Aufgewachsen in der letzten Diktatur Europas (eBook)

Mut, Schmerz und Hoffnung – Der Kampf um Freiheit in Belarus
eBook Download: EPUB
2022
176 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-29168-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aufgewachsen in der letzten Diktatur Europas - Viktoryia Andrukovič, Carsten Görig
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Viktoryia Andrukovi? ist eine belarusische Menschenrechtsverteidigerin und politische Aktivistin, geboren 1994, als das Regime von Lukaschenka an die Macht kam. Sie kennt ihre Heimat nur unter dem Joch eines zunehmend autokratisch agierenden Regimes, ihr Leben nur zwischen den Entbehrungen und Bedrohungen der Kindheit und Jugend in Belarus und der Hoffnung auf eine bessere, eine freie Zukunft für ihr Land. Vor und nach der Präsidentschaftswahl 2020 war sie in der Opposition aktiv und arbeitet heute mit belarussischen Organisationen im Exil.

Jetzt erzählt sie ihre Geschichte, die Geschichte einer Generation von Belarusen, die unter der Diktatur geboren und aufgewachsen ist, eine Geschichte von Angst und Verfolgung, von Hoffnung und dem Kampf für ein freies Belarus, für Menschenrechte und Demokratie gegen Unterdrückung und Gewalt.

Viktoryia Andrukovi?, geboren 1994, ist eine belarusische Menschenrechts-Aktivistin. Viktoryia arbeitet seit Jahren in belarusischen Menschenrechtsorganisationen und NGOs zur Förderung von Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit in ihrem Heimatland. Sie wirkte an einer Plattform zur Überwachung des Wahlprozesses »ZUBR« mit, half Opfern von Polizeigewalt in ihrer Heimat, dokumentierte für den »Ausschuss zur Untersuchung von Folter in Belarus« Menschenrechtsverletzungen und nahm aktiv an der Protestbewegung teil. Gegenwärtig unterstützt sie die Arbeit verschiedener belarusischer oppositioneller Organisationen im Exil.

Ein Jahrhundert der Katastrophen

Belarus: Das Land zwischen den Fronten

Ausgedehnte Sümpfe, breite Flüsse, dichte Wälder: Nur wenige Hundert Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, verhinderte die belarusische Landschaft den weiteren Vormarsch der deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg. Die Wälder im Grenzgebiet zwischen dem heutigen Polen und Belarus schienen undurchdringlich. Südlich schlossen sich die Sümpfe an die Ufer des Prypjat an, ein großer Fluss im Grenzgebiet zwischen Belarus und der Ukraine.

Belarus lag damals im Westen des russischen Zarenreiches, zwischen den polnischen Gebieten und dem russischen Kernland. Südlich schloss sich die Ukraine an, ebenfalls russisches Gebiet. Beide Länder konnten auf eine bewegte Geschichte zurückblicken, hatten zu immer wieder wechselnden Staatsgebilden gehört. Doch all das war nur ein Vorgeschmack auf das gewesen, was ihnen im 20. Jahrhundert bevorstehen sollte. Sie lagen im Zentrum eines Gebietes, das von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, von Polen bis zur heutigen Westgrenze Russlands reichte und das der amerikanische Historiker Timothy Snyder als »Bloodlands« bezeichnete. Es war ein Gebiet, das zum Schauplatz der schlimmsten Verbrechen an der Menschheit werden würde. Das Zeuge werden würde von großen, erbarmungslosen Schlachten, von Völkermord und von der systematischen Vernichtung von Menschen.

Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stellte für viele Länder einen hoffnungsvollen Aufbruch in die Moderne dar: Monarchien wurden abgeschafft, Parlamente gebildet, demokratische Strukturen eingeführt, und neue Nationalgefühle gaben den Völkern eine eigene Identität.

Aber inwieweit, für wie lange und unter welchen Bedingungen diese Zukunftsvisionen Realität wurden, fiel sehr unterschiedlich aus: Finnland wurde wieder frei, die baltischen Staaten bekamen – erst einmal – ihre Souveränität zurück, und es gründete sich ein neues Polen. Für Belarus und die Ukraine aber währte die Hoffnung auf Unabhängigkeit nur allzu kurz: 1918 wurde die Belarusische Volksrepublik (BNR) ausgerufen, die jedoch um ihre Anerkennung bei den Verhandlungen zur Neuordnung Europas kämpfen musste. Vergeblich. Die Rote Armee besetzte den östlichen Teil des Landes, der am 1. Januar 1919 schließlich der Sowjetunion zugeschlagen wurde. Der westliche Teil des Landes fiel an Polen. Nur wenig besser erging es der Ukraine: Das Land wurde nach zwei Jahren Unabhängigkeit von der Roten Armee erobert und als Sowjetrepublik der UdSSR angegliedert.

In Belarus ist die einzige Erinnerung an diese Zeit des Aufbruchs die Rada, der Rat der BNR, der Ende 1917 zum ersten Mal zusammentrat. Diese älteste Exilregierung der Welt arbeitet bis heute in Kanada und unterstützte von dort aus erst die Opposition gegen die Sowjetunion und heute den Kampf gegen Lukaschenko.

Die Besetzung und Teilung der beiden Länder war aber nur der erste Schritt in den Jahrzehnten des Terrors: Josef Stalin folgte auf Lenin, die Sowjetunion wurde zu einem paranoiden Staat, in dem Terror und Mord zum politischen Tagesgeschäft gehörten. Millionen von Menschen wurden unter Stalins Herrschaft getötet. Allein zwischen 1930 und 1933 starben zwischen 3 und 3,5 Millionen Menschen an einer staatlich herbeigeführten Hungersnot in der Ukraine. »Holodomor« nennen die Ukrainer diese Zeit, Hungertod. Nach dem Hunger kamen die stalinistischen Säuberungen, denen insgesamt Hunderttausende zum Opfer fielen. Im Zweiten Weltkrieg errichtete die deutsche Armee auch in Belarus und der Ukraine Vernichtungslager und brannte auf dem Rückzug große Teile des Landes nieder. Danach plünderte die Rote Armee Felder und Ställe.

Mehr als 14 Millionen Zivilisten wurden zwischen 1933 und 1945 in den »Bloodlands« getötet.

Meine Familie im Krieg

Mein Urgroßvater starb in den ersten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Er kämpfte gegen die Sowjets, die in den Osten Polens vorrückten, nachdem der Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet worden war. Er stammte, wie große Teile der Familie meiner Mutter, aus dem kleinen Dorf Hniezna, knapp 70 Kilometer südlich von Grodno und 70 Kilometer östlich von Białystok gelegen. Ein Ort, der auch heute nicht viel mehr ist als eine Ansammlung kleiner Holzhäuser, die sich um eine Backsteinkirche gruppieren.

Der nächste Kriegstote, zwei Jahre später, war einer seiner Söhne, Edzik. Edzik wollte für die Sowjets gegen die Deutschen kämpfen und meldete sich im Alter von 17 Jahren zur Armee. Angeblich desertierte er, doch mehr als dieses Gerücht hörte niemand mehr von ihm. Er ist einer der unzähligen Menschen, die vom Krieg verschlungen wurden und deren Schicksal auf immer ungeklärt bleiben wird.

Die sowjetischen Besatzer beschlagnahmten die Felder und Tiere der Bauern, um sie, so die offizielle Begründung, zu Kolchosen zusammenzuführen. Die Menschen in den besetzten Gebieten erlebten aber etwas ganz anderes: Die Besatzer nahmen sich alles, was sie sich nehmen konnten, und ließen die Bewohner hungern.

Die Erzählungen derer, die diese Zeit miterlebten, gleichen sich, überall: Dorfbewohner klaubten auf den Feldern und in den geplünderten Speichern der Bauern die letzten Reste an Korn zusammen. Sie mussten sich vor den Patrouillen der Roten Armee in Acht nehmen. Wer ertappt wurde, musste das Gefundene abgeben. Mit Glück kam man mit Schlägen davon, mit Pech zahlte man mit dem Leben.

Die sowjetischen Soldaten stahlen, raubten die Bauern aus. Sie nahmen alles mit, was irgendeinen Wert hatte. Aus den Häusern der Bauern, aus den Gärten und sogar aus den Kirchen.

Im Dorf meiner Großmutter versammelten sich die Einwohner vor ihrer kleinen Kirche, um Ikonen, Bibeln und Kreuze zu schützen. Vergeblich. Ihre Kirche wurde geplündert, die Ikonen verschwanden. Zurück blieb ein leeres, ein geschändetes Gotteshaus. Ein großes Leid für die tiefgläubigen katholischen Bauern.

All das sind auch Erzählungen, die so oder ähnlich heute wieder aus der Ukraine zu hören sind, wo russische Soldaten wieder einen erbarmungslosen Krieg führen und die Zivilbevölkerung terrorisieren.

Die deutsche Besatzung

Am 22. Juni 1941 brach Deutschland den Hitler-Stalin-Pakt und begann den Krieg gegen die Sowjetunion. Einen Tag später wurde Grodno bereits von der deutschen Wehrmacht besetzt. Die sowjetischen Besatzer zogen in aller Eile ab, nahmen Lebensmittel, Fahrzeuge, Tiere, Möbel, Schmuck mit. Was sich transportieren ließ, wurde eingepackt.

Vielleicht erlebten die Menschen den Wechsel der Besatzer im ersten Moment als Erleichterung. Vielleicht so, wie die Kinder meiner Urgroßmutter: In den ersten Tagen der Besatzung steckte ihnen ein deutscher Soldat eine Packung Schokolade zu, etwas, was sie als arme Bauernkinder nie zuvor besessen hatten. Es war ein kurzer Moment des Glücks. Doch er hatte eine mehr als bittere Note: Er endete spätestens in dem Moment, in dem die Deutschen belarusische Kinder und Jugendliche abholten.

Wie in vielen besetzten Gebieten im Osten wurden sie zur Zwangsarbeit verpflichtet. Mehr als 1,5 Millionen wurden in Arbeitslager gebracht. Oft genug in Deutschland, seltener in ihren Heimatländern. Viele von ihnen starben. Je länger der Krieg dauerte, desto jünger wurden die Kinder, die von ihren Familien getrennt, in Lager gesteckt und zur Arbeit gezwungen wurden.

Die große Schwester meiner Großmutter, Vranika, sollte dazugehören. Als ältestes Kind der Familie stand sie auf der Liste für den Transport nach Deutschland.

Die Schwestern

Als die Deutschen vor der Tür standen, drängte sich meine Großtante Zosia nach vorn. Sie hatte Asthma, hustete stark und war von der Krankheit gezeichnet. Doch Zosia war nicht nur krank, sondern auch mutig: Sie wusste, dass sie, krank und schwach, wie sie war, der Familie in dieser Zeit nichts nutzen konnte. Ihr große Schwester hingegen schon: Sie war stärker, widerstandsfähiger. Zosia opferte sich in diesem Moment selbst, um ihre Familie zu schützen. Und ihre Mutter ließ sie gehen.

Meine Urgroßmutter kämpfte den Rest des Krieges über mit dieser Entscheidung, während sie sich abmühte, die Familie zu ernähren, sie mit den Kindern die letzten Reste Korn und Kartoffeln auf abgeernteten Feldern suchte und um Nahrung bettelte. Der Krieg hatte ihr nun den Mann und zwei Kinder genommen.

Bis zum Kriegsende ahnte sie nicht, dass sich zumindest eine Sache zum Guten wenden sollte. Denn mit ihrer Entscheidung half Zosia nicht nur der Familie, sie rettete auch ihr eigenes Leben. Sie wurde nach Deutschland in ein Lager gebracht, wo ein Arzt nach einiger Zeit erkannte, wie krank sie war. Er nahm sie zu sich nach Hause, ließ sie bei sich als Kindermädchen arbeiten. Hauptsächlich aber, so erzählte sie es, um sie zu pflegen, sie zu heilen. Es war ein kleiner Lichtblick in einer unbarmherzigen Zeit. Ein kleiner Akt der Menschlichkeit, der sehr spät kam für ein junges Mädchen. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt schon mehr Leid gesehen, als man eigentlich ertragen kann.

Wir haben immer noch alte Fotos von Zosia, in Lageruniform, mit ihrer Nummer auf der Jacke. Sie musste in eisiger Kälte frieren, hungern, oft genug mit verfaultem Kohl vorliebnehmen, musste bis zur völligen Erschöpfung arbeiten. Sie musste ihre Schlafstatt mit Mäusen und Ratten teilen. Oft genug wachte sie morgens auf und sah als Erstes die Leichen derer, die sich in der Nacht umgebracht hatten, die von den Balken der Schlafbaracke hingen. Doch sie hat überlebt. Was mehr als ein Wunder ist.

Nach dem Ende des Krieges kehrte sie nach Hause zurück, und...

Erscheint lt. Verlag 28.9.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2022 • Aktivist • aktivistin • Alexander Lukaschenko • Demonstration • Diktator • Diktatur • Donbass • Donezk • eBooks • False Flag • Flüchtlinge • Invasion • Kommunistische Partei • Luhansk • Lukaschenka • Maria Kolesnikowa • Migranten • Minsk • Neuerscheinung • Opposition • Ostukraine • Politische Verfolgung • Polizeigewalt • Revolution der Frauen • Roman Protassewitsch • Russland-Ukraine Konflikt • Selenskyj • Sowjetunion • Swetlana Tichanowskaja • Ukrainekonflikt • Ukraine Krieg • Ukraine-Krise • verfassungsreferendum • Veronika Zepkalo • Wahlfälschung • Weibliche Revolution • Weissrussland • Wladimir Putin
ISBN-10 3-641-29168-2 / 3641291682
ISBN-13 978-3-641-29168-6 / 9783641291686
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