Die Familie abschaffen (eBook)

Wie wir Care-Arbeit und Verwandtschaft neu erfinden

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
160 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491740-5 (ISBN)

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Die Familie abschaffen -  Sophie Lewis
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Was, wenn die Familie nicht der einzige Ort ist, an dem man sich sicher, geliebt, umsorgt und akzeptiert fühlen kann? Sophie Lewis legt ein leidenschaftliches Plädoyer für kollektive Care-Arbeit vor. Wer Glück hat, findet in der Familie Liebe und Fürsorge. Häufig ist sie jedoch Ursprung von Schmerz, Missbrauch und Gewalt. Selbst in so genannten »glücklichen« Familien ist das Zusammenleben harte Arbeit. In ihrem scharfsinnigen Essay »Die Familie abschaffen« fordert Sophie Lewis: Sowohl die Sorgenden als auch die Umsorgten haben Besseres verdient! Von Plato über Marx bis zu queeren Theorien der Gegenwart - Lewis zeichnet die Geschichte von Ideen und Bewegungen nach, die unsere klassischen Familienkonzepte hinterfragt haben, und räumt mit Missverständnissen über die Abschaffung der Familie auf. Eine feministische Kritik des idealisierten Konzepts Familie und ein Plädoyer für kollektive Care-Arbeit, das zeigt: Nur wenn wir beginnen, über die Familie hinauszudenken, können wir uns ausmalen, was danach kommen könnte. »Niemand bringt den Feminismus aktuell so radikal, so umwerfend brillant und couragiert auf den Punkt wie Sophie Lewis.« Eva von Redecker

Sophie Lewis ist Autorin und unabhängige Wissenschaftlerin. Sie lehrt soziale und kritische Theorie am Brooklyn Institute for Social Research und ist Gastdozentin am Feminist, Queer and Transgender Studies Center der Universität von Pennsylvania. Ihre Texte erscheinen in der »Boston Review«, der »New York Times«, der »Feminist Theory« und der »London Review of Books«. Sophie Lewis lebt in Philadelphia.

Sophie Lewis ist Autorin und unabhängige Wissenschaftlerin. Sie lehrt soziale und kritische Theorie am Brooklyn Institute for Social Research und ist Gastdozentin am Feminist, Queer and Transgender Studies Center der Universität von Pennsylvania. Ihre Texte erscheinen in der »Boston Review«, der »New York Times«, der »Feminist Theory« und der »London Review of Books«. Sophie Lewis lebt in Philadelphia. Lucy Duggan, 1986 in Manchester geboren, lebt als Schriftstellerin und Übersetzerin in einem Wohnprojekt in Brandenburg. Für Columbia University Press übersetzte sie Eva von Redecker ins Englische. Ihr erster Roman »Tendrils« handelt von verschollenen Feinden. Ihre Mikrogeschichten sind unter www.tinystori.es zu finden.

Lewis versteht sich selbst als Utopistin, die eine radikal neue Version von kollektiver Care-Arbeit aufzeigt.

Lewis' [Ton ist] rasant und humorvoll.

Für Neulinge auf dem Gebiet eine durchaus fordernde, aber sehr bereichernde Lektüre.

ein wichtiger Diskussionsanstoß

1 Aber ich liebe doch meine Familie!


»Es gibt andere Möglichkeiten, einander als Verwandte zu benennen.«

Tiffany Lethabo King[1]

Die Familie abschaffen? Wir könnten genauso gut die Schwerkraft oder Gott abschaffen. Also gut! Nun versuchen die Linken auch noch, uns unsere Oma wegzunehmen und Kinder zu beschlagnahmen, und das soll fortschrittlich sein? Geht’s noch?!

Viele Menschen verspüren eine solche Reaktion, wenn sie zum ersten Mal davon hören, dass die Familie »abgeschafft« werden soll. Und das ist in Ordnung. Die brisante emotionale Aufladung dieses Slogans werde ich weder abstreiten noch vor ihr zurückschrecken. Um sicherzugehen: Mir geht es dabei ein Stück weit darum, die vielen möglichen Entsetzen auslösenden Missverständnisse aufzuklären und zu korrigieren, die allzu leicht über die Abschaffung der Familie entstehen können. Dazu gehört zum Beispiel die falsche Annahme, es ginge darum, Menschen gewaltsam voneinander zu trennen. Letztendlich möchte ich aber nicht leugnen, dass diese politische Forderung einer Abschaffung der Familie etwas »Beängstigendes« (psychologisch Anspruchsvolles) hat. Meiner Meinung nach wohnt dieses Beängstigende jeder echten revolutionären Politik inne. Unsere Beklemmung ist eine reflexartige Reaktion auf die Vorahnung einer Abschaffung des Selbst.[2] Wir alle – auch diejenigen unter uns, die nichts besitzen, denen keine Pflege garantiert wird, für die der Imperialismus, das Weißsein, das Cis-Hetero-Patriarchat und die Klassenunterschiede eine besondere Gefahr darstellen –, wir alle werden im Zuge unserer kollektiven Befreiung irgendetwas aufgeben müssen. Wenn die Welt von Grund auf erneuert werden soll, dann sollte der Mensch dazu ebenfalls bereit sein. Das spüren wir. In dieser Zeit ist es schwer oder vielleicht sogar unmöglich, sich vorzustellen, nicht vom privaten Haushalt der Kleinfamilie und der ödipalen Familiengeschichte (Mutterfigur, Vaterfigur, Kind) produziert zu werden. Dass die Menschen aber nicht immer so hervorgebracht wurden, bedeutet, dass es auch anders ginge, wenn wir nur wollten. Fürs Erste solltest du wissen: Falls deine automatische Reaktion auf die Worte »Die Familie abschaffen« die Antwort »Aber ich liebe doch meine Familie« ist, hast du ganz viel Glück gehabt. Und das gönne ich dir. Aber meinst du nicht, dass wir alle so viel Glück haben sollten?

Die Menschen in der eigenen Familie zu lieben, steht wohlgemerkt nicht im Widerspruch zum Engagement für die Abschaffung der Familie. Ganz im Gegenteil. Ich wage eine Definition der Liebe: Einen Menschen zu lieben bedeutet, sowohl für die Autonomie dieses Menschen zu kämpfen als auch dafür, dass er oder sie mit Fürsorge überhäuft wird – insofern Letzteres überhaupt möglich ist in einer Welt, die vom Kapital erstickt wird. Wenn man dem folgt, ist die Beschränkung der Anzahl der Mütter (egal welchen Geschlechts), die einem Kind zur Verfügung stehen, einzig und allein aufgrund des Konzepts »echter Mutterschaft«, nicht unbedingt eine Form der Liebe, die diesen Namen verdient hat. Wenn du in einer Kleinfamilie aufgewachsen bist, hast du es vielleicht im Stillen bemerkt, als du sehr jung warst: Wer auch immer in deinem Haushalt die Mutterrolle übernommen hat, bekam eine besonders einschränkende Funktion zugeteilt. Du hast ihre Einsamkeit gespürt. Dich überkam ein Anflug solidarischen Mitgefühls. Meiner Erfahrung nach sind es gerade Kinder, die es besser als die meisten anderen verstehen: Wenn wir jemanden lieben, macht es einfach keinen Sinn, eine soziale Technologie zu unterstützen, die diese Person isoliert, ihre Lebenswelt privatisiert, ihren Wohnort, ihre Klasse und sogar ihre Identität willkürlich durch Gesetze definiert und ihre Sphäre intimer Abhängigkeitsbeziehungen drastisch eingrenzt. Aber ich greife voraus.

Die meisten Familien-Abolitionist:innen lieben ihre Familien. Natürlich engagieren sich gewöhnlich diejenigen für den Sturz eines sozialen Systems, die schlechte Erfahrungen mit ihm gemacht haben und dieses System gerade nicht lieben. Doch trotz einer »schwierigen Kindheit« Liebe für die eigene Familie zu empfinden, ist für die potenzielle Familien-Abolitionistin ziemlich typisch. Sie mag zum Beispiel intuitiv spüren, dass sie und ihre Familienmitglieder einander einfach nicht guttun, und sie dabei trotzdem lieben und ihnen alles Gute wünschen – wohl wissend, dass es auf dieser Welt wenige oder keine Alternativen gibt, wenn es darum geht, die Zuwendung aufzubringen, die alle Personen so sehr brauchen. Ehrlich gesagt, kann die Liebe zur eigenen Familie für jede:n zum Problem werden. Sie kann einer Überlebenden häuslicher Gewalt beim Versuch zu entkommen zusätzliche Fesseln um die Fußgelenke schließen (zumal der Kapitalismus diejenigen, die kommodifizierten Wohnverhältnissen entfliehen wollen, wirtschaftlich bestraft). Sie kann ein trans Kind oder ein Kind mit Behinderung davon abhalten, medizinische Dienste in Anspruch zu nehmen. Sie kann Menschen davon abbringen, eine Schwangerschaft abzubrechen.

Kaum jemand würde dieser Tage bestreiten, dass reproduktive Rechte – geschweige denn reproduktive Gerechtigkeit – bestimmten Bevölkerungsgruppen fortwährend verweigert werden. Austeritätspolitik sorgt absichtlich dafür, dass es sich das Proletariat nicht leisten kann, Kinder zu kriegen, selbst wenn zwei oder drei oder vier Erwachsene zusammenarbeiten. Hausarbeit wird geschlechtsspezifisch definiert, rassifiziert und (außerhalb der Haushalte der Reichen) nicht bezahlt. Unter diesen globalen Bedingungen überrascht es nicht, dass zahlreiche Menschen ihre Familien nicht lieben oder nicht lieben können. Die Gründe reichen von einfacher Unverträglichkeit, verschiedenen Phobien, Ableismus oder sexueller Gewalt bis zu Vernachlässigung.

Ich verrate dir ein Geheimnis: Leute werden schrecklich wütend, wenn du ihnen nahelegst, dass sie etwas Besseres verdient hätten, als sie in ihrer Kindheit bekommen haben. Mir ist aufgefallen, dass viele Menschen mit besonderer Vehemenz mit »Aber ich liebe doch meine Familie« reagieren, direkt nachdem sie mir in einem langen Gespräch offen erzählt haben, welche Belastungen, Tragödien, Erpressungen und verzweifelte Sehnsucht nach Fürsorge Teil ihrer »biologischen« Erziehung waren. Wie ich bemerkt habe, wird der wütende Widerstand gegen die Vorstellung, dass alles anders sein könnte, wenige Momente nach dem Wunsch geäußert, dass unsere Verwandten weniger allein gewesen wären, von der Pflegeverantwortung weniger belastet und weniger gefangen. Jene Leute sind doch eine ganz andere Angelegenheit, scheint dieser defensive Reflex zu sagen: Ich selbst brauche keine Abschaffung der Familie! Nein, danke! Klar mag die Familie eine disziplinierende knappheitsbasierte Trauma-Maschine sein, aber sie ist MEINE disziplinierende knappheitsbasierte Trauma-Maschine.

Hör zu. Ich verstehe das schon. Du machst dir nicht einfach nur Sorgen, dass dein Vater die Fassung verliert, wenn er dich mit diesem Buch sieht. Dir geht es um die existenzielle Angst einflößende Vorstellung, unsere geordnete Armut zugunsten eines Reichtums aufzugeben, den wir noch nie gekannt haben und erst strukturieren müssen.

 

Was ist die Familie? Die Vorstellung, dass sie ein exklusiver Ort ist, an dem Menschen geborgen sind, von dem Menschen herkommen, an dem Menschen gemacht werden und zu dem Menschen gehören, sitzt so tief, dass wir sie nicht einmal mehr als Vorstellung wahrnehmen. Versuchen wir also, sie zu entwirren.

Die Familie ist der Grund für das Gefühl, zur Arbeit gehen zu wollen, der Grund, warum wir zur Arbeit gehen müssen, und der Grund, warum wir zur Arbeit gehen können. Im Kern ist sie unsere Bezeichnung für die Tatsache, dass Pflegearbeit in unserer Gesellschaft privatisiert ist. Und weil »Familie« ein Synonym für Pflegearbeit zu sein scheint, ist sie für pflichtbewusste Bürger:innen die Raison d’Être schlechthin: Ein vermeintlich nichtindividualistisches Credo und ein selbstloses Prinzip, dem man sich freiwillig verpflichtet, ohne darüber nachzudenken. Und welche Alternative könnte es überhaupt geben? Die ökonomische Annahme, hinter jedem »Brotverdiener« müsse es irgendeine Art Ehefrau geben, eine Person oder mehrere, derentwillen es sich lohne, ausgebeutet zu werden (also eine Person, die wahrscheinlich auch Brotverdiener:in ist, die das verdiente Brot »freiwillig« schmiert oder jemanden anderen dafür bezahlt, die die Krümel wegwischt und die Reste einfriert, so dass morgen mehr Brot verdient werden kann): Diese Vorstellung klingt für viele wie eine Beschreibung der »menschlichen Natur«.

Wer oder was übernimmt die Verantwortung für das Leben der nicht Erwerbstätigen, für die Kranken, die Jungen und die Senior:innen, wenn es keine Familie gibt? Das ist ein schlechter Einwand. Selbst in Anbetracht der Tatsache, dass die möglichen Lebensräume von nichtmenschlichen Tieren immer weiter schrumpfen und sie sich an die missbräuchliche Pflege im Zoo gewöhnt haben, zögern wir nicht zu sagen, dass es ihnen außerhalb des Zoos besser geht. Ähnlich verhält es sich mit der Abkehr von der Familie: Nein, der Übergang wird nicht einfach sein. Aber die Familie bietet keine gute Pflege, und wir alle haben etwas Besseres verdient. Die Familie steht den Alternativen im Wege.

»Was ist die Alternative?« Diese schwindelerregende Frage kommt zum Teil auf, weil es zumindest in der Theorie nicht nur die...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2023
Übersetzer Lucy Duggan
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abolitionismus • Care-Arbeit • DONNA HARAWAY • elternlos • Family Abolition • Gender • Gesellschaftskritik • Kapitalismuskritik • Kernfamilie • kinship • Kommunismus • Leihmutterschaft • LGBTQ+ • Manifest • Patriarchat • Pflege • Polyamorie • Postkapitalismus • Queer • Sorgearbeit • Sozialforschung • Sozialphilosophie • Systemkritik • Utopie • utopische Theorie • Verwandtschaftsbegriff • Wahlfamilie
ISBN-10 3-10-491740-X / 310491740X
ISBN-13 978-3-10-491740-5 / 9783104917405
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