Zarifa - Afghanistan (eBook)

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2022 | 1. Auflage
328 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-44662-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zarifa - Afghanistan -  Zarifa Ghafari,  Hannah Lucinda Smith
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Die weibliche Stimme Afghanistans Zarifa Ghafari ist die weibliche Stimme Afghanistans. Mit 24 Jahren zur jüngsten Bürgermeisterin des Landes ernannt, versuchen Taliban, sie gewaltsam von der Ausübung ihres Amtes abzuhalten. Trotz der Anschläge setzt sie sich unermüdlich gegen Korruption, für Frieden und Frauenrechte ein. Als Vergeltung wird ihr Vater ermordet. Nach dem Einmarsch der Taliban 2021 muss Ghafari fliehen. Doch ihr Kampf geht weiter. Eindringlich schreibt sie über ihr Leben und ihr Engagement. Sie erzählt über das Schicksal afghanischer Frauen und ihre gemeinsame Vision, das Leben in einem Land voll religiösem Fanatismus zu verändern. Ihr Bericht ist Zeugnis und Appell zugleich, Afghanistan nicht zu vergessen.

Zarifa Ghafari, geboren 1994 in Kabul, studierte Wirtschaftswissenschaften, gründete einen Radiosender für Frauen und wurde Bürgermeisterin. Als sie zwei war, kamen die Taliban an die Macht, fünf Jahre später die Amerikaner, mit 26 musste sie mit ihrer Familie fliehen. Exil fand sie in Deutschland, wo sie unter ständigem Polizeischutz lebt. Für ihren Mut und ihren Einsatz für Frauenrechte erhielt Ghafari etliche Auszeichnungen, 2019 nahm die BBC sie in die Liste der »100 einflussreichen und inspirierenden Frauen aus aller Welt« auf, 2020 bekam sie den International Women of Courage Award des US-Außenministeriums.

Zarifa Ghafari, geboren 1994 in Kabul, studierte Wirtschaftswissenschaften, gründete einen Radiosender für Frauen und wurde Bürgermeisterin. Als sie zwei war, kamen die Taliban an die Macht, fünf Jahre später die Amerikaner, mit 26 musste sie mit ihrer Familie fliehen. Exil fand sie in Deutschland, wo sie unter ständigem Polizeischutz lebt. Für ihren Mut und ihren Einsatz für Frauenrechte erhielt Ghafari etliche Auszeichnungen, 2019 nahm die BBC sie in die Liste der »100 einflussreichen und inspirierenden Frauen aus aller Welt« auf, 2020 bekam sie den International Women of Courage Award des US-Außenministeriums. Hannah Lucinda Smith, langjährige Nahost-Korrespondentin, ist Autorin und aktuell ›THE TIMES‹-Korrespondentin für die Türkei und den Balkan.

Prolog


Februar 2022

Changa, Provinz Wardak

Die Männer wollten alles über Deutschland wissen. Nachdem die Jugendlichen die Platten mit Reis und Fleisch und die halb leer gegessenen Schälchen mit Milchpudding abgeräumt und die orangefarbene Kunststoffmatte auf dem Boden zusammengefaltet hatten, auf der sich die verschütteten Körnchen und Zuckerpapierchen gesammelt hatten, hefteten die Dorfältesten ihre Augen auf mich. Sie nippten an ihrem Tee und lauschten in gebannter Stille. Ich atmete tief durch, richtete mein Kopftuch und begann damit, ihnen vom Führerschein zu erzählen.

»Man muss stundenlang Fahrunterricht nehmen!«, sagte ich. »Und dann muss man eine Prüfung ablegen.«

Sie tauschten erstaunte Blicke. Keiner von ihnen war je aufgefordert worden, seine Fahrtauglichkeit beurteilen zu lassen, bevor er sich ans Steuer setzen durfte. Ich legte noch einen drauf.

»Und wenn man die Regeln zu oft bricht, nehmen sie einem den Führerschein weg!«

Jetzt waren sie wirklich schockiert. Deutschland war doch das Land der Freiheit, oder etwa nicht? Was also hatte es damit auf sich, dass einem Mann sein Recht zu fahren verweigert wurde? Zu den richtig harten Brocken war ich noch nicht einmal vorgedrungen – der unerhörte Preis für Kartoffeln im Supermarkt, das Geld, das man an den Staat abführen musste, bevor man seinen Gehaltsscheck auch nur zu Gesicht bekam. Ich wusste, dass dies ungeheuerliche Neuigkeiten für sie wären und sie mir nicht wirklich glauben würden. Hier in Changa, einem abgelegenen Provinznest keine hundert Kilometer, aber eine achtstündige Autofahrt auf unbefestigten Straßen durch die Berge von Kabul entfernt, war man überzeugt, dass alle, die es nach Europa geschafft hatten, dort ein Leben in großem Luxus führten. Und hier war ich, die Gesandte aus dem gelobten Land, eine junge afghanische Frau, die ihnen nicht weniger erzählte, als dass sie vollkommen falschlagen.

Den Männern konnte ich das kaum zum Vorwurf machen: Viel mehr als ihre Hoffnung hatten sie nicht. Changa bestand aus einer Reihe sandfarbener Lehmhütten, es gab weder fließend Wasser noch Strom. Wollte man Handyempfang, musste man weiter hoch in die Berge. Um auf die Toilette zu gehen, begab man sich zu einer Hütte am Berghang. Die Schule, eine islamische Madrassa, bestand aus einem einzelnen Raum für die Jungen, in dem neben großen Stapeln Gebetsmatten, Koranbücher und andere religiöse Schriften entlang der Wand aufgereiht waren, sowie einem den Elementen ausgesetzten Klassenzimmer im Hof. Dort saßen die Mädchen für ihren Unterricht im Schneidersitz am Boden, auch wenn der schmelzende Schnee die hartgestampfte Erde im Februar in Schlamm verwandelte. Ich hätte dort noch nicht einmal ein Tier gehalten.

Den Männern verhieß die Ankunft des Frühlings ein paar angenehme Monate, in denen selbst die, die glaubten, Deutschland sei das Land der Audis für alle, stolz behaupteten, lieber in ihrem Dorf zu bleiben. Im Frühling verschwindet der Schnee von den zerklüfteten Bergen, enthüllt eine Schicht saftiges Gras und bringt an den kahlen Ästen der Apfelbäume junge Blätter zum Vorschein. Mit jedem Tag geht die Sonne früher auf und wärmt die Erde bis in tiefere Schichten; innerhalb weniger Wochen blüht die Natur auf zu einem duftenden Baldachin. Die Männer waten in weiten Shorts und T-Shirts im Fluss am Fuß des Tals, bespritzen sich gegenseitig mit Wasser und johlen vor Freude. Die Frauen sind nicht dabei. Fast alle in Changa, die älter als vierzehn sind, sind verheiratet. Ihnen bleibt kaum Zeit für Vergnügungen.

Einen Großteil der öffentlichen Einrichtungen, darunter die Schule, hatten die Taliban errichtet. In den zwanzig Jahren, die internationale Hilfsorganisationen und NATO-Truppen in Afghanistan verbracht hatten, hat kaum ein Cent der Milliardensummen, die in das Land gesteckt wurden, Dörfer wie dieses erreicht. Vielleicht hätten sie noch nicht einmal mitbekommen, dass das Regime in Kabul 2001 ausgewechselt worden war, hätte es nicht kurz darauf Luftschläge und nächtliche Hausdurchsuchungen gegeben. Das letzte Mal zuvor, dass Fremde nach Changa gekommen waren, war in den 1980er-Jahren gewesen, als zwei französische Ärzte hereingeschneit waren – mal abgesehen von den Amerikanern, die mit ihren Fallschirmen und ihrer Robocop-Ausrüstung aus dem Himmel fielen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Straßen zu befestigen, Finanzmittel bereitzustellen oder ein Abwassernetz zu bauen. Die Skelette der russischen Panzer blieben am Straßenrand liegen, rostende Metallhaufen, die nach dreißig Jahren das gleiche Ocker angenommen hatten wie die Erde. Eine schwedische Hilfsorganisation hatte in der ehemaligen Schule eine notdürftige Geburtsklinik eingerichtet und Frauen vor Ort zu Hebammen ausgebildet, um bei unkomplizierten Geburten helfen zu können. Davon abgesehen hatte für alles hier der Parallelstaat der Taliban gesorgt, von der Bildung über die Sicherheit bis zum Rechtssystem der Scharia. Eines der größten Gebäude der Gegend, das früher dem Gouverneur von Wardak gehört hatte, war inzwischen das Gefängnis der militanten Kämpfer. Aus diesen Gründen, aber auch zu ihrem persönlichen Schutz, unterstützten alle im Dorf die Taliban.

Die neugierigen alten Männer Changas, die Väter und Unterstützer dieser Talib-Jungs, sahen wie die fleischgewordene National-Geographic-Klischeevorstellung von Afghanistan aus. Ihre Turbane, aufwändig aus makellosen Stoffen gerollt, ließen ihren Kopfumfang um die Hälfte größer erscheinen. Sie trugen lange wollene Schals in erdigen Farben, die sie elegant um ihre Schultern und Hälse geschlungen hatten. Draußen, im eisigen Wind der Berge, zogen sie sie über den Kopf und wickelten sie wie eine Maske über Mund und Nase und unter das Kinn, sodass nur ihre eulenhaft bernsteinfarbenen Augen hervorblitzten. Einige Jugendliche taten es ihnen gleich, fügten aber für einen dramatischeren Effekt einen Lidstrich mit Khol hinzu. Sie waren zusammengekommen, um mich zu begrüßen, und luden mich ein, im schönsten Raum ihres Hauses zu essen, der mit dem einzigen Gasofen der Familie geheizt wurde. Wir saßen alle bequem auf dicken roten Polsterkissen, die an den Wänden des Raums ausgelegt waren. Die Frauen hielten sich in einem kälteren Winkel des Hauses auf und warteten, bis sie an der Reihe waren, die Mahlzeiten zu sich zu nehmen, die sie für uns zubereitet hatten.

Für einen außenstehenden Beobachter mochte es aussehen, als hätte sich in Changa seit Hunderten von Jahren nichts verändert, als wäre dieser Ort vom Aufbruch der Welt in die Moderne unberührt geblieben. Doch ein kleines Detail verriet die Wahrheit. Hoch oben an der türkis gestrichenen Wand, mit pinken und gelben Girlanden geschmückt, hing die Fotografie eines jungen Mannes mit dünnem Schnurrbart und Seitenscheitel. Der Abzug war offensichtlich Jahrzehnte alt und von einem professionellen Fotografen gemacht worden, und Mohammed Dschan, der Mann, der auf seine Turban tragenden Nachfahren hinabstarrte, trug Anzug und Krawatte. Anfang der 1970er-Jahre, als das Foto aufgenommen wurde, war er ein junger Verkehrspolizist in Kabul gewesen, der Changa hinter sich gelassen hatte, um ein neues Leben in der Hauptstadt zu beginnen. In Kabul fühlte er sich von der linken Politik und ihrer Verheißung eines progressiven, demokratischen Afghanistans angezogen. Deshalb trat er der Khalq-Fraktion bei, dem sozialistischen Flügel der Demokratischen Volkspartei Afghanistans mit engen Verbindungen nach Russland. Er heiratete, gründete eine Familie und hatte keinen Grund zur Annahme, dass ihre moderne Lebensweise eines Tages ein Ende haben würde.

Im Jahr 1973 jedoch begann sich alles aufzulösen. Zunächst wurde König Mohammed Sahir Schah durch einen von seinem Cousin General Mohammed Daud Khan angeführten Putsch gestürzt, der seinen Verwandten für »korrupt und verweichlicht« erklärte und gelobte, dem Land Demokratie zu bringen. General Khan setzte die Khalq-Partei als Regierung ein und erklärte sich selbst zum Präsidenten. Dies nutzten die Russen und begannen, ihren politischen Einfluss auszuweiten. 1978 verübte eine von Moskau unterstützte kommunistische Partei ihren eigenen Staatstreich, tötete Khan und übernahm die Macht. Geführt wurde die neue Regierung von Nur Mohammed Taraki, einem linken Schriftsteller und Journalisten, der von der Notwendigkeit einer Revolution im Stil der Bolschewiken überzeugt war. Er fing sofort damit an, Privatvermögen einzukassieren und umzuverteilen, und zerschlug die Bourgeoisie, während das Land zugleich in Anarchie versank. Nach nur einem Jahr hatten Flügelkämpfe die neue Regierung gespalten, und im Dezember 1979 überschritt die sowjetische Armee die Grenze. Innerhalb weniger Tage erreichte sie Kabul, setzte ihre eigene Marionettenregierung ein und zettelte damit den zehn Jahre währenden Krieg zwischen der Sowjetunion und Afghanistan an, in dessen Widerstand religiöse Männer kämpften, die sich selbst als die Mudschahedin bezeichneten, Heilige Krieger, denen der gottlose Kommunismus ein Gräuel war.

Mohammed Dschan war nicht länger ein Mann des Fortschritts: Gemäß der Mudschahedin war er nun ein Verräter. Zurück in Changa war die Unterstützung für den Widerstand der Mudschahedin uneingeschränkt. Und so entschied sich Mohammed wie Millionen anderer Afghanen für den Selbsterhalt. Er legte Anzug und Krawatte im westlichen Stil ab, zog mit seiner Familie zurück in sein Dorf, begann als Lastwagenfahrer zu arbeiten und unterstützte fortan die Mudschahedin-Gruppierung von Gulbuddin...

Erscheint lt. Verlag 8.9.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Afghanistan • Afghanistan Frauenrechte • Afghanistan Geschichte • Afghanistan Krieg • Al-Qaida • Autobiografien Frauen • biografien berühmter frauen • Biografien Frauen • Bundeswehr • Demokratie • Erfahrungen und Schicksale • Erfahrungsbericht • erste Bürgermeisterin • Exil • Frauenrechte • Frauenschicksal • Geheimdienst • Ich bin Malala • Islamisten • Lebensgeschichten Frauen • Luftbrücke • Malala • Memoir • Menschenrechte • Naher Osten • Netflix Doku • Recht auf Bildung • Taliban • Terrorismus • Truppenabzug • us-invasion • Verlorener Krieg • Widerstand
ISBN-10 3-423-44662-5 / 3423446625
ISBN-13 978-3-423-44662-4 / 9783423446624
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