Uprising (eBook)
320 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11852-0 (ISBN)
Lukas Hermsmeier, geboren 1988 in Berlin, lebt seit 2014 in New York und arbeitet dort als Journalist und Autor. Er schreibt unter anderem für Zeit Online, den Tagesspiegel und die taz über amerikanische Politik und Kultur. Für die New York Times und The Nation kommentiert er außerdem deutsche Politik.
Lukas Hermsmeier, geboren 1988 in Berlin, lebt seit 2014 in New York und arbeitet dort als Journalist und Autor. Er schreibt unter anderem für Zeit Online, den Tagesspiegel und die taz über amerikanische Politik und Kultur. Für die New York Times und The Nation kommentiert er außerdem deutsche Politik.
Einleitung
Für einen Moment schien die Polizei fast bedeutungslos, zurückgelassen, überflügelt. Mehrere Hundert Menschen hatten sich den Weg von der Flatbush Avenue auf die Manhattan Bridge gebahnt, vorbei an Beamt*innen mit gezückten Schlagstöcken und Handfesseln aus Plastik. Manche Protestler*innen jaulten vor Freude, andere rannten und hüpften auf den ersten Metern, irgendwo musste die Energie hin. »Black Lives Matter« und »Defund the Police« las man auf den Plakaten, wobei die Slogans eine halbe Stunde nach Beginn der Ausgangssperre zweitrangig waren. Die Brücke war jetzt ihre, eine kurze Demonstration kollektiver Macht.
Die Autofahrer*innen hupten, aber nicht, weil sie auf unabsehbare Zeit stillgelegt waren, sondern aus Solidarität. Ein Auto nach dem nächsten, spontaner Überschwang. In Erinnerung ist mir vor allem ein Fahrer geblieben, den wir nach rund zwei Minuten passierten. Der Mann, ein vielleicht Anfang 20-jähriger Afroamerikaner mit Beanie und hellblauer Schutzmaske, hatte den Motor ausgestellt und sich aufgerichtet, sodass sein Oberkörper aus dem Dach seines schwarzen Kleinwagens ragte. Er streckte die rechte Faust Richtung Himmel, ganz still, mit ernstem Blick, nahezu stoisch. Ich weiß nicht, woher er kam, wohin er wollte, was er dachte, aber er machte den Eindruck, als käme ihm die Unterbrechung gerade recht. Wirklich planbar waren die Abende im Juni 2020 sowieso nicht mehr.
Eine Woche war seit dem Mord an George Floyd durch einen weißen Polizisten vergangen, eine Woche Ausnahmezustand. Erst hatten die Menschen in Floyds Stadt Minneapolis die Straßen in Beschlag genommen, schnell sprangen die Demonstrationen und Ausschreitungen aufs ganze Land über. Bis zu 26 Millionen Amerikaner*innen beteiligten sich an den Protesten, die gegen Rassismus und Polizeigewalt gerichtet waren, aber auch ganz grundsätzlich gegen einen Staat, der seine Bürger*innen systematisch verkümmern lässt. Nachdem die pandemischen Städte monatelang wie betäubt wirkten, waren die Straßen plötzlich wieder voll. Statuen wurden gekippt, Plätze besetzt, neue Bündnisse geformt. Das öffentliche Leben wurde reaktiviert, anders zwar, weil das Virus ja weiter in der Luft lag, aber gerade deshalb mit einem verstärkten Gefühl für die Gemeinschaft. Die Protestler*innen marschierten mit bedeckten Gesichtern, reichten sich gegenseitig Desinfektionsmittel. Am Straßenrand wurden selbst genähte Masken, Getränke und Essen verteilt. Den Leuten, die die Straßen, Brücken und Autobahnen einnahmen, ging es nicht nur um Krisenbewältigung und die Negierung des Status quo, sondern auch darum, neue politische Ansprüche zu formulieren.
»Care Not Cops« war ein oft gehörter Ruf dieser Wochen, Fürsorge statt Polizei – gleichermaßen eine Forderung und Inkraftsetzung. Die Gesellschaft könnte umsichtiger organisiert sein, wenn die Menschen die Möglichkeit dazu bekämen. Berührend waren deshalb auch die kleinen Momente am Rand. Eine uralte Frau in Spanish Harlem, die sich aus ihrem Fenster im sechsten Stock lehnte und auf einen Kochtopf trommelte. Eine Ärztin vor dem Brooklyn Hospital Center, die dem vorbeiziehenden Marsch applaudierte und von einem Protestler im Gegenzug eine Rose in die Hand gedrückt bekam. Kinder, die strahlten und tanzten, weil endlich wieder etwas los war. »Ein Aufstand kann die Toten nicht zum Leben erwecken, aber er kann die toten Räume der Städte reanimieren, die Straßen beleben – ›Our Streets!‹, heißt es im Sprechchor, ein städtisch-anarchisches Klischee, das im Moment Sinn ergibt, weil die Straßen anders genutzt werden«, hielt die Künstlerin und Autorin Hannah Black später fest.[1]
Was machte diese Protestbewegung, von der New York Times als die »größte in der Geschichte des Landes« eingeordnet, so besonders? Sicherlich die Intensität und Vehemenz, zweifellos die schiere Masse von Menschen aus allen demografischen Gruppen. Trump und Corona – das Land war schon vorher an seine Grenzen gelangt und darüber hinaus.
Besonders war der Frühsommer 2020 aber auch, weil man für ein paar Wochen nicht wusste, wie es weitergehen, welche Richtung das alles nehmen würde. Tagsüber fanden gigantische Märsche statt, oft parallel, sodass sie sich irgendwann kreuzten und zu maßlosen Massen wuchsen. Nachts explodierten die Unruhen, unberechenbar und roh, wie hätte es anders sein können in dieser Lage. Und morgens stand man auf und fragte sich nicht, ob etwas an diesem Tag passieren würde, das war ja klar, sondern wohin es führt.
Über einen Telegram-Kanal mit dem Namen »NYC George Floyd Announcements«, in dem Aktivist*innen mitschrieben, was über den Polizeifunk lief, konnte man die Unkontrollierbarkeit live verfolgen. Im Minutentakt wurde dort deutlich, wie die Beamt*innen versuchten, bezüglich der Protest-Standorte, Teilnehmerzahlen und außerordentlichen Vorfälle hinterherzukommen.
»Es gibt eine weitere Gruppe am
Grand Army Plaza, ich bin mir nicht
sicher, vielleicht sind es dieselben?
Nochmal 8000.«
»Rund 1500 Leute
auf der Canal Street
Richtung Osten.«
»3000 Menschen an der 7th Ave,
unklar wohin.«
»Ausgangssperre jetzt.
Lasst uns ein paar
Leute schnappen.«
Das Aufeinandertreffen von Polizei und Protest war oft brutal und niederschmetternd, der ganze Sommer von so viel Tod, Leid und Gewalt geprägt, dass sich die Idee einer daraus schälenden Utopie absurd anhören mag. Doch gleichzeitig gab es eben immer wieder diese Momente beispielloser Solidarität und unvermittelter Freiheit, – »Magic Actions«, wie es der Autor Tobi Haslett in einem Essay nannte. »Es hat sich etwas in Amerika gewandelt; es pulsiert etwas unter dem Panzer der Parteipolitik«, schrieb Haslett. »Die Rebellion hat nicht nur zu einer Eruption der Wut geführt, sondern den Aufruhr ohne Abbitte in den Rhythmus des politischen Lebens eingebaut.«[2]
Das Revolutionäre lag in der Ungewissheit und Offenheit, darin, dass plötzlich fast alles auf dem Spiel zu stehen schien und deshalb so vieles möglich. Spricht dieser Eindruck für das Privileg des Bessergestellten? Kann man die Unordnung nur genießen, wenn man die Ordnung hinter sich weiß? Nun, es waren ja gerade die Nicht-Privilegierten, die die Rebellion anführten, junge Schwarze Menschen, viele von ihnen arbeitslos oder prekär beschäftigt, entrechtet und hungrig, Menschen, die immer weniger zu verlieren hatten. Sie gaben den Rhythmus vor, keine Politiker, Autorinnen oder NGOs. Sie setzten ein Lebenszeichen gegen die allgegenwärtige Morbidität.
»Der Mut war größer, als ich es mir je hätte vorstellen können«, sagte mir Robin Wonsley, eine junge Schwarze Frau aus Minneapolis, die vom ersten Tag der Revolte an dabei war. Die Momente auf der Straße seien »frei von Angst« gewesen, so Wonsley. »Wir hatten das Gefühl, dass wir die ganze Stadt erobern.«
Uprising
Zugegeben, es gibt einige gute Gründe, sich von den Vereinigten Staaten abzuwenden. Kein anderes Land hat sich in dieser Welt so breit gemacht, im übertragenen, aber auch im wahrsten Sinne des Wortes, als Resultat von Jahrhunderten der Machtausdehnung. Der Amerikanische Exzeptionalismus, diese unnachgiebige Beschwörung der Einzigartigkeit, hat im 21. Jahrhundert nicht nachgelassen. Manchmal wirkt es sogar so, als würde er zunehmen, je dysfunktionaler das Land wird. Während zahlreiche Kommentare im Sommer 2020 zu dem Urteil kamen, dass die USA ein »failed state« seien, ein gescheiterter Staat also, der seine Funktionen und Verantwortungen gegenüber der Bevölkerung nicht mehr erfüllen kann, bestand Donald Trump wie im Wahn auf Amerikas unbändiger Stärke.
Gerade aus der Ferne betrachtet, konnte man in den vergangenen Jahren den Eindruck bekommen, dass das Land nur nach rechts gerückt ist. Trump bestimmte die Schlagzeilen, viele der Entwicklungen und Ereignisse wirken wie eine Warnung, dass noch Düstereres bevorsteht: vom Aufstieg der Verschwörungsideologie QAnon über den Sturm auf das Kapitol bis zu den neuen Abtreibungsverboten, die Liste ließe sich lange weiterführen.
In den USA hat allerdings noch ein anderer Wandel stattgefunden, eine gesellschaftliche Verschiebung, von der...
Erscheint lt. Verlag | 19.2.2022 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Alexandra Ocasio-Cortez • Amerika • amerikanische Politik • Bernie Sanders • Black lives matter • Donald J. Trump • Internationale Linke • Joe Biden • Klimapolitik • Linke Politik • Revolution |
ISBN-10 | 3-608-11852-7 / 3608118527 |
ISBN-13 | 978-3-608-11852-0 / 9783608118520 |
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