Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden. (eBook)
240 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01466-4 (ISBN)
Raúl Aguayo-Krauthausen, 1980 in Peru geboren, ist in Berlin aufgewachsen. Er sitzt im Rollstuhl und arbeitet als Inklusions-Aktivist u.a. für die SOZIALHELDEN, einen gemeinnützigen Verein, den er 2004 selbst gegründet hat. Als studierter Kommunikationswirt und Design Thinker ist er seit über 15 Jahren in der Internet- und Medienwelt aktiv. Er erfand die Wheelmap, eine Karte für rollstuhlgerechte Orte, protestierte vor dem Bundestag für ein gutes Teilhabe- und Gleichstellungsgesetz, erwirkte eine Verfassungsklage gegen die Triage-Regelung und klärt u.a. in Blogartikeln, Fernsehbeiträgen und in seinen Podcasts über Behinderung auf. Seit 2015 moderiert er mit 'KRAUTHAUSEN - face to face' seine eigene Talksendung. Für seine Verdienste um die sozialen Belange von behinderten und sozial benachteiligten Menschen wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.
Raúl Aguayo-Krauthausen, 1980 in Peru geboren, ist in Berlin aufgewachsen. Er sitzt im Rollstuhl und arbeitet als Inklusions-Aktivist u.a. für die SOZIALHELDEN, einen gemeinnützigen Verein, den er 2004 selbst gegründet hat. Als studierter Kommunikationswirt und Design Thinker ist er seit über 15 Jahren in der Internet- und Medienwelt aktiv. Er erfand die Wheelmap, eine Karte für rollstuhlgerechte Orte, protestierte vor dem Bundestag für ein gutes Teilhabe- und Gleichstellungsgesetz, erwirkte eine Verfassungsklage gegen die Triage-Regelung und klärt u.a. in Blogartikeln, Fernsehbeiträgen und in seinen Podcasts über Behinderung auf. Seit 2015 moderiert er mit "KRAUTHAUSEN – face to face" seine eigene Talksendung. Für seine Verdienste um die sozialen Belange von behinderten und sozial benachteiligten Menschen wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.
Die unsichtbare Norm
Laut Jahresbericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes war «Behinderung» im Jahr 2020 das häufigste Diskriminierungsmerkmal, für das Anfragen gestellt wurden, an Stelle 2 und 3 folgen «Ethnische Herkunft» sowie «Geschlecht». Auch im Jahr 2021 führten diese drei Merkmale die Statistik an.[1]
Die Diskriminierung behinderter Menschen hat vielfältige Gründe – ein wichtiger Punkt ist die historische Sicht auf «Behinderung», die sie als Krankheit, als biologische Funktionseinschränkung ansieht. Dieses «medizinische Modell von Behinderung» sieht Behinderung als Abweichung von einer unsichtbaren, von einer still vorausgesetzten Norm: Es gibt die «Normalen» und es gibt diejenigen, die vom Standard abweichen. In der Zeit des Nationalsozialismus hat diese Sichtweise so weit geführt, dass behinderte Menschen als «Entartungen» dargestellt wurden, als «lebensunwertes Leben», das interniert, vernichtet oder zumindest ausgegrenzt werden musste. Dieses Gedankengut ist heute glücklicherweise nicht mehr präsent, wirkt aber im kollektiven Unterbewusstsein noch immer nach. Und auch die Schaffung von Sonderräumen für Andersartige – zum Beispiel Förderschulen, Behindertenwerkstätten und Wohnheime für behinderte Menschen – markiert die Ausgrenzung von der «normalen Gesellschaft». Die medizinische Perspektive auf Behinderung führt zu einem strukturellen Ungleichgewicht, zu Bevormundung und Diskriminierung: Behinderte Menschen sind hilflose Kranke, die bemitleidet und gepflegt werden müssen. Die Normvorstellung führt auch dazu, dass manche behinderte Menschen – etwa Personen auf dem autistischen Spektrum – aufgrund der relativen «Unsichtbarkeit» ihrer Behinderung im Alltag oft nicht als Menschen mit Behinderungen wahrgenommen werden, weil sie «zu gut funktionieren». Der Satz «Für mich bist du nicht behindert» ist vor diesem Hintergrund kein Kompliment, sondern eine bevormundende Zuschreibung, die Behinderung als offensichtliches Defizit versteht. Das medizinische Modell von Behinderung hat also auch viel mit einer Bewertung von Individuen zu tun, weshalb es auch manchmal «individuelles Modell von Behinderung» genannt wird.
Das medizinische bzw. das individuelle Modell von Behinderung geht vollkommen an der Selbstwahrnehmung vieler behinderter Menschen vorbei, die ihre Behinderung aus einer ganz anderen Perspektive betrachten. Statt den Fokus auf einen angeblichen Mangel zu legen, kann man die Funktionseinschränkung auch wertfrei als Teil dieser Person annehmen – sie ist in dieser Ansicht ein Merkmal wie die Augenfarbe. Die Person ist nicht behindert, sondern sie wird durch ihre Umwelt behindert, die individuelle Unterschiede nicht berücksichtigt. Wenn ich als Rollstuhlnutzer vor einer Treppe oder einem defekten Aufzug stehe und nicht weiterkomme, dann werde ich nicht durch meine Mobilitätseinschränkung behindert, sondern durch die Barrieren in der Welt. Mein Rollstuhl ist ein Mittel, das mir Freiheit und einen gewissen Grad an Selbstbestimmung verschafft – auch er behindert mich nicht. Diese Sichtweise ist als «soziales Modell von Behinderung» bekannt – und die angesprochenen Barrieren sind nicht nur räumlich zu verstehen, sondern betreffen beispielsweise auch den Zugang zum Arbeitsmarkt. Es geht also auch um behindernde Strukturen, um Institutionen sowie soziale Perspektiven und Prozesse.
Es ist sehr wichtig festzuhalten, dass mit dem sozialen Modell von Behinderung individuelle Einschränkungen mit all den Schwierigkeiten und schmerzhaften Erfahrungen, die damit zusammenhängen, nicht weggewischt werden sollen. Aber nicht jede Einschränkung führt auch automatisch zu einer Behinderung.[2]
Und die Unterschiede zwischen dem medizinischen und dem sozialen Modell von Behinderung und ihre jeweiligen Wirkungen werden noch klarer, wenn wir uns den Bereich der Sprache anschauen.
Die Macht der Sprache
Ich werde – vor allem von nichtbehinderten Menschen – immer wieder gefragt, ob man denn überhaupt «behindert» sagen darf oder nicht.[3] Der (nichtbehinderte) Schauspieler Wotan Wilke Möhring hat anlässlich der «Inklusionskomödie» Weil wir Champions sind[4] ein Interview gegeben, in dem er sich dazu äußert. Er weigere sich, seine Schauspielkolleg*innen «behindert» zu nennen, denn das sei eine «intolerante und […] unzureichende Bezeichnung. Eine, die ausschließlich das hervorhebt, von dem wir glauben, was diese Menschen alles nicht können, wo sie eingeschränkt sind, be-hindert sind.»[5] Wotan Wilke Möhring wollte sich mit seiner Äußerung etwas ungeschickt vom medizinischen Modell abgrenzen – vielleicht gut gemeint, aber nicht weit genug gedacht. An diese Denkweise schließt nämlich ein Trend an, der «behindert» durch Wörter ersetzt, die netter und gefälliger klingen – beispielsweise «herausgefordert», «mit Handicap» oder «mit speziellen Bedürfnissen». Gefährlich ist das, weil damit die Bedeutungsebene verwässert wird, die durch das soziale Modell von Behinderung eröffnet wird. Es gibt nun einmal zahlreiche räumliche, kommunikative und strukturelle Barrieren, die behindern – und deshalb vertrete ich die Meinung, dass wir dies auch klar benennen sollten. Die Aktivistin Tanja Kollodzieyski formuliert sehr treffend dazu: «Der Begriff ‹Behinderung› hat durchaus sozialkritische Elemente. Daher halten ihn viele behinderte Menschen für neutral und akzeptabel. Menschen ohne Behinderung tun daher gut daran, sich an diesen Begriff als etwas Neutrales zu gewöhnen.»[6] Sprache schafft Bewusstsein und hat Auswirkungen auf Verhalten – das zeigt auch eine Studie aus den USA: Wer mit «has a disability» («hat eine Behinderung») beschrieben wird, erfährt weniger Diskriminierung als jemand dem «special needs» («spezielle Bedürfnisse») zugesprochen werden.[7] Vor dem Hintergrund des medizinischen Modells ist dieses Ergebnis wenig überraschend: Menschen mit «speziellen Bedürfnissen» weichen von der Norm ab – und das kann auch als paternalistische Rechtfertigung genutzt werden, um sie in Sonderräumen auszugrenzen.
Wie wirksam und verbreitet das medizinische Modell von Behinderung ist, zeigt der Blick auf den Begriff «Heilerziehungspflege», der bis heute eine Berufsbildbezeichnung ist. Auf der Webseite der Agentur für Arbeit findet man folgende Tätigkeitsbeschreibung: «Heilerziehungspfleger/innen sind für die pädagogische, lebenspraktische und pflegerische Unterstützung und Betreuung von Menschen mit Behinderung zuständig. Sie begleiten die zu Betreuenden stationär und ambulant bei der Bewältigung ihres Alltags.»[8] Die Ausbildung dauert je nach Bundesland zwei bis fünf Jahre, und mögliche Arbeitgeber*innen sind beispielsweise Behindertenheime, Förderschulen, Werkstätten für behinderte Menschen, aber auch Privathaushalte. Ich finde den Begriff der Heilerziehungspflege hoch problematisch.[9] Um zu erklären, warum, möchte ich das Wort in drei Bestandteile aufsplitten: «Heil-», «Erziehungs-» und «Pflege». Der erste Wortteil weckt sofort Assoziationen zum medizinischen Modell von Behinderung: Behinderte sind krank, also defizitär, und müssen geheilt werden. Ich als behinderter Mensch möchte aber nicht geheilt werden – ich kann auch gar nicht geheilt werden, weil aus meiner Perspektive die Behinderung von meiner Umwelt ausgeht. Der zweite Wortteil suggeriert, dass Menschen mit Behinderung erzogen werden müssen oder sollten. «Erziehung» bezeichnet die pädagogische Einflussnahme auf das Verhalten und die Entwicklung von Heranwachsenden. Der einzige Kontext, wo dieses Wort in Deutschland sonst noch benutzt wird, ist die Resozialisierung von Straffälligen im Gefängnis. Die Anwendung dieses Begriffes auf erwachsene Menschen mit Behinderung finde ich nicht nur unpassend, sondern bevormundend und paternalistisch. «Pflege» wird ansonsten in medizinischen Kontexten verwendet, in denen die Bedürfnisversorgung und medizinische Unterstützung im Vordergrund steht, nicht aber die Selbstbestimmung der zu Pflegenden. Entscheidend muss aber doch sein, dass Unterstützende den Wünschen der Unterstützten entsprechen, die – sofern ihnen das möglich ist – eine aktive und selbstbestimmte Rolle bei allen versorgenden Prozessen spielen. Es ist nicht so, dass es uns an sprachlichen Alternativen mangeln würde, die genau diese Perspektive widerspiegeln – ich würde beispielsweise «Inklusionsassistenz» vorschlagen.
Ich habe den Begriff «Heilerziehungspflege» schon in mehreren Kontexten kritisiert und dabei auch sehr negative Reaktionen von Menschen bekommen, die diesen Beruf ausüben. Viele haben eine starke intrinsische Motivation für diesen Job, weil er ihnen das Gefühl vermittelt, gebraucht zu werden. Wer scheinbar «hilflose» Menschen unterstützt, der fühlt sich gut dabei – und verdient Dankbarkeit, die für viele sicher auch deshalb so wichtig ist, weil andere Formen der Wertschätzung – wie etwa der finanzielle Aspekt – zu gering ausfallen. Ich möchte mit meiner Kritik die guten Absichten dieser...
Erscheint lt. Verlag | 14.3.2023 |
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Co-Autor | Martin Kulik |
Zusatzinfo | mit Abbildungen |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Ableismus • Aktivismus • Barrierefreiheit • Behinderung • Berlin • Debatte • Diskriminierung • Diversität • Erzählendes Sachbuch • Gesellschaftskritik • Glasknochen • Inklusion • Menschen mit Behinderung • Rassismus • Rollstuhl • Teilhabe |
ISBN-10 | 3-644-01466-3 / 3644014663 |
ISBN-13 | 978-3-644-01466-4 / 9783644014664 |
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Größe: 5,1 MB
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