Untenrum offen (eBook)

Der Beckenboden nach der Geburt: verharmlost - ignoriert - tabuisiert
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
288 Seiten
Eden Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
978-3-95910-387-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Untenrum offen -  Martina Lenzen-Schulte
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Ihren Beckenboden bemerken viele Frauen erst, wenn er nach der Geburt ihres ersten Kindes verletzt wurde. Oft hören sie dann Phrasen wie: »Das haben doch viele« oder »Das vergeht schon wieder«. Über bereits bekannte Risiken wurden sie zuvor häufig nicht aufgeklärt. Dabei sprechen die Zahlen für sich: Jede fünfte Frau ist nach einer Entbindung inkontinent, oft bleibend - bei fast 800.000 Geburten pro Jahr allein in Deutschland. Die üblichen Rückbildungskurse sind für die meisten nur ein Tropfen auf den heißen Stein, die Schädigung des Beckenbodens muss umfänglicher behandelt werden. Dieses Buch hilft Frauen dabei, sich die Kontrolle über ihren Körper zurückzuholen und beantwortet viele Fragen: Wie funktioniert der Beckenboden? Wie entlaste ich ihn nach einer Geburt? Wie können Beckenbodenschäden im Kreißsaal mit einem Geburtsplan vermieden werden? Was ist die beste Strategie, wenn es bereits zu Schäden gekommen ist? Martina Lenzen-Schulte führt durch das Labyrinth dieser Fragen und ermutigt Frauen: Lasst euch nicht mundtot machen! Ein wichtiges Buch zu einem Tabu-Thema, welches in den nächsten Jahren immer stärker ins Bewusstsein von Frauen und Ärzt*innen rücken wird.

Dr. med. Martina Lenzen-Schulte ist Mutter von drei Kindern, Medizinjournalistin, Buchautorin und Ärztin. Sie hat Jura, Philosophie und Medizin in Freiburg, München und an der Hadassah-Universität in Jerusalem studiert. Sie war zunächst als freie Journalistin tätig und arbeitet heute als Redakteurin für das Deutsche Ärzteblatt. Zu ihren Hauptinteressen zählen Kinderheilkunde, Reproduktionsmedizin und vor allem Geburtshilfe, die sie seit Jahren auf ihrem Blog www.geburtsrisiken.de kritisch begleitet.

Dr. med. Martina Lenzen-Schulte ist Mutter von drei Kindern, Medizinjournalistin, Buchautorin und Ärztin. Sie hat Jura, Philosophie und Medizin in Freiburg, München und an der Hadassah-Universität in Jerusalem studiert. Sie war zunächst als freie Journalistin tätig und arbeitet heute als Redakteurin für das Deutsche Ärzteblatt. Zu ihren Hauptinteressen zählen Kinderheilkunde, Reproduktionsmedizin und vor allem Geburtshilfe, die sie seit Jahren auf ihrem Blog www.geburtsrisiken.de kritisch begleitet.

2.1Halt für alle Fälle: Das Becken und sein Boden


»My vagina split.«

Keira Knightley

Keira Knightley hatte 2018 viel Kritik auf sich gezogen, als sie die Beschönigung der natürlichen Geburt anprangerte und mit dem Satz »My vagina split« plötzlich Schlagzeilen machte.1 Gut, dass eine Celebrity das mal ausgesprochen hat. Tatsächlich kommen Scheidenrisse nicht selten vor – vorausgesetzt, es wird sorgfältig danach gefahndet, wie in der POPRACT-Studie (Pelvic Floor in Pregnancy And Childbirth) in Schweden bei 644 Müttern nach ihrer ersten Geburt. Große vaginale Risse im oberen Scheidendrittel hatten 14 Prozent der Frauen zu beklagen, bei etwa genauso vielen (14,9 Prozent) blieb die Vagina unversehrt, die übrigen Einrisse (71,1 Prozent) waren unbedeutender.2 Die Statistik verschont niemanden, auch Schauspielerinnen nicht. Wie kommt es zu solchen Verletzungen, welche Strukturen am weiblichen Beckenboden sind in Gefahr? Wer verstehen will, warum sich bei vielen Frauen »untenrum« nach einer Geburt nichts mehr so anfühlt wie früher, sollte den weiblichen Beckenboden kennenlernen.

Der Damm als Anker

Beginnen wir mit dem tiefsten Punkt des weiblichen Rumpfes. Er liegt zwischen dem Anus, dem Darmausgang zwischen den Pobacken, und der hinteren Begrenzung der Vagina, der Scheide (Abb. 1, 2). Das ist der Damm, das Perineum – ein ziemlich festes Stück aus Bindegewebe und Muskulatur –, dessen hoffentlich erhaltene Stabilität nach der Geburt durch eine Tastuntersuchung überprüft werden sollte. Stellt sich eine Frau aufrecht hin, zeigen die Ausgänge von Darm, Harnblase und Scheide keineswegs lotrecht nach unten. Schon die Scheide und der Anus sind in einem leicht schrägen Winkel nach vorn beziehungsweise hinten ausgerichtet (Abb. 4). Wir haben es also in der Tiefe des Beckens mit einer Art Trichter zu tun, nicht mit einer völlig flachen Ebene, wie der Ausdruck Becken-»Boden« vermuten ließe. Die »Ausgänge« befinden sich somit nicht in der Waagerechten. Deshalb streben Organe wie der Darm oder die Blase nicht lotrecht nach unten, sobald der Halt im Beckenboden verloren geht, sondern sie drücken zur Mitte hin, zur Scheide.

Die sehnige Platte in der Mitte des Dammes dient den zahlreichen Muskeln des Beckenbodens als gemeinsamer Fixierpunkt. Dazu zählen nicht zuletzt kleinere Muskeln, die dabei helfen, das Gewebe bei sexueller Erregung anschwellen zu lassen. Der Damm ist deshalb das Zentrum, der Anker des Beckenbodens.

Die vordere Beckenbegrenzung, die alle gut tasten und fühlen können, ist die Symphyse, die die beiden Schambeinknochen miteinander verbindet. Einen weiteren Fixpunkt bildet hinten das Steißbein, der knöcherne Ausläufer der Wirbelsäule, darunter rechts und links die Sitzhöcker (Abb. 1). Umrundet wird das Ganze von der unteren Begrenzung der Beckenknochen. Damit durch diese ovale Knochenöffnung die Beckenorgane nicht herausfallen, gibt es die aus Bindegewebe und Muskeln zusammengesetzten Beckenbodenstrukturen. Sie sind als Stränge, als Platten (Faszien), fächerförmig oder in Schlingen miteinander verwoben. Zahlreiche Blutgefäße versorgen diese Gewebestrukturen mit Sauerstoff und Nährstoffen. Sie werden außerdem von Nerven durchzogen, die ihre Befehle an die Muskeln weitergeben, um dafür zu sorgen, dass die Ausgänge von Darm und Harnblase je nach Bedarf dicht halten oder sich öffnen. Die Nerven haben darüber hinaus die wichtige Aufgabe, Empfindungen an unser Gehirn zurückzumelden – das kann das Gefühl von Harn- oder Stuhldrang sein, das können Schmerzen sein oder Lustgefühle bei sexueller Erregung.

Was die Befestigung angeht, so stellt frau sich am besten eine Hängematte vor, die vorn an den Schambeinen und hinten am Steißbein aufgehängt ist (Abb. 2). Diese Hängematte ist zwar in mehreren Lagen verstrebt und seitlich an den Beckenknochen mehrfach befestigt. Entscheidend für das Verständnis von Beckenbodenschäden ist jedoch: Die Hauptaufhängung befindet sich vorn – rechts und links der Symphyse an den Schambeinen. Schwächelt die Hängematte, schwächelt das ganze Gefüge des Beckenbodens.

Von kleinen Muskeln und vielen Wollustkörperchen

Die Austrittspforten der Urogenital- und Darmorgane beginnen von vorn betrachtet mit der Mündung der Harnröhre für den Urinstrahl (Abb. 1, 2). Bis zu 2 Zentimeter dahinter befindet sich die vordere Grenze des Scheidenausganges und schließlich weitere 1,5 bis 3 Zentimeter von ihrer hinteren Begrenzung aus gemessen der Anus, dessen Schließmuskeln den Darm dicht halten. Das sind Durchschnittswerte, die Variabilität ist groß – vor allem bei Beckenbodenschäden verändern sich diese Messgrößen. Dennoch wird klar: »Da unten« liegt alles dicht nebeneinander (Abb. 3). Die Ausgänge mindern die Tragkraft des Beckenbodens, mit der Scheide haben Frauen daher im Vergleich zu Männern eine zusätzliche »Schwachstelle«.

Die Region heißt nicht ohne Grund Urogenitalregion und die Organe Urogenitalorgane. Die Genitalien und die Ausscheidungsorgane sind embryologisch, im Zuge der Entwicklung der Organe, aus gemeinsamen Ursprüngen hervorgegangen. Sie liegen anatomisch räumlich eng benachbart. Deshalb tragen außer Blase und Darm nicht zuletzt die Geschlechtsorgane Beckenbodenverletzungen davon. Die äußere genitale Zone heißt Vulva, dies ist die Region um den Scheideneingang, begrenzt von den kleinen und großen Vulvalippen, früher hießen sie Schamlippen (Abb. 1). Oben vor der Harnröhre liegt die Klitoriseichel als eines der Haupterregungszentren der Frau. Das ganze Klitorisorgan ist viel größer und erstreckt sich weit ins Innere des Beckenbodens, außerdem sind Muskeln und Schwellkörper in der Tiefe der Urogenitalregion von großer Bedeutung für ein erfülltes Sexleben (Abb. 10). Dass es auf jede Struktur ankommt, soll ein Beispiel erläutern. Einer der Muskeln des Beckenbodens ist der M. (Musculus) bulbospongiosus (Abb. 8). Dieser Muskel übt unter anderem Druck auf die Scheidenvorhofdrüsen aus, die rechts und links vom Scheidenausgang liegen und mit ihren winzigen Ausgängen in die Innenseite der kleinen Schamlippen münden. Sexuelle Erregung bedeutet Anschwellen, bedeutet Verengung des Scheideneinganges, bedeutet Feuchtwerden – unter anderem mithilfe dieser Drüsen. Der erwähnte Muskel wird bei manchen Dammschnitten bewusst durchtrennt – obwohl er für die Sexualität eine Rolle spielt. »Männer würden eine Durchtrennung strikt ablehnen«, schreibt dazu ein in der Geburtshilfe erfahrener Arzt, Prof. Dr. med. Wenderlein, in einem Leserbrief an das Deutsche Ärzteblatt.3 Er rügt, dass dies bei Frauen immer noch kritiklos hingenommen würde.

Im Vorhofbereich der Scheide gibt es neben den erwähnten größeren Vorhofdrüsen oder Bartholin-Drüsen noch weitere kleine Drüsen, die beim Sex aktiv werden und für Befeuchtung sorgen. Hinzu kommen die zahlreichen paraurethralen Drüsen in der Umgebung der Harnröhre (Urethra), deren größte rechts und links als Skene-Drüsen bezeichnet werden. Deren Ausgänge münden variabel in die Harnröhre oder daneben nach außen (Abb. 9). Die gesamte Region – von der Klitoris vorn oben bis zum Anus hinten – ist somit eine einzige erogene Zone für die Frau. Sie ist intensiv mit Nerven bestückt, damit frau höchst empfindsam auf Berührung und andere Reize reagieren kann. Allein die Klitoris versammelt an ihrer Spitze zahllose Sinneszellen, die Genitalkörperchen, Wollustkörperchen oder G-Körperchen genannt werden, weil sie als Hauptsensoren der Lust gelten. Andere, die Vater-Pacini-Körperchen, sind für Vibration zuständig. Vibratoren als Sextoys sind zum Beispiel exakt auf jene Schwingungsfrequenzen abgestimmt, durch die diese Sinneszellen stimuliert werden. Wollustkörperchen reagieren vor allem auf Berührung und gleitenden Druck. An der weiblichen Klitoriseichel sitzen sie doppelt so dicht wie an der Penisspitze. Zusammen mit zahlreichen anderen Sinneszellen und Nervenendigungen sind es rund 8.000 an der Zahl. Da jedoch die Oberfläche der Klitoris so viel kleiner ist als die der Peniseichel, verleiht die ungleich höhere Dichte ihrer Besitzerin eine 50-fach höhere Empfindsamkeit, als Männer sie spüren. Deshalb verwundert es nicht, dass der Nerv, der von der Klitoris wegführt und all diese Eindrücke von dort ins Gehirn transportiert, drei- bis viermal so dick ist wie der entsprechende Nerv beim Mann. Er ist sogar so dick, dass diese ungewöhnliche Nervenmasse Genitalforscher immer wieder in Erstaunen versetzt hat. Aus diesem Grund ist die Klitoris einzigartig empfindlich und erregbar.4

Aber nicht allein dort verfügt eine Frau über Wollustkörperchen. Diese empfindlichen Sensoren finden sich – in jeweils individuellem Dichtemuster – zusammen mit den vibrationsempfindlichen Vater-Pacini-Körperchen überall verteilt über die erogene Zone des Beckenbodens, beispielsweise in der Vulva um den Scheidenvorhof, hinten an der Scheidenmitte, wo diese in den Damm übergeht, sie umgeben den Austritt der Harnröhre, es gibt sie nicht zuletzt in der Analzone. Alles, was von diesen Lustantennen empfangen wird, mündet über Nerven, die sich zu Geflechten bündeln, schließlich über die dickeren Verzweigungen des Beckenbodennervs – Nervus pudendus oder N. pudendus – in das Rückenmark. Über ihn gelangt Lust ins Gehirn. Verletzungen, Vernarbungen oder Druckschäden in dieser Urogenitalregion können mithin das...

Erscheint lt. Verlag 6.8.2022
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Schwangerschaft / Geburt
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Aufklärung • Beckenboden • Beckenbodenbruch • Beckenbodenprobleme • Beckenbodenriss • Beckenbodenschaden • Beckenbodenschäden • Beckenbodentraining • Behandlung • Blase • Darm • Debatte • Debattenbuch • Diagnose • Eden Books • Entbindung • Frauenarzt • Frauengesundheit • Frauenkrankheit • Frauenleiden • ganzheitlicher Ansatz • Geburt • Geburtshilfe • Geburtsrisiken • Geburtstrauma • Gymnastik • Gynäkologie • inkontinent • Inkontinenz • Kaiserschnitt • Lebensqualität • Leidensdruck • Natürliche Geburt • Organe • Organverschiebung • Patientenaufklärung • Ratgeber • Rückbildung • Sachbuch • Spontangeburt • Tabuthema • Unterleib
ISBN-10 3-95910-387-5 / 3959103875
ISBN-13 978-3-95910-387-9 / 9783959103879
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