Putinismus (eBook)

Wohin treibt Russland?
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2022 | 1. Auflage
336 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2861-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Putinismus -  Walter Laqueur
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Die Rückkehr des Kalten Krieges Der Russland-Experte Walter Laqueur beleuchtet Putins Großmachtpolitik und zeigt, wie sich nach dem Ende der Sowjetunion ein neuer gesellschaftlicher Konsens gebildet hat: antiwestlich, antiliberal und staatshörig. Mit seiner reaktionären Ideologie knüpft der Alleinherrscher im Kreml an tief verwurzelte Traditionen an, noch immer findet seine Politik unter den Russen breite Zustimmung. Wer wissen will, wohin Putins Russland steuert, findet hier Antworten. »Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine reden alle von der ?Zeitenwende?. Doch dieser Angriff kam nicht aus heiterem Himmel. Antriebskräfte und ideologische Rechtfertigungen hat Walter Laqueur schon vor Jahren hellsichtig in seiner Studie zum Putinismus freigelegt.« Karl Schlögel

Walter Laqueur, geboren 1921 in Breslau, verstorben 2018 in Washington D.C. 1964-1991 Direktor des Londoner Institute of Contemporary History and Wiener Library, seit 1969 Mitarbeit im Center of Strategic and International Studies in Washington. Zahlreiche Buchveröffentlichungen. Zuletzt erschienen bei Propyläen »Die letzten Tage von Europa« (2006) und »Mein 20. Jahrhundert« (2009).

Walter Laqueur, geboren 1921 in Breslau, verstorben 2018 in Washington D.C. 1964-1991 Direktor des Londoner Institute of Contemporary History and Wiener Library, seit 1969 Mitarbeit im Center of Strategic and International Studies in Washington. Zahlreiche Buchveröffentlichungen. Zuletzt erschienen bei Propyläen »Die letzten Tage von Europa« (2006) und »Mein 20. Jahrhundert« (2009).

Vorwort zur Neuauflage im Frühjahr 2022

von Karl Schlögel

Schon ein Jahr nach der russischen Besetzung der Krim hatte Walter Laqueur 2015 seine Studie zum Putinismus veröffentlicht. Das Interesse am Krieg gegen die Ukraine, der im Osten des Donbass weiterging, verschwand zwar nicht ganz aus dem Horizont des Westens, aber rückte doch in den Schatten des Krieges in Syrien und der durch ihn ausgelösten Flüchtlingswellen. Fast unbemerkt blieb die Verwüstung der besetzten Gebiete des Donbass, die Tausende von Toten und die Flucht von Millionen Menschen.

Aber dann geschah es. Am 24. Februar 2022 überschritten aus vier Richtungen russische Truppen, die über Monate hinweg und unter den Augen der Weltöffentlichkeit aufmarschiert waren, die ukrainische Grenze, um das Land in einem Blitzkrieg niederzuwerfen und zu besetzen. Das bis dahin Unvorstellbare war geschehen und geschieht seither mit jedem weiteren Tag. Bomben auf Städte, gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung, Zerstörung der Infrastruktur landesweit, Millionen auf der Flucht im Land und über die Grenzen hinweg. Namen und Bilder, die sich der Welt seither eingeprägt haben: Mariupol, vor Kurzem noch eine intakte Industrie- und Hafenstadt, nun in Schutt und Asche gelegt, Butscha mit den in den Straßen liegenden Opfern russischer Kriegsverbrechen.

Niemand konnte diese Bilder antizipieren, selbst ein so katastrophenerfahrener Zeitgenosse und Historiker wie Walter Laqueur (1922–2018) nicht, dessen Lebenszeit fast das gesamte 20. Jahrhundert umspannte. Laqueur, in Breslau geboren, als junger Mann noch rechtzeitig vor den Nazis nach Palästina entkommen, in seiner späteren Karriere vielsprachig und in den Hauptstädten der Welt unterwegs, Autor zahlreicher und zu Standardwerken gewordener Bücher, leistete mehr als so manche historische Institute und Thinktanks zusammen. Er war der Zeitgenosse, der Entwicklungen schon auf der Spur war, als diese noch nicht spruchreif geworden waren – so seine Studien zum modernen Terrorismus oder zum russischen Faschismus –, und er war der Historiker, der immer die longue durée im Auge hatte, nicht nur die Kette der Ereignisse.

Seine Studien zur Weimarer Kultur, zum Verhältnis zwischen Russland und Deutschland sind bis heute beispielhafte Werke. Russland und der Sowjetunion war er nahe, nicht nur über Zeitungslektüre und Quellenstudium, sondern durch eigene – auch über seine Familie vermittelte – Erfahrungen, die ihn mit einer Lebenswelt vertraut machten, die in Zeiten des Kalten Krieges vielen Sowjetunionexperten unzugänglich geblieben war. Sein Interesse an strategischen Fragestellungen war immer auf Kenntnisse vor Ort gegründet. Die Rede von der Geopolitik, die heutzutage alles erklären soll, hielt er für eine Modeerscheinung. Das lebendige Interesse des Zeitgenossen und die Wahrung der Distanz des Historikers erzeugten bei ihm eine Art Gelassenheit, die manchmal fast an Ironie und Understatement grenzte. Sorge und Anteilnahme, vor allem aber eine stupende Detailkenntnis, die auch in seinen späten Lebensjahren nicht nachließ, beeindruckten jeden, der mit ihm zu tun hatte.

Laqueur konnte nicht wissen, was wir heute wissen, die Bilder von Mariupol, Butscha und Charkiw vor Augen. Den voll ausgereiften Putin, der seinen von Hass strotzenden, pseudohistorischen Vortrag am Vorabend des Angriffs auf die Ukraine hielt, hat er, der 2018 in Washington, D. C., starb, nicht mehr erlebt. Laqueur hätte seine Ansicht vom »noch nicht voll entfalteten russischen Faschismus« gewiss weiterentwickelt, erst recht, nachdem die Gräueltaten in den von den russischen Besatzern heimgesuchten Territorien bekannt wurden. Aber wir lernen vom Walter Laqueur des Jahres 2015, dass er schon gesehen hatte, was die meisten noch nicht gesehen hatten oder wollten.

Anders als im Mainstreamdiskurs zur Erklärung der russischen Politik der letzten zwanzig Jahre ist Laqueurs Ausgangspunkt die innere Verfasstheit Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion. Die äußeren Beziehungen lassen sich so gesehen nicht bloß oder gar in erster Linie aus Reaktionen auf die Veränderung der internationalen Situation ableiten, sondern erklären sich, wenngleich nicht linear oder monokausal, zuerst aus den inneren Verhältnissen.

Das postsowjetische Russland, das sich mit dem Ende des Imperiums arrangieren musste und einen neuen Weg zu finden gezwungen war, steht im Zentrum von Laqueurs Analyse. Kein Wunder, wenn er die stereotyp wiederholten Fragestellungen im Russlanddiskurs der letzten Jahre eher am Rande abhandelt, also Fragen wie: Hat die Nato einen Fehler gemacht, hat sie eine Chance verpasst, sind vom Westen falsche Versprechungen gemacht und entsprechende Reaktionen vorprogrammiert worden?

Laqueur interessiert sich für die Eigenbewegung, für die offensichtliche Überforderung der Führung eines Landes, das sich auf die Situation nach dem Ende des Imperiums nicht einzustellen willens oder nicht in der Lage war. Die Gründe für das »Ende«, für die »Niederlage«, suchte man nicht im Scheitern des sowjetischen Entwicklungsweges, also bei sich selbst, sondern außerhalb, bei »anderen«, einer angeblich seit jeher russophob eingestellten Umwelt, beim Westen, in erster Linie aber bei den USA. Bedrohungsszenarien, Verschwörungsgeschichten, die Vision von der Wiedergewinnung des Imperiums traten an die Stelle der Konfrontation mit der Realität. Die Anstrengungen der Führung richteten sich daher nicht auf die überfällige Modernisierung, die alle Kräfte des Landes gefordert hätte, sondern auf die Produktion von Feindbildern, die Erzeugung einer Festungsmentalität und einer Außenpolitik, die überall da, wo sich Chancen boten, Konflikte schürte, mit gefährlichen Situationen zündelte und das Chaos erzeugte, das für die Aufrechterhaltung des Ausnahmezustands nötig war. Die scheinbar kleinen erfolgreichen Kriege, die dem Gegner maximalen Schaden zufügten und dem eigenen Volk Erfolge suggerierten, sollten über die Verlustängste und das Versagen bei der Bewältigung der Aufgaben im eigenen Land hinwegtäuschen.

Der Kampf um das »Dritte Imperium« nach dem Untergang des Zarenreichs und dem Zerfall der Sowjetunion sollte über die Traumata hinwegführen und Orientierung bieten in einer »Zeit der Wirren«, die angeblich von äußeren und inneren Feinden ausgelöst und gesteuert wurde. Die denkbar schärfsten Unterdrückungsmaßnahmen gegen »ausländische Agenten« und »Fünfte Kolonnen« sollten zur Anwendung kommen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten – Zensur, Verbote, Schauprozesse und ideologische Mobilmachung.

Überdeckt wurde dieser Weg Russlands ins Abseits einer neoimperialen Diktatur durch den Reichtum, der aufgrund der günstigen Weltkonjunktur für Rohstoffe – vor allem Öl und Gas – ins Land kam und einer durch staatliche Umverteilung finanzierten Mittelklasse einen sichtbaren Wohlstand ermöglichte. Laqueurs Buch kreist um die Erklärung der geistig-mentalen Verfasstheit des nachsowjetischen und besonders des Putin’schen Russland; hier geht es nicht nur um das Zusammenwachsen von oligarchischer Macht und geheimdienstlichen und militärischen Strukturen, sondern um Vorstellungen, die die Bevölkerung eines so großen Landes angesichts stagnierender Entwicklung und mangelnder Zukunftsperspektiven zusammenzuhalten vermögen.

Daher sind die verschiedenen Anläufe, eine Idee für das nachsowjetische Russland zu finden, so wichtig. Laqueur kann bei seiner Analyse der »russischen Idee« auf seine früheren Untersuchungen zu den 1990er-Jahren und zur Wirkmächtigkeit der seit jeher staatsnahen russisch-orthodoxen Kirche zurückgreifen, die nun aber in die neoimperiale und chauvinistische Mobilisierung eingespannt ist, eine mächtige und traditionsreiche Institution, die sich dem weltanschaulichen Kampf für die »traditionellen Werte des rechtgläubigen Russland« – und das heißt gegen die individualistische und freiheitliche Lebenswelt des Westens – auf militante Weise verpflichtet hat.

Laqueur widmet einzelne Kapitel den geistigen Strömungen, die lange Zeit als Randphänomen, als exotisch und versponnen nicht wahr- und nicht ernst genommen wurden, die in den Regierungsjahren Putins aber ins Zentrum ideologischer Selbstermächtigung und Propaganda gerückt sind – also der Ideologie des Eurasianismus, der Slawophilie und des Hasses auf Europa und den Westen, in der Elemente der konservativen Revolution und der antibolschewistischen Emigration, des russischen Faschismus und der neuen europäischen Rechten miteinander vermengt sind. Stichwortgeber wie Alexander Dugin, der Ideologe des Neo-Eurasiertums, oder Iwan Iljin, der mit den Nazis sympathisierende monarchistische Philosoph aus dem Berliner Exil der Zwischenkriegszeit, sind zwar erst in den Putin-Jahren zu prominenten, ja offiziell anerkannten Vordenkern geworden, waren aber bereits lange vorher tonangebend für den »Sound des Imperiums«, wie Alexander Prochanow, ein anderer Wortführer, es genannt hat.

Hinzugekommen ist – Folge der digitalen Revolution – die durch Postmoderne und Dekonstruktivismus beförderte Infragestellung der Unterscheidung von wahr und falsch, von Fakten und Fiktionen; sie haben im hybriden Informationskrieg und in der neuen Öffentlichkeit der sozialen Medien eine Bedeutung gewonnen, die Laqueur noch nicht in vollem Ausmaß vor Augen stand. Er hat die Tiefenströmung erkundet, die die weitgehende Hinnahme, ja Identifizierung der russischen Gesellschaft mit der aggressiven Politik der Führung und die schiere Ohnmacht einer liberalen und demokratischen Opposition in einem gleichgeschalteten medialen Universum zu verstehen hilft. Dass die Kombination von Minderwertigkeitskomplex, Verfolgungswahn, euroasiatischen Visionen und...

Erscheint lt. Verlag 27.5.2022
Übersetzer K.-D. Schmidt
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Eurasien • Kalter Krieg • Osteuropa • Putin • Russland • Ukraine • Ukrainekonflikt
ISBN-10 3-8437-2861-5 / 3843728615
ISBN-13 978-3-8437-2861-4 / 9783843728614
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