Geographie ist Schicksal (eBook)
656 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45043-8 (ISBN)
Ian Morris, in Großbritannien geboren, ist Willard-Professor für Klassische Philologie und Professor für Geschichte an der Stanford University und Mitglied des zugehörigen Archaeology Centre. Als Autor zahlreicher Bücher und preisgekrönter Veröffentlichungen tritt er häufig als Studiogast im amerikanischen Fernsehen auf. Von 2000 bis 2006 leitete er Ausgrabungen auf dem Monte Polizzo, Sizilien, eines der größten archäologischen Projekte im westlichen Mittelmeerraum. Im Jahr 2011 ist sein Bestseller »Wer regiert die Welt?« bei Campus erschienen.
Ian Morris, in Großbritannien geboren, ist Willard-Professor für Klassische Philologie und Professor für Geschichte an der Stanford University und Mitglied des zugehörigen Archaeology Centre. Als Autor zahlreicher Bücher und preisgekrönter Veröffentlichungen tritt er häufig als Studiogast im amerikanischen Fernsehen auf. Von 2000 bis 2006 leitete er Ausgrabungen auf dem Monte Polizzo, Sizilien, eines der größten archäologischen Projekte im westlichen Mittelmeerraum. Im Jahr 2011 ist sein Bestseller »Wer regiert die Welt?« bei Campus erschienen.
Kapitel 1
Thatchers Gesetz: 6000 – 4000 v. Chr.
Das Dilemma
»Wir sind untrennbar mit Europa verbunden«, erklärte Margaret Thatcher den Briten im Jahr 1975. »Weder Mr. Foot noch Mr. Benn« – dies waren zu jener Zeit die wichtigsten Befürworter einer Trennung von Europa – »noch sonst irgendjemand wird es schaffen, uns ›aus Europa herauszuführen‹, denn wir gehören zu Europa und haben immer dazugehört.«1
Angesichts der Tatsache, dass sich Thatcher später den Ruf erwarb, die Erzfeindin der europäischen Integration zu sein, mag diese Aussage überraschen, und einige Historiker fragen sich, ob das tatsächlich Thatchers Überzeugung war. Sie hatte gerade die Führung einer Konservativen Partei übernommen, deren größter Erfolg in der jüngeren Vergangenheit war, dass sie Großbritannien in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft geführt hatte, und als eine Labour-Regierung diesen Schritt einem Referendum unterzog, war es zweifellos eine Frage der Ehre, dass sie ihn verteidigte. Doch welche Zweifel Thatcher auch immer hegen mochte (dazu mehr in Kapitel 9), ihr Rat an die Nation am Vorabend des ersten Brexit-Referendums beschrieb die grundlegenden Fakten der britischen Position vollkommen klar. Ihre These – Großbritannien ist untrennbar mit Europa verbunden und kann unmöglich herausgerissen werden, denn Europa ist der Ort, an dem es sich immer befinden wird – ist so überzeugend, dass ich sie als »Thatcher’s Law, Thatchers Gesetz, bezeichnen werde.
Wie bei allen wissenschaftlichen Gesetzen gibt es auch bei dem von Thatcher Ausnahmen. Tatsächlich ist Großbritannien nicht »immer ein Teil Europas gewesen«, was einfach daran liegt, dass es nicht immer ein Europa gab, dessen Teil es hätte sein können. Unser Planet existiert seit 4,6 Milliarden Jahren, aber die Landmasse, die wir als Europa bezeichnen, entstand erst vor etwa 200 Millionen Jahren durch die Verschiebung der Kontinentalplatten. Sieht man von dieser Einschränkung ab, so sind die britischen Inseln jedoch während 99 Prozent dieser Zeit Jahre buchstäblich Teil Europas gewesen, denn 198 Millionen Jahre lang waren sie überhaupt keine Inseln, sondern lagen am Westrand einer weitläufigen Ebene, welche sich von Russland bis zur Atlantikküste erstreckte, die etwa 150 Kilometer westlich des modernen Galway in Irland verlief (Abbildung 1.1). In Ermangelung einer besseren Bezeichnung werde ich diese riesige Erweiterung des Kontinents als »Proto-Britannien« bezeichnen.
Abbildung 1.1. Die Expansion Europas: Küsten und Gletscher in der kältesten Phase der letzten Eiszeit vor etwa 20 000 Jahren.
Während der Eiszeiten, die den Großteil der letzten 2,5 Millionen Jahre andauerten, zogen die Gletscher derart viel Wasser aus den Ozeanen, dass das, was wir heute als Nordsee und Ostatlantik kennen, im Wesentlichen über dem Meeresniveau lag. Zum kältesten Zeitpunkt vor 20 000 Jahren waren die Temperaturen im Durchschnitt 6 Grad niedriger als heute. Eine bis zu drei Kilometer dicke Eisschicht bedeckte einen Großteil der Nordhalbkugel und band 120 Quadrillionen Tonnen Wasser, was zur Folge hatte, dass der Meeresspiegel 100 Meter tiefer lag als heute.
Auf den Gletschern, unter den jenes Land begraben lag, das sich eines Tages in Schottland, Irland, Wales und das nördliche England verwandeln sollte, konnte auf dem Höhepunkt der Eiszeit kein Leben existieren, und die Tundra, die sich 150 oder mehr Kilometer im Süden erstreckte, war nicht viel lebensfreundlicher. Zu manchen Zeiten band das Eis derart viel Feuchtigkeit, dass kaum ein Fünftel des Regens fiel, der in der Gegenwart gemessen wird. Die Luft enthielt die 10- bis 20-fache Menge an Staub. Diese Trockenheit trug noch mehr als die Kälte dazu bei, dass in Proto-Britannien nur sehr wenige Pflanzen gedeihen konnten, weshalb es auch sehr wenige Tierarten gab, die sich davon ernähren konnten – und keine Menschen, die von irgendetwas hätten leben können.
Die ersten menschenähnlichen Affen (die Anthropologen werden sich nie darüber einig, wie sie den »Menschen« definieren sollen) entwickelten sich vor etwa 2,5 Millionen Jahren in den ostafrikanischen Savannen. Ihr Auftauchen beschwor rasch das ursprüngliche geostrategische Ungleichgewicht herauf. Das Muster, das uns in diesem Buch ein ums andere Mal begegnen wird – an einem Ort entsteht ein Ungleichgewicht, das im Verlauf seiner Ausbreitung im Raum ausbalanciert wird –, ist also so alt wie die Menschheit selbst. In diesem Fall nahm der Ausgleich einige hunderttausend Jahre in Anspruch; so lange brauchten die Hominini, um in die bis dahin nicht besiedelten Teile Afrikas vorzudringen. Doch ein weiteres Muster, dem wir ebenfalls immer wieder begegnen werden, ist jenes, in dem neue Ungleichgewichte entstanden, sobald die vorhergehenden ausbalanciert worden waren, denn es entwickelten sich immer neue Arten von Hominini, sei es in ihrem ursprünglichen Lebensraum in Ostafrika oder durch die Vermischung der Urmenschen, die sich in Asien und Europa verbreiteten. Vor 1,5 Millionen Jahren waren Menschen, die komplizierte Formen der Kommunikation beherrschten – obwohl dies keine Sprache im eigentlichen Sinn war – bis nach Indonesien, China und auf den Balkan vorgedrungen. In Europa konnten sie sich nur in wärmeren, feuchteren Phasen der Eiszeiten weiter ausbreiten, aber in einer dieser Phasen vor fast einer Million Jahren wanderten die Urmenschen nach Proto-Britannien ein.
Den Beleg für diese Migrationsbewegungen liefert ein Gewirr von Fußabdrücken im Schlamm eines Flussufers in Happisburgh (das »Häisbruh« ausgesprochen wird, weil wir es mit England zu tun haben) in Norfolk (Abbildung 1.2). Nachdem der Schlamm von Treibsand begraben worden war, verhärtete er sich und konservierte die Spuren bis zum Jahr 2013, als Unwetter das Erdreich, das sie all die Zeit bedeckt hatte, wegspülten. Innerhalb von zwei Wochen löschte das Wasser auch diese Fußabdrücke aus, aber in dieser Zeit gelang es den Archäologen, sämtliche Details festzuhalten (Abbildung 1.3) – womit sie sich die Auszeichnung für die »Rettungsausgrabung des Jahres« der Zeitschrift Current Archaeology verdienten.
Abbildung 1.2. Die britische Bühne zwischen 1 000 000 und 4000 v. Chr. (auf einer Karte, die den heutigen Küstenverlauf zeigt).
Es ist unmöglich, einen Fußabdruck zu datieren, aber es gibt zwei Techniken, mit denen man den Schlamm, in dem diese Füße einst versanken, zeitlich einordnen kann. Eine annähernde Bestimmung ermöglichen magnetisierte Partikel im Schlamm, denn alle 450 000 Jahre findet eine Umkehr der magnetischen Pole statt. Als sich der Schlamm in Happisburgh ablagerte, hätte eine Kompassnadel in die Richtung des heutigen Südpols gezeigt, was darauf hindeutet, dass der Schlamm fast eine Million Jahre alt ist. Eine zweite Technik ermöglicht uns eine noch genauere Bestimmung: Fossilien (vor allem Zähne von Wühlmäusen) im Sediment deuten darauf hin, dass dieser Schlamm zwischen 850 000 und 950 000 Jahren alt ist.
Die Archäologen vermuten, dass die Spuren in dieser uralten Uferbank von einer kleinen Gruppe von vielleicht fünf Menschen stammen, unter denen auch Kinder waren. Vermutlich sammelten sie Schalentiere und Tang für eine Mahlzeit. Wir wissen nicht, um welche Art von Hominini es sich handelte, da keine Knochen von ihnen erhalten sind. Tatsächlich sind die ältesten erhaltenen Fossilien von Proto-Briten nur halb so alt wie die Fußabdrücke von Happisburgh: ein Schienbein und zwei Zähne, die unweit einer weiteren uralten Uferbank in Boxgrove (Sussex) gefunden wurden, gehörten zu einem großen, muskulösen, etwa 40-jährigen Homo...
Erscheint lt. Verlag | 18.5.2022 |
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Übersetzer | Stephan Gebauer |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Brexit • Britische inseln • China • Europa • Geographie • Geopolitik • Großbritannien • Imperium • Insellage • Kontinent • Landkarten • Machtverschiebung • Politik • politisches Geschenkbuch • Politisches Sachbuch • Weltgeschichte • Weltmacht • Weltpolitik • Wirtschaft |
ISBN-10 | 3-593-45043-7 / 3593450437 |
ISBN-13 | 978-3-593-45043-8 / 9783593450438 |
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Größe: 14,4 MB
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