Herrschaft und Handlungsfähigkeit (eBook)
424 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45099-5 (ISBN)
Isabell Mader, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Osnabrück und der Universität Braunschweig. https://orcid.org/0009-0001-1392-0899
Isabell Mader, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Osnabrück und der Universität Braunschweig. https://orcid.org/0009-0001-1392-0899
1.Einleitung
Bereits Max Horkheimer beschäftigte ein mit der Entfaltung des kapitalistischen Produktionssystems zusammenhängender Wandel im Charakter von Freiheit. Seine Beobachtungen resonieren auf verblüffende Weise mit gegenwärtig diagnostizierten Veränderungen: »Es kann scheinen, als ob der gegenwärtige Mensch eine weit freiere Möglichkeit zur Wahl habe als seine Väter, und er hat sie tatsächlich in einem gewissen Sinn. Seine Freiheit hat entschieden zugenommen mit der Zunahme der produktiven Möglichkeiten. Quantitativ gesprochen, hat ein moderner Arbeiter eine viel reichhaltigere Auswahl von Konsumgütern als ein Adliger des Ancien régime. Das Gewicht dieser historischen Entwicklung darf nicht unterschätzt werden; aber ehe wir die Vermehrung des zur Auswahl Stehenden als ein Anwachsen der Freiheit interpretieren, wie dies vonseiten der Enthusiasten der Fließbandproduktion geschieht, müssen wir den von diesem Anwachsen unablösbaren Druck bedenken und die Qualitätsveränderung, die mit dieser neuen Art von Auswahl einhergeht. Der Druck besteht in dem fortgesetzten Zwang, den die modernen gesellschaftlichen Verhältnisse jedermann auferlegen […]. Jedoch hat der Zuwachs an Freiheit einen Wechsel im Charakter der Freiheit bewirkt.« (Horkheimer [1947] 1991, S. 109 f.) Horkheimer konstatiert einen in sich widersprüchlichen Wandel von Freiheit: mit der Zunahmen von Handlungsmöglichkeiten in Folge des gewachsenen materiellen Reichtums verstärken sich auch die normativen und ökonomischen Zwänge, die Bedingung dieser Reichtumsproduktion sind. Der gesellschaftliche Anpassungsdruck durchdringt immer mehr Lebensbereiche und nimmt einen zunehmend selbstzweckhaften Charakter an. Dies führt Horkheimer zufolge zum Ersticken von Spontaneität und zu Sinnverlust.
Auch in jüngerer Zeit wird in den Sozialwissenschaften wieder ein widersprüchlicher oder paradoxer Entwicklungsschub im Charakter von Freiheit diskutiert (vgl. u.a. Beck 1998a, Honneth 2002a, Boltanski und Chiapello 2006, Stadlinger und Sauer 2010). Während Horkheimer und zeitgenössische Autoren wie Erich Fromm ([1941] 1990) oder David Riesman ([1950] 1958) im Zeitalter der aufkommenden Massenproduktion und des Massenkonsums jedoch vor allem die individuelle Spontaneität und Selbstbestimmung durch repressive Strukturen und Konformismus bedroht sahen, wird der mit dem neuen »flexiblen Kapitalismus« (Sennett 2000) einhergehende Wandel im Charakter von Freiheit anders beschrieben. Den lohnabhängig Beschäftigten werden heute in vielen Hinsichten größere Freiheiten innerhalb wie außerhalb ihrer Arbeit zugestanden als den Arbeitenden einer und zwei Generationen vor ihnen. Die partielle Erosion von Autoritarismus und direkter Kontrolle am Arbeitsplatz, des Diktats der Stechuhr und bürokratischer Regulierung sowie der Bedeutungsverlust detailliert vorgezeichneter Berufs- und Lebensverläufe können geradezu als Befreiung aus dem zuvor kritisierten »fordistisch-tayloristischen Kommandosystem« (Sauer 2011, S. 364 f.) der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstanden werden. Spontaneität und Selbstbestimmungsfähigkeit der Arbeiterinnen scheinen dabei nicht mehr unterdrückt, sondern vielmehr von den Unternehmen gefördert und gefordert zu werden. Aber auch diese neuen Freiheiten haben eine Kehrseite. Die zuvor unterdrückten subjektiven Fähigkeiten werden heute immer mehr zur strukturellen Voraussetzung für eine erfolgreiche Partizipation am System der Erwerbsarbeit (Honneth 2002b). Mit den neuen Freiheiten steigen Leistungsdruck und existentielle Unsicherheit. Überforderung, Stress und psychische Erschöpfung sind die mittlerweile breit diskutierten Folgen (Neckel und Wagner 2013).
Die vorliegende zweibändige Arbeit möchte diesem jüngsten Entwicklungsschub im Charakter von Freiheit im Bereich der Lohnarbeit nachspüren, indem sie ihn aus einer dezidiert herrschaftskritischen Perspektive interpretiert. Eine Grundthese dabei ist, dass neuartige Zwänge und damit zusammenhängende subjektive Leiderfahrungen nicht einfach einem »Mehr an Freiheit« (Beck 1998b, S. 12) entspringen, sondern einem Formwandel von Herrschaft. Zur Entfaltung dieser These wird das Verhältnis von Herrschaft und Selbstbestimmung in der Lohnarbeit einer Re-Evaluation unterzogen, und zwar sowohl in grundlegend sozialtheoretischer als auch in gegenstandsbezogen-zeitdiagnostischer Perspektive. Im vorliegenden ersten Band werden hierzu zunächst Elemente einer kritischen Sozialtheorie von Herrschaft und Handlungsfähigkeit entwickelt, welche dann im zweiten Band die Grundlage der sekundäranalytischen Rekonstruktion von betrieblichen Macht- und Herrschaftsordnungen bilden. Der vorliegende Band lässt sich damit einerseits als eigenständiger Beitrag zu einer kritischen Sozialtheorie lesen und bildet andererseits den theoretischen Rahmen für die im zweiten Band durchgeführte Meta-Analyse arbeitssoziologischer Empirie.
1.1Das theoretisch-empirische Doppelproblem der Selbstbeherrschungs-Diagnose
Für eine herrschaftstheoretische Einschätzung gegenwärtiger Entwicklungen von zentraler Bedeutung ist die paradoxe Diagnose einer zunehmenden Selbstbeherrschung der Arbeitenden. Sie fungiert in gewisser Weise als Leitparadigma im Nachdenken über zeitgenössische Herrschaftsformen in der Erwerbsarbeit. Zugleich führt sie die enge Verschränkung von theoretischer und empirischer Problematik vor Augen, mit der sich eine Re-Aktualisierung kritischer Herrschaftsanalyse heute auseinandersetzen muss. Sie bietet sich daher als Ausgangspunkt zur Entwicklung der Problemstellung dieser Arbeit an.
Bereits die klassisch gewordenen Theoreme des »Arbeitskraftunternehmers« (Voß und Pongratz 1998; Pongratz und Voß 2004) und des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007) prognostizieren einen »Umschlag von betrieblicher Fremdherrschaft in Selbstbeherrschung der Arbeitenden« (Pongratz und Voß 2004, S. 25) bzw. ein unsichtbar Werden von Herrschaft »im Postulat der Selbstbeherrschung« (Bröckling 2007, S. 247). Ähnlich paradox klingende Bestandsaufnahmen finden sich bei vielen weiteren Autorinnen, die sich mit dem Wandel von Herrschaft in der Erwerbsarbeit beschäftigen. Manfred Moldaschl etwa hat den Ausdruck »Herrschaft durch Autonomie« (2001) geprägt, die Rede ist aber auch von »freiwillige[r] Selbstausbeutung« der Arbeitenden (Moosbrugger 2008) oder von »mehr Druck durch mehr Freiheit« (Glißmann und Peters 2001). Auch über den Bereich der Erwerbsarbeit hinausgehende Gesellschaftsdiagnosen sprechen von einer allgemein »paradoxen Situation der Selbstherrschaft« (Lau und Maurer 2010, S. 12) in (spät-) modernen Gesellschaften.
Die genannten Diagnosen sind von der Absicht geleitet, die teils heterogenen empirischen Veränderungen in der Arbeitswelt der letzten Dekaden auf einen bündigen Begriff zu bringen. Dieser soll verdeutlichen, dass wir es nicht lediglich mit inkrementellen Veränderungen, sondern mit einem tiefgreifenden qualitativen Wandel zu tun haben: In Veränderung begriffen ist nicht nur die Art und Weise, in der Arbeit in kapitalistischen Betrieben organisiert und kontrolliert wird, sondern auch der grundlegende Charakter sowohl von Herrschaft als auch von individueller Freiheit. In ihrer Überspitzung zeigt die Diagnose der Selbstbeherrschung dabei zugleich auf, dass die Begrifflichkeiten und Deutungsmuster zur Erfassung der sozialen Realität tayloristischer und fordistischer Produktionsregime des 19. und 20. Jahrhunderts heute nicht mehr ohne weiteres greifen, da sie der Komplexität und Widersprüchlichkeit der spätkapitalistischen Verhältnisse nicht gerecht werden. Dies betrifft insbesondere die Gegenüberstellung von Herrschaft und Selbstbestimmung: die Vorstellung also, dass Herrschaft in kapitalistischen Betrieben ihrem Wesen nach den Freiheitsspielräumen und -bestrebungen der Lohnarbeiterinnen entgegensteht. Herrschaft und Selbstbestimmung bilden im klassischen Verständnis nicht nur einen Gegensatz, sondern auch ein Nullsummenspiel: Die eine Seite kann nur auf Kosten der anderen zunehmen (so etwa bei Braverman [1974] 1998, S. 39).
Die Diagnose der Selbstbeherrschung indessen geht nicht einfach von einer freiwilligen Unterordnung unter unverändert bestehende Herrschaft aus (das wäre lediglich vorauseilender Gehorsam), sondern konstatiert die gleichzeitige Zunahme individueller Selbstbestimmung und Verinnerlichung von (vormals äußerlich wirkender) Herrschaft. Kreatives, eigenverantwortliches und selbstorganisiertes Arbeiten, so die Ausgangsbeobachtung, sind heute zu einer für betriebliche Arbeitsregime funktional notwendigen Anforderung geworden. Sich äußerer Herrschaft unterwerfen und autonom handeln scheinen hier aber keine Gegensätze mehr zu sein, sondern sich gegenseitig ...
Erscheint lt. Verlag | 9.2.2022 |
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Reihe/Serie | International Labour Studies | International Labour Studies |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Allgemeine Soziologie |
Schlagworte | Arbeitssoziologie • Entfremdung • Gesellschaftstheorie • Herrschaftsunterworfene • Kritische Psychologie • Kritische Theorie • Macht • Sozialphilosophie • Sozialtheoretische Grundlagen • Soziologie • Ungleichheitsforschung |
ISBN-10 | 3-593-45099-2 / 3593450992 |
ISBN-13 | 978-3-593-45099-5 / 9783593450995 |
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