnehmen konnte. Mir gefiel die Vorstellung, dass mein Körper eines Tages genauso aussehen würde – dieses Schicksal erschien mir ebenso unumgänglich wie das Größerwerden und das Einsetzen meiner Menstruation. Die Scharfsicht der Kindheit ließ mich den Po meiner Mutter als das wahrnehmen, was er war: ein Körperteil wie jeder andere. Ein Körperteil, der meiner Liebe würdig war, denn ich liebte den Menschen, zu dem er gehörte. Er stellte weder ein Problem noch einen Segen dar, er war schlicht eine Tatsache.
Damals wusste ich noch nicht, dass es mit dem Po so eine Sache ist. Es ist mit ihm nicht wie mit Ellbogen und Knien, bei denen es fast ausschließlich um die Funktion geht, in die nichts hineininterpretiert wird. Der Po hingegen, so albern er uns manchmal vorkommen mag, stellt ein extrem vielschichtiges Symbol dar, aufgeladen mit Bedeutung und Zwischentönen, befrachtet mit Witz und Sex, Scham und Geschichte. Der Frauenpo ist schon benutzt worden, um Rassenhierarchien zu erschaffen und aufrechtzuerhalten, um den Grad an tugendhaft harter Arbeit abzulesen und um Lust und Verfügbarkeit zu bemessen. Obwohl (oder gerade weil) sich das Aussehen des eigenen Hinterteils ohne chirurgische Eingriffe kaum verändern lässt, sind von Größe und Form des Pos einer Frau Rückschlüsse auf ihr gesamtes Wesen gezogen worden – auf ihre Sittlichkeit, auf ihre Weiblichkeit, ja sogar auf ihre Menschlichkeit.
Wir selbst können uns kaum ein klares Bild von unserem Po machen. Da er sich an unserer Rückseite befindet, ist er uns gewissermaßen fremd, während andere ihn problemlos sehen können. Wenn wir einen Blick darauf werfen möchten, müssen wir uns in den Spiegelkokon einer Umkleidekabine begeben, die mühselige Dreiecksmethode mit Handspiegel im Schlafzimmer anwenden oder uns mit dem Smartphone verrenken. Und wenn wir schließlich einen Blick auf unseren Hintern erhaschen – zumindest geht es mir so –, dann sind wir irgendwie überrascht: »Dieses Ding schleppe ich mit mir herum?« Das Ganze hat auch etwas Demütigendes. Wir können einfach niemals wirklich wissen, was eine andere Person sieht, wenn sie uns auf den Hintern schaut, und das macht uns verwundbar. In gewisser Weise gehört unser Hintern der betrachtenden Person mehr als uns selbst, die wir betrachtet werden. Irgendwie legen wir ihn quasi in deren Hände. Unser Po kann heimlich in Augenschein genommen, widerlich begafft, unbemerkt inspiziert werden. Um zu wissen, ob mir eine Hose steht, muss ich das Verkaufspersonal fragen, wie mein Po darin aussieht, weil ich ihn selbst nicht begutachten kann. Wenn sich auf der Straße ein Mann umdreht, um einer Frau auf den Hintern zu schauen, mögen es alle anderen in der näheren Umgebung mitbekommen haben, nur die betroffene Frau nicht. Sie hat vielleicht keine Ahnung, wie sie taxiert, kritisiert, objektifiziert, begehrt wird.
Und in der Tat sagen die Meinungen über ein Hinterteil meist mehr über die betrachtende als über die betrachtete Person aus. Was genau ein Hinterteil bedeutet, hängt davon ab, wer wann und aus welchem Grund darauf schaut. Der Historiker Sander Gilman formuliert es folgendermaßen: »Der Hintern ist mit einer sich stets wandelnden Symbolik behaftet. Er wird mit den Fortpflanzungsorganen assoziiert, mit der Ausscheidungsöffnung des Darms sowie mit dem Bewegungsapparat bei der Debatte um Gangarten. Er steht nie für sich selbst.«[1]
Die These, dass unser Gesäß nie nur sich selbst verkörpert, macht es zu einem besonderen und besonders spannenden Forschungsgegenstand. Da es in seiner Symbolik so unberechenbar ist, kann uns die Erkundung der unzähligen Bedeutungen und Signifikationen eine Menge über andere Phänomene verraten: was von der Allgemeinheit für normal gehalten wird, für wünschenswert, für abstoßend oder für provokant. Das Gesäß ist oftmals ein Indikator für Gefühle, die mit dem Gesäß eigentlich gar nichts zu tun haben: Gefühle zum Thema Rasse, Geschlecht und Sex, die sich von Mensch zu Mensch stark unterscheiden.
Schon die Begriffe für unseren »Allerwertesten« sind abgesehen von »Gesäß« wenig neutral. In meiner Kindheit habe ich die beiden Fleischmassen an der Rückseite meiner Hüfte »Popo« genannt. Ein eher lustiges, unschuldiges, ungezwungenes, kindliches Wort. Wäre das Wort »Popo« ein Geräusch, käme es aus der Hupe eines Clowns oder wäre ein kleiner Furz.
Als ich älter wurde, probierte ich andere Wörter aus. »Arsch« fühlte sich erwachsener an, vulgärer, und gehörte in die Kategorie Schimpfwort. Wobei es sich um ein eher harmloses Schimpfwort handelt. Und es gibt viele weitere Ausdrücke für das Gesäß. Da wären die Abkürzung für »Popo«, nämlich »Po«, die leicht verklemmten »vier Buchstaben« sowie eben der humoristische »Allerwerteste«. Außerdem gibt es eine Reihe von Begriffen, die der Position besagten Körperteils geschuldet sind: »Hintern«, »Hinterteil«, »Kehrseite«. Oder ganz nüchtern und gegenständlich: »Sitzfläche« und »Sitzfleisch«. Hin und wieder hören wir auch noch die veraltete, vornehme Bezeichnung »Steiß«.
Jeder Mensch hat eine andere Geschichte zur Entstehung seines Körperbilds. Meines hat sich aus den Erinnerungsfetzen daran, wie ich den Blick der anderen auf meinen Körper gespürt habe, zusammengesetzt, als wären es in ein Album eingeklebte Fotos. Die frühesten Erinnerungen an meinen Körper stammen jedoch aus der Zeit kurz vor der Pubertät, als sich meine Gliedmaßen und Muskeln nützlich und widerstandsfähig anfühlten und nicht wie Körperteile, die der Bewertung unterliegen. Ich bin durchs ganze Viertel geradelt, bin Hügel hinabgerast und habe die feuchte Sommerluft um die Nasenflügel wehen gespürt. Eines Julinachmittags bin ich kopfüber über den Lenker gefallen, habe mir Wangen und Stirn auf dem Beton aufgeschürft und auch das Hautläppchen, das Lippen und Zahnfleisch miteinander verbindet, aufgerissen. Das Blut strömte nur so auf den Gehweg und später auf die Küchenarbeitsplatte, von der meine Beine herabbaumelten, als mir meine Mutter den Mund kühlte. Am nächsten Morgen aß ich schon wieder Cheerios und war bereit für die nächste Radtour. Mein Vater fotografierte mich, wie ich im lila Ballettkostüm am Esstisch saß und fröhlich lächelte. Nicht, dass ich besonders furchtlos gewesen wäre. Ich sah meinen Körper einfach als etwas, das wuchs, heilte und mich überall hinbrachte. Bis der Kamerafilm fertig entwickelt war, hatte ich nur noch hier und da ein bisschen Schorf im Gesicht.
Mit acht bin ich mit einer Freundin ins Hallenbad gegangen und fand mich zum allerersten Mal in einer Umkleide voller Frauen in unterschiedlichen Entkleidungsstadien wieder. Dort gab es so viele verschiedene Körper, und da ich noch nicht verinnerlicht hatte, sie in Schubladen zu packen und in »besser« oder »schlechter« zu unterteilen, beobachtete ich einfach nur gebannt. »So können Brüste aussehen?«, dachte ich, wenn ich Körperteile, die nicht so aussahen wie die meiner Mutter, erblickte. »Hüften können schmal sein? Popos mager?« Diese Frauen in der Umkleide kamen mir deformiert vor. Angezogen sahen sie ganz gewöhnlich aus, aber untendrunter verbargen sie alle möglichen Kuriositäten, in den unterschiedlichsten Formen.
Mit zehn radelte ich mit einer Freundin in denselben Straßen herum,...
Erscheint lt. Verlag | 1.6.2023 |
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Übersetzer | Viola Krauß |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Anthropologie Bücher • Body Positivity • Faszination Hintern • feminismus buch • Jennifer Lopez • Kim Kardashian • Kulturgeschichte Hintern • Kulturgeschichte Körper • Miley Cyrus • Po Buch • Po-Debatte • Popkultur • Sarah Baartman • Twerken |
ISBN-10 | 3-492-60325-4 / 3492603254 |
ISBN-13 | 978-3-492-60325-6 / 9783492603256 |
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