1619 (eBook)
816 Seiten
Karl Blessing Verlag
978-3-641-29242-3 (ISBN)
In ihrem preisgekrönten publizistischen Projekt »1619« versammelt Herausgeberin Nikole Hannah-Jones Beiträge renommierter Autor:innen aus unterschiedlichsten Feldern, geschichtswissenschaftlich, soziologisch, dokumentarisch und poetisch, die eines gemeinsam haben: sie zeigen auf, wie grundlegend die Versklavung von Millionen verschleppter Menschen die USA prägte und wie dieses Erbe bis heute fortwirkt. Das Buch hat eine landesweite, inzwischen auch international geführte Debatte nicht nur über die Vergangenheit, sondern vor allem auch über die Gegenwart dieser Nation bewirkt.
Mein Vater hisste immer die amerikanische Flagge im Vorgarten. Der blaue Anstrich unseres zweigeschossigen Hauses mochte hin und wieder abblättern, der Zaun, das Treppengeländer oder die Eingangstür konnten manchmal etwas verwahrlost wirken, aber die Flagge wehte immer makellos. Unser Eckgrundstück, das die Regierung für nicht kreditwürdig befand, lag direkt an dem Fluss, der den Schwarzen Teil unserer Kleinstadt in Iowa vom weißen trennte. Am Rand unseres Rasens, hoch oben an einer Aluminiumstange, erhob sich die Flagge, die mein Vater jedes Mal durch eine neue ersetzte, sobald sie auch nur die kleinste Spur von Verschleiß zeigte.
Mein Vater kam als Kind von Sharecroppern auf einer weißen Plantage in Greenwood, Mississippi, zur Welt, einem Ort, wo Schwarze Menschen sich vom frühen Morgen- bis zum späten Abenddunkel nach der Baumwolle bückten, so wie es auch ihre versklavten Vorfahren vor gar nicht so langer Zeit getan hatten. In der Kindheit und Jugend meines Vaters war der Bundesstaat Mississippi ein Staat der Apartheid, der die dort ansässigen Schwarzen – fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung[1] – mit haarsträubenden Gewalttaten unterjochte. Die Weißen, die in Mississippi wohnten, haben eine größere Zahl Schwarzer Menschen gelyncht als in jedem anderen amerikanischen Bundesstaat[2], und die weiße Bevölkerung im Heimatbezirk meines Vaters hat noch einmal mehr Schwarze Ortsansässige gelyncht als in jedem anderen Bezirk von Mississippi, für »Verbrechen« wie die, dass sie ein Zimmer betraten, in dem weiße Frauen saßen, versehentlich ein weißes Mädchen anrempelten oder versuchten, der Sharecropper-Gewerkschaft beizutreten.[3] Wie alle Schwarzen in Greenwood durfte die Mutter meines Vaters nicht zur Wahl gehen, sie durfte die öffentliche Bibliothek nicht betreten und konnte keine andere Arbeit finden, als auf den Baumwollfeldern oder in den Häusern der Weißen zu schuften. In den 1940er-Jahren packte sie ihre wenigen Habseligkeiten und ihre drei kleinen Kinder zusammen und schloss sich dem Strom Schwarzer Südstaatler:innen an, die Richtung Norden flüchteten. In Waterloo, Iowa, stieg sie aus dem Zug der Illinois Central Railroad, sah ihre Hoffnungen auf das sagenumwobene verheißene Land aber gleich wieder zerstört, als sie erfuhr, dass die Jim-Crow-Gesetze an der Mason-Dixon-Linie nicht haltmachten.
Grandmama, wie wir sie nannten, bezog ein viktorianisches Haus in einem rein Schwarzen Viertel im Osten der Stadt und fand die Arbeit, die als Arbeit für Schwarze Frauen galt, ganz gleich, wo diese Schwarzen Frauen wohnten: Sie putzte in den Häusern von Weißen. Auch Dad tat sich schwer, in diesem Land Verheißung zu finden. 1962, mit 17 Jahren, verpflichtete er sich als Soldat. Wie viele junge Männer tat er das in der Hoffnung, damit der Armut zu entkommen. Aber er ging noch aus einem anderen Grund zum Militär, einem, der unter Schwarzen Männern sehr verbreitet ist: Dad hoffte, wenn er seinem Land diente, dann würde dieses Land auch ihn endlich wie einen Amerikaner behandeln.
Aber das Militär erwies sich nicht als Ausweg für ihn. Er wurde bei Beförderungen übergangen, in seinem Ehrgeiz gebremst. Schließlich sollte er unter undurchsichtigen Umständen entlassen werden und den Rest seines Lebens mit verschiedenen Stellen im Dienstleistungssektor verbringen. Wie alle Schwarzen Männer und Frauen in meiner Familie glaubte er an den Wert harter Arbeit, aber wie alle Schwarzen Männer und Frauen in meiner Familie konnte auch er so hart arbeiten, wie er wollte, er kam doch nicht voran.
Darum wollte mir die Flagge vor unserem Haus als Kind nicht einleuchten. Wie konnte dieser Schwarze Mann, der selbst erlebt hatte, wie sein Land Schwarze Menschen missbrauchte, wie es sich weigerte, uns als vollwertige Bürger:innen zu betrachten, so stolz seine Fahne hissen? Mein Vater hatte zu Hause und in der Schule rassistische Ausgrenzung erlebt, er war beruflich diskriminiert und von der Polizei schikaniert worden. Er gehörte zu den klügsten Menschen, die ich kannte, und doch bekam ich für meinen Studentinnenjob am College schon einen höheren Stundenlohn als er. Ich konnte seinen Patriotismus einfach nicht begreifen. Ich schämte mich entsetzlich dafür.
In der Schule hatte ich über eine Art kultureller Osmose gelernt, dass diese Flagge eigentlich gar nicht unsere war, dass unsere Geschichte als Bevölkerungsgruppe mit Versklavung begonnen und wir nur wenig zu dieser großen Nation beigetragen hatten. Offenbar konnten wir als Schwarze Amerikaner:innen so etwas wie kulturellen Stolz allenfalls in unserer schwammigen Verbindung zu Afrika finden, wo wir noch nie gewesen waren. Dass mein Vater es so sehr als Auszeichnung empfand, Amerikaner zu sein, kam mir vor wie ein Zeichen seiner Erniedrigung, ein Beleg, dass er unsere untergeordnete Stellung akzeptierte.
Wie die meisten jungen Menschen glaubte ich, so viel zu begreifen, dabei begriff ich im Grunde so wenig. Mein Vater wusste genau, was er tat, als er die Flagge hisste. Er wusste, dass die Beiträge, die wir als Bevölkerungsgruppe zur Erschaffung des reichsten und mächtigsten Landes der Welt geleistet hatten, nicht auszulöschen waren, dass die USA ohne uns schlichtweg nicht existieren würden.
Im August 1619, nur zwölf Jahre nachdem Menschen aus England die Siedlung Jamestown in Virginia gegründet hatten, ein Jahr bevor die Puritaner in Plymouth anlandeten und etwa 157 Jahre bevor die englischen Kolonisten beschlossen, ihr eigenes Land zu gründen, kauften die Siedler von Jamestown einer Gruppe englischer Piraten zwanzig bis dreißig versklavte Menschen aus Afrika ab.[4] Die Piraten hatten diese Menschen von einem portugiesischen Sklavenschiff geraubt, dessen Besatzung sie zuvor gewaltsam aus dem Land geholt hatte, das heute Angola heißt. Die Männer und Frauen, die an jenem Tag im August an Land kamen, stehen für den Beginn der Versklavung in den dreizehn Kolonien, aus denen einmal die Vereinigten Staaten von Amerika werden sollten. Sie gehörten zu den zwölfeinhalb Millionen Afrikaner:innen, die aus ihrem Zuhause entführt und in Ketten gelegt über den Atlantik gebracht wurden, im Rahmen der größten Zwangsmigration der Menschheitsgeschichte bis zum Zweiten Weltkrieg.[5] Fast zwei Millionen von ihnen überlebten diese zermürbende, als »Middle Passage« bezeichnete Reise nicht.[6]
Bis zur Abschaffung des internationalen Menschenhandels sollten über vierhunderttausend der zwölf Millionen versklavten Afrikaner:innen, die auf den amerikanischen Kontinent verbracht wurden, in unser Land verkauft werden.[7] All diese Personen und ihre Nachkommen machten die nordamerikanischen Kolonien zu den erfolgreichsten des ganzen British Empire. In härtester Knochenarbeit erschlossen sie Land im ganzen Südosten. Sie brachten den Siedlern bei, Reis anzubauen und sich gegen die Pocken zu immunisieren.[8] Nach der Amerikanischen Revolution pflanzten und ernteten sie die Baumwolle, die auf dem Höhepunkt der Versklavung zum wichtigsten Exportartikel des Landes werden sollte, die Hälfte der ins Ausland verkauften amerikanischen Waren ausmachte und mehr als zwei Drittel des Weltbedarfs deckte.[9] Sie waren am Bau der Zwangsarbeitslager, auch Plantagen genannt, von George Washington, Thomas Jefferson und James Madison beteiligt, weitläufige Anwesen, die heute viele Zehntausend, von der Geschichte der größten Demokratie weltweit faszinierte Besucher:innen von überall anlocken.[10] Sie legten das Fundament des Weißen Hauses und des Kapitols, gossen mit ihren unfreien Händen sogar die Statue of Freedom auf der Spitze seiner Kuppel.[11] Sie schleppten die schweren Holzschwellen für die Bahngleise, die sich kreuz und quer durch den Süden zogen und die Baumwolle, die von den versklavten Arbeitenden gepflückt worden war, zu den Textilfabriken im Norden transportierten und so die industrielle Revolution im Land befeuerten. Sie häuften für die Weißen im Norden wie im Süden gewaltige Vermögen an – zwischenzeitlich war der zweitreichste Mann im ganzen Land ein »Sklavenhändler« aus Rhode Island.[12] Die Profite aus der den Schwarzen abgerungenen Arbeit halfen der jungen Nation, ihre Kriegsschulden abzubezahlen und einige unserer prestigereichsten Universitäten zu finanzieren. Ihre erbarmungslos gekauften, verkauften, versicherten und vorfinanzierten Körper und die Produkte ihrer Zwangsarbeit sollten auch die Wall Street zum florierenden Standort für Banken, Versicherungen und Börsenhandel machen und New York zur weltweiten Finanzhauptstadt.[13]
Aber es wäre historisch nicht korrekt, den Beitrag Schwarzer Menschen auf den großen materiellen Reichtum zu reduzieren, der aus ihrer Knechtschaft entstanden ist. Schwarze Amerikaner:innen waren außerdem fundamental für das amerikanische Freiheitskonzept und sind es bis heute. Mehr als jede andere Bevölkerungsgruppe in der Geschichte des Landes hatten wir über Generationen hinweg eine vielfach übersehene, aber entscheidende Rolle inne: Wir waren es, die diese Demokratie perfektioniert haben.
Als Nation gründen die Vereinigten Staaten ebenso auf einem Ideal wie auf einer Lüge. Unsere Unabhängigkeitserklärung, die am 4. Juli 1776 verabschiedet wurde, verkündet, dass »alle Menschen gleich geschaffen« und »von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet« seien. Aber die weißen Männer, die diese Sätze formulierten, hielten sie in Bezug auf die...
Erscheint lt. Verlag | 30.11.2022 |
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Sprache | deutsch |
Original-Titel | The 1619 Project - A New Origin Story |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2022 • Amerika • Black History • Black lives matter • Demokratie • Diversity • eBooks • Geschichte • Neuerscheinung • New-York-Times-Bestseller • Rassismus • Schwarze Geschichte • Selbstermächtigung • Sklaverei • Soziologie |
ISBN-10 | 3-641-29242-5 / 3641292425 |
ISBN-13 | 978-3-641-29242-3 / 9783641292423 |
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Größe: 16,4 MB
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