Gerechtigkeit (eBook)

Eine philosophische Einführung
eBook Download: EPUB
2021 | 6. Auflage
127 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-75733-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gerechtigkeit -  Otfried Höffe
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Diese kulturen- und epochenübergreifende Einführung in Begriff und Geschichte der Gerechtigkeit reicht von der Frühzeit des Menschen bis in das heutige Zeitalter der Globalisierung. Höffes historisch und systematisch kompetente Darlegung behandelt einen zentralen Grundsatz des menschlichen Zusammenlebens.

Otfried Höffe, Prof. em. für Philosophie, lehrte u. a. an den Universitäten Fribourg, Zürich, Sankt Gallen und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

II. Zum Begriff der Gerechtigkeit


Worin die Gerechtigkeit des Näheren besteht, ist sowohl im Alltag als auch in der Philosophie heftig umstritten. Eine gründliche Diskussion bestimmt als Erstes den Begriff und unterscheidet für diesen Zweck zwei methodisch grundverschiedene Fragen, einerseits, unter welchen Bedingungen die Gerechtigkeit herausgefordert wird, andererseits, welche der Antworten auf die Herausforderung «Gerechtigkeit» heißt. Dort sind beschreibende (deskriptive) Anwendungsbedingungen, hier die vorschreibenden (präskriptiven) und maßgebenden (normativen) Momente gesucht.

1. Die Herausforderung


Im Rahmen der Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit lassen sich noch objektive von subjektiven Bedingungen unterscheiden, also der Gegenstandsbereich der Gerechtigkeit vom Subjekt, das zu ihr fähig und aufgefordert ist.

Knappheit oder Konflikt?  «Nehmen wir an, die Natur habe die Menschen mit einem so reichlichen Überfluß an allen äußerlichen Annehmlichkeiten ausgestattet», dass keine «mühselige Arbeit» nötig ist; «kein Ackerbau; keine Schiffahrt», so «scheint einleuchtend, daß in einem so glücklichen Zustand jede andere soziale Tugend blühen und sich verzehnfachen würde, aber von der vorsichtigen, argwöhnischen Tugend der Gerechtigkeit wäre nicht einmal geträumt worden». Wie für David Hume (Prinzipien der Moral, Kap. III: «Über die Gerechtigkeit»), so gehört auch nach anderen liberalen Philosophen die Knappheit zu den Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit. Und indirekt vertritt schon Platon diese Ansicht, insofern er dort, wo die Menschen mit dem Lebensnotwendigen zufrieden sind, noch nicht von Gerechtigkeit spricht. In der Tat ergeben sich viele Gerechtigkeitsaufgaben aus der Begrenztheit natürlicher Ressourcen. Und selbst die wissenschaftlich-technische Zivilisation kann zwar die wirtschaftliche Produktivität steigern, aber das dreiteilige anthropologische «Gesetz der Knappheit» nicht aufheben: (1) dass die letzte Vorgabe aller Wirtschaft, die Erde samt den Tieren, Pflanzen und Materialien, begrenzt ist; (2) dass der Mensch die Vorgaben «im Schweiße seines Angesichtes» verarbeiten muss, was er lieber scheut; und (3) dass eine tendenzielle Unersättlichkeit droht, ein Immer-mehr-Wollen, das alles Menschliche – ob Individuum, Gruppe oder Institution – mit ausufernden Begehrlichkeiten bedrängt.

Wo ein Überfluss seitens der Natur herrscht, wird die Gerechtigkeit aber nur weitgehend, nicht vollständig arbeitslos. Denn einerseits gibt es auch eine von der Natur unabhängige Knappheit, da der Mensch nicht bloß dessen bedarf, was die Natur in Fülle liefern könnte (vorausgesetzt, die Unersättlichkeit hält sich in Grenzen): der Güter. Er braucht auch, was nur die Mitmenschen bereitstellen: Dienstleistungen, angefangen mit der Fürsorge, die die Säuglinge benötigen. Andererseits sind nicht alle Gerechtigkeitsaufgaben knappheitsbezogen: weder die Gleichheit vor dem Gesetz noch die dafür zuständige Unparteilichkeit der Justiz und Verwaltung, weder die liberalen Menschenrechte noch die Volkssouveränität oder die Gewaltenteilung. Nicht zuletzt gibt es den Kampf um Anerkennung mit den Begleitaffekten Neid und Eifersucht. Nicht weil es ihm an Gütern fehlt, tötet Kain seinen Bruder, sondern weil «der Herr auf Abel und seine Opfergabe blickte, aber auf Kain und sein Opfer sah er nicht» (Genesis 4, 4–​5).

Gefragt ist die Gerechtigkeit im gesamten Bereich der menschlichen Beziehungen, sowohl denen der Kooperation als auch der Konkurrenz, sofern dabei widerstreitende Interessen, Ansprüche und Pflichten auftauchen. Die objektive Anwendungsbedingung besteht im Streit oder Konflikt. Da es ihn sowohl im persönlichen Umgang als auch im Geschäftsverkehr gibt, sowohl in sozialen Institutionen und Systemen, namentlich im Recht und Staat, darüber hinaus zwischen den Staaten, nicht zuletzt im Verhältnis der Generationen zueinander, steht in all diesen Bereichen Gerechtigkeit auf dem Spiel.

Handlungsfähigkeit.  Wer angesichts von Konflikten nach Gerechtigkeit verlangt, setzt aufseiten der Subjekte zweierlei voraus: dass die Beziehungen zwischen ihnen unterschiedlich ausfallen können und dass die jeweilige Gestalt nicht nur von einer äußeren Instanz, etwa von der Natur oder von Systemerfordernissen, abhängt. Mindestens teilweise muss die Gestalt handlungsfähigen Wesen, nämlich natürlichen und juristischen Personen, zuzurechnen sein. Gerechtigkeit gibt es weder in der Gesellschaft, insofern sie ausschließlich Systemcharakter hat, noch unter Tieren, sofern deren Verhalten bloß durch natürliche Instinkte bestimmt ist. Eine Gerechtigkeit gegen Tiere kann es aber durchaus geben (s. Abschn. XI. 5). Und sollten sich Tiere mit Handlungsfähigkeit entdecken lassen, so wären auch sie der Gerechtigkeit unterworfen: sowohl der Gerechtigkeit untereinander als auch der gegen die Menschen.

2. Geschuldete Sozialmoral


Angesichts der unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten nimmt die Gerechtigkeit eine bestimmte Art von Bewertung vor: jene soziale, überdies normative Bewertung, die im Rahmen von drei hierarchisch aufeinander folgenden Stufen zur dritten und schlechthin höchsten, der im strengen Sinn moralischen Stufe gehört.

Auf der ersten in einem weiteren Sinn technischen Stufe werden Mittel, Wege und Verfahren von beliebigen, aber jeweils vorausgesetzten Zielen oder Zwecken her bewertet. Die zugehörenden, teils instrumentalen, teils funktionalen oder strategischen Verbindlichkeiten bedeuten «gut für (irgend-)etwas».

Auf der zweiten, pragmatischen Stufe werden die Ziele oder Zwecke, die auf der ersten Stufe nicht normativ thematisiert sind, vom natürlichen Interesse am eigenen Wohlergehen her beurteilt; «gut» bedeutet hier «gut für jemanden». Handelt es sich beim Betreffenden um einen Einzelnen, so findet eine individualpragmatische, handelt es sich um eine Gruppe, so findet jene sozialpragmatische Bewertung statt, die der Ethik des Utilitarismus entspricht. Wer schon ihr Prinzip, das maximale und kollektive Gemeinwohl, für das höchste Bewertungsmaß hält, übersieht, dass etwas gemeinwohlförderlich und trotzdem ungerecht sein kann. Der Utilitarismus ist gegen die «Verteilung» des Gemeinwohls indifferent.

Die dritte, genuin moralische Stufe des Bewertens hebt die Indifferenz auf. Das Gemeinwohl wird nicht mehr bloß kollektiv, sondern in einer Verschärfung der Bedingungen distributiv verstanden. Es genügt nicht, dass etwas lediglich «gut für eine Gruppe insgesamt» ist, es muss auch «für jeden Einzelnen gut» sein. Erst damit ist eine Verbindlichkeit erreicht, die sich weder durch andere Verbindlichkeiten außer Kraft setzen noch gegen sie aushandeln lässt: eine unbedingt oder kategorisch gültige, genuin moralische Verbindlichkeit. Mit der Gerechtigkeit wird der Bereich des Sozialen einer Idee des uneingeschränkten Guten unterworfen. So wichtig technische, funktionale und noch mehr pragmatische Verbindlichkeiten, etwa die innere und äußere Sicherheit und das wirtschaftliche Wohlergehen, sind – sie können im Dienst organisierten Bandentums und offensichtlicher Unrechtsstaaten stehen oder aber rechtliche Privilegien und Diskriminierungen enthalten.

Den Gesamtbereich der Moral deckt die Gerechtigkeit aber nicht ab. Schon etwaige Pflichten des Menschen gegen sich fallen heraus. Und im Rahmen der Sozialmoral betrifft die Gerechtigkeit nur einen kleinen, den geschuldeten Teil: die sogenannten Rechtspflichten bzw. die Rechtsmoral, deren Anerkennung die Menschen voneinander einfordern dürfen. Während man bei Verstößen gegen Tugendpflichten wie Mitleid, Wohltätigkeit und Großzügigkeit, auch Dankbarkeit und die Bereitschaft zu verzeihen, enttäuscht ist, regen sich bei Gerechtigkeitsverstößen Empörung und Protest. Die Anerkennung von Tugendpflichten kann man vom anderen nur erbitten und erhoffen, die der Gerechtigkeit dagegen verlangen. Als geschuldete Sozialmoral hat die Gerechtigkeit den Rang des elementar-höchsten Kriteriums allen Zusammenlebens, während die Wohltätigkeit das optimal-höchste Kriterium bildet und die Solidarität eine Zwischenstellung einnimmt.

Wegen des besonderen Ranges der Gerechtigkeit droht eine Verschiebungsgefahr, die man bewusst einsetzen kann, was auf Missbrauch hinausläuft: Man erklärt zu einer geschuldeten Grundleistung, was in Wahrheit zum verdienstlichen Mehr gehört. Ohne Zweifel gebietet die Moral, persönlich großzügig und wohltätig zu sein; eine zwangsbefugte Gesellschaftsordnung, ein Staat, ist aber im Wesentlichen...

Erscheint lt. Verlag 10.6.2021
Reihe/Serie Beck'sche Reihe
Beck'sche Reihe
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Allgemeines / Lexika
Recht / Steuern
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Gerechtigkeit • Globalisierung • Kultur • Menschen • Philosophie • Philosophiegeschichte • Recht • Zusammenleben
ISBN-10 3-406-75733-2 / 3406757332
ISBN-13 978-3-406-75733-4 / 9783406757334
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