See. Not. Rettung. (eBook)

Meine Tage an Bord der SEA-EYE 4
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
224 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60078-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

See. Not. Rettung. -  Tobias Schlegl
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Im Frühsommer 2021 half Tobias Schlegl für mehrere Wochen als Notfallsanitäter bei der Seenotrettung Geflüchteter vor der Küste Libyens - und es wurden dramatische Wochen für die Crew und ihn. Erst Schwierigkeiten bei Übungseinsätzen und das bange Warten auf den ersten Einsatz, dann: Notrufe, Verfolgungsjagden mit der libyschen »Küstenwache«, Menschen im Wasser, Menschen, die an Bord bewusstlos zusammenbrechen. Schließlich die quälende Suche nach einem sicheren Hafen für die mehr als 400 Geretteten. Über Verzweiflung und Angst, aber auch über Momente der Hoffnung schreibt Tobias Schlegl in einem Tagebuch, das sie bezeugt - die alltägliche Tragödie vor den Küsten des Mittelmeers.

Tobias Schlegl, Jahrgang 1977, moderierte lange beim Musiksender Viva, später die Satiresendung Extra 3 und das Kulturmagazin aspekte. Den Großteil seiner Fernsehjobs gab er 2016 auf und absolvierte eine Ausbildung zum Notfallsanitäter. Von diesem Beruf erzählte er in seinem Roman »Schockraum« (2020), der auf Anhieb zum Spiegel-Bestseller wurde. Tobias Schlegl lebt und arbeitet in Hamburg.

Tobias Schlegl, Jahrgang 1977, moderierte lange beim Musiksender Viva, später die Satiresendung Extra 3 und das Kulturmagazin aspekte. Den Großteil seiner Fernsehjobs gab er 2016 auf und absolvierte eine Ausbildung zum Notfallsanitäter. Von diesem Beruf erzählt er in seinem Roman »Schockraum« (2020). Tobias Schlegl lebt und arbeitet in Hamburg.

Tag 1:
Abflug


4. Mai


»Tobias, hast du eine Lebensversicherung, die im Notfall zahlt?« So reagierten meine Eltern. Nein, eine Lebensversicherung habe ich leider nicht mehr. Kam bei Mama und Papa nicht ganz so gut an. Ansonsten waren sie aber sehr verständnisvoll, haben mich fest gedrückt und mir zum Abschied eine hellblaue Tasse geschenkt: »Nimm dir Zeit für MEER«.

Der Wecker klingelt um 7 Uhr, aber ich bin schon vorher wach. Der große Tag. Jetzt gibt es wirklich kein Zurück mehr.

Sturm über Hamburg. Als wollte das Wetter mich losscheuchen. Wie in Trance suche ich im Flieger meinen Sitz, stecke mir Kopfhörer in die Ohren und lasse Marteria laufen. Paradise Delay. Das Paradies muss warten.

In Madrid steige ich um. Eine spanische Frauen-Fußballmannschaft sitzt mit mir in der Maschine nach Valencia. Die Fußballerin zu meiner Rechten möchte nicht reden. Ich auch nicht. Kämpfe mit meinen Gefühlen, diesmal eine Mischung aus Vorfreude und blanker Angst.

Am Flughafen von Valencia treffe ich die ersten beiden Crewmitglieder: Guillaume und Stefan. Guillaume aus Frankreich – klein, langer Bart und Hipster-Beanie – ist für die Dokumentation zuständig, er soll Fotos und Videos machen und für die internationalen Medien bereitstellen. Stefan, wie ich aus Norddeutschland – schwarze, dünne Brille, gräuliches Haar –, ist Internist in Rente und unser Bordarzt, mit ihm werde ich ab jetzt zusammenarbeiten.

Guillaume gibt mir ein High Five, Stefan drückt mich an sich. Auf seiner Brust prangt ein großer Totenkopf, er trägt einen St.-Pauli-Kapuzenpulli. Ausgerechnet. Mein Lieblingsverein. Ich deute das als gutes Vorzeichen.

Wir nehmen ein Taxi nach Burriana. 30 Minuten Fahrt. Call Me Maybe scheppert es aus den kaputten Boxen. Nein, kein »Call me« mehr. Das war das alte Leben. Jetzt soll mich bitte keiner mehr anrufen. Ich lehne meinen Kopf ans staubige Fenster. So viel Blau am Himmel. Grüne Zypressen. Graue Steinformationen. Wärme. Alles wirkt surreal. Wo bin ich hier? Gelandet auf einem anderen Planeten.

Am Hafen von Burriana schultern wir unser Gepäck, ich habe am meisten dabei, wie peinlich. Zwar wurde uns von Sea-Eye per Mail empfohlen, Klamotten für nur eine Woche einzupacken, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen. Was, wenn es nur eine Waschmaschine gibt und alle darum kämpfen, dass sie randürfen? Und so habe ich jetzt Klamotten für zwei Wochen dabei. Okay, eigentlich für drei. Ich bin so beladen, dass ich nur kleine Schritte machen kann. Zum Glück ist das Schiff bereits in Sichtweite.

 

Die Sea-Eye 4 wirkt winziger als auf den Fotos. Dabei sind die Rahmendaten recht beeindruckend: 53 Meter lang, 12 Meter breit, 11 Knoten Höchstgeschwindigkeit. Nicht mehr ganz jung, Baujahr 1972, nun in neuem, glänzendem Lack-Gewand – die Bordwand knallrot, Brücke und Reling strahlend weiß und die Containeraufbauten weiter hinten tiefblau. Ganz vorne, an der Spitze, hängt die gelbe Flagge von United 4 Rescue, dem Bündnis aus Unterstützerinnen und Unterstützern der Sea-Eye 4. Sie ist vor Kurzem von der Werft in Rostock nach Burriana überführt worden und wartet nun auf ihren ersten Einsatz, ihre Jungfernfahrt als Rettungsschiff. Vorher diente sie unter den Namen Wind Express und Oil Express als Offshore-Versorgungsschiff und wurde dann von Freiwilligen innerhalb von sieben Monaten komplett umgebaut.

Und damit wollen wir wirklich Hunderte Menschen retten? Das wird eng werden. Von den deutschen Behörden ist das Schiff für maximal 200 Personen zugelassen, aber wenn wir weitere Boote in Seenot sehen, können wir doch nicht einfach die Hilfe verweigern.

»Machen wir auch nicht«, sagt Jan, der Head of Mission. In seinem anderen Leben ist er Chirurg. »Wenn wir mehr Menschen retten müssen, retten wir die auch.« Er ist der Chef der gesamten Rettungsmission, ein großer Lockenkopf mit Lachfältchen und Fünftagebart, auf Anhieb sympathisch, umgänglich, einnehmend. An Bord hat er den zweithöchsten Rang – unter dem Kapitän. Aber der ist ja nicht da.

»Flugangst. Der wollte nicht fliegen.« Jan schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung, ob das stimmt. Warum hat er das denn nicht vorher gesagt? Wir hätten eine andere Lösung finden können. Anreise mit dem Zug oder per Auto, geht doch auch.«

Mir ist das inzwischen egal. Fühle mich wie bei der Einschulung: alles neu, alles aufregend. Wir machen einen Rundgang durch das Schiff. Über die Gangway gelangt man auf das große Hauptdeck, das weitgehend überdacht ist. Hinten stehen zwei Container mit Schlafplätzen für Gerettete, gegenüber sind ihre Toiletten und Waschbecken, dann kommt eine Küche für die Versorgung der Menschen, und daneben ist die Tür zu unserer Krankenstation. Alles wirkt ein wenig unfertig. Überall liegen Werkzeuge und Baumaterial herum. Planen und Stangen versperren den Eingang zum Hospital. Das müssen wir morgen dringend aufräumen.

Wir unterhalten uns durchweg auf Englisch, sobald nicht nur deutsche Crewmitglieder anwesend sind. Das gebietet die Höflichkeit – außerdem ist Englisch die offizielle Bordsprache, auch wenn das Schiff unter deutscher Flagge fährt. Englisch hören und verstehen ist nicht so das Problem, US-Serien gucke ich auch im Original. Aber Englisch sprechen musste ich schon lange nicht mehr. Es fällt mir schwer, mich richtig auszudrücken, Worte für das zu finden, was ich sagen will. Was kommt dabei heraus? »Nice hospital.« Ich war auch schon pointierter.

Schräg gegenüber der Krankenstation, Richtung Bug, beginnt der Innenbereich des Schiffs, zu dem die Geretteten keinen Zugang haben werden. Die Kombüse, der Speise- und Versammlungsraum – Crew Mess Room genannt –, einige der Schlafkabinen und ein Lagerraum. Nach unten geht es zum Maschinenraum, in dem unentwegt einer der Generatoren rattert. Nur ein kurzer Blick hinein in das neonbeleuchtete Gewirr aus grün lackierten Rohren und Pumpen, Ventilen und Kabeln. Es ist höllisch laut, und es riecht komisch. Nach oben führt die Treppe aufs Vorderdeck, unterhalb der Brücke. Ganz vorne, in der Spitze, gibt es eine Luke, sie ist geöffnet, und von der Unterseite des Deckels grinst mich ein riesiger sonnengelber Smiley an. Don’t worry, be happy, singt er.

Hinter der Brücke sind weitere Container für die Besatzung und die Geretteten aufgestellt – und ganz hinten ist der schönste Ort des Schiffs. Auf die Dächer der beiden unteren Container ist eine Holzterrasse geschraubt: das Sonnendeck.

 

Die Kajüte teile ich mir mit Stefan. Jugendherbergsstyle. Unsere Cabin Two ist eine enge Kammer, Tür und Schrank gleichzeitig öffnen geht nicht, neben dem Schrank ein kleines Regal, gegenüber unser Stockbett, am Ende eine mit Kunstleder bespannte Bank und ein Brett als Schreibtisch. Über der Bank – das Tollste – zwei Bullaugen, die den Blick auf das Hafenbecken freigeben.

»Ich will unten schlafen«, sagt Stefan. »Ich muss nachts öfter raus.« Mist. Genauso geht es mir als Täglich-vier-Liter-Wasser-Trinker auch. Aber ich habe keine Chance, Stefan reserviert mit seinem Rucksack die untere Koje. Was soll’s. Ich bin froh, dass ich so einen sympathischen Zimmergenossen abbekommen habe. »Ich schnarche«, ergänzt Stefan. Okay, ganz so froh bin ich doch nicht.

 

Ein paar Crewmitglieder stehen abends draußen am Kai und trinken Limo und Bier aus Dosen. Langsam lerne ich, wer wer ist und wofür die Leute zuständig sind.

Generell ist die Besatzung aufgeteilt zwischen Freiwilligen, die alles komplett ehrenamtlich machen und wie ich auch den Flug aus eigener Tasche finanziert haben, und den bezahlten, professionellen Angestellten. Die Sea-Eye 4 ist als Frachtschiff eingetragen, es gibt strikte Auflagen, die alle eingehalten werden. Demnach braucht es neun professionelle Seeleute, die die notwendigen Zertifikate besitzen, um das Schiff betreiben zu können. Dazu gehören die Maschinisten sowie die Arbeiter an Deck und auf der Brücke bis hin zum Kapitän. Dieses Schiff kann man nicht mit einem Sportbootführerschein fahren, wie das früher bei zivilen...

Erscheint lt. Verlag 24.2.2022
Zusatzinfo Mit 30 Schwarz-Weiß-Abbildungen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Außengrenzen • Bootsunglück • EU • Flüchtlinge • Flüchtlingskrise • Flüchtlingsrecht • Fremdenhass • Geflüchtete • Grenzpolitik • Grenzschutz • Humanitär • Katastrophe • Küstenwache • Lampedusa • Lesbos • Memoiren • Menschenrechte • Migration • migrationskrise • Mittelmeer • Mittelmeer-Flüchtlinge • Notfallsanitäter • Sea Eye • Sea Watch 4 • Seenotrettung
ISBN-10 3-492-60078-6 / 3492600786
ISBN-13 978-3-492-60078-1 / 9783492600781
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