Beim nächsten Wald wird alles anders -  Hans Jürgen Böhmer

Beim nächsten Wald wird alles anders (eBook)

Das Ökosystem verstehen
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
100 Seiten
S.Hirzel Verlag
978-3-7776-3053-3 (ISBN)
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Wie reagieren die Wälder der Welt auf den Klimawandel? Und was wurde eigentlich aus dem Waldsterben? Der Ökologe Hans Jürgen Böhmer stellt die Diskussion über die Zukunft des Waldes in Deutschland in einen verblüffenden globalen und langfristigen Kontext. Der internationale Waldexperte zeigt anhand aktueller Fallstudien und seiner Erfahrungen aus dreißig Jahren weltweiter Ökosystemforschung, dass es in der Natur um komplexe Zusammenhänge geht, die von höchst unterschiedlichen Akteuren sehr verschieden und auch zeit- und ideologiegeprägt wahrgenommen werden. Statt Wald- oder gar Weltuntergangsszenarien zu zeichnen, fordert Böhmer eine langfristige Perspektive. Sein Plädoyer lautet, auf einfache Argumente zu verzichten und die Nachhaltigkeitsdebatte in Wissenschaft und Politik wieder stärker in der Lebenswelt zu verankern, anstatt sie zu sehr auf errechnete Ferndiagnosen zu stützen.

Prof. Dr. Hans Jürgen Böhmer, Jahrgang 1967, studierte Geografie, Biologie, Geologie, Politikwissenschaften und Journalistik an den Universitäten Bamberg und Erlangen. 2006 Habilitation an der TU München über die Langzeitdynamik der Regenwälder Hawaiis. Ab 2014 Inhaber des Lehrstuhls für Biogeografie an der University of the South Pacific. 2015 Regierungsberater der Pazifikstaaten für das Pariser Klimaabkommen (COP21). Im Oktober 2019 Mitbegründer einer Task Force der International Union of Forest Research Organizations zur globalen Überwachung von Waldsterbephänomenen. Seit 2022 Professor für Geobotanik an der Leibniz Universität Hannover.

Klima, Wald und Wandel


Chronik eines absehbaren Problems


Es sollte nicht sehr lange dauern, bis das Thema »Waldsterben« in Deutschland erneut aufblitzte. Der außergewöhnlich heiße und trockene Sommer des Jahres 2003 und das vielerorts bis ins Frühjahr 2004 anhaltende Niederschlagsdefizit warfen bereits wieder die besorgte Frage auf, wie die Wälder, insbesondere die Schlüssel-Baumarten Fichte und Buche, dieses Ereignis verkraften würden. Zum ersten Mal seit 1976 waren sie wieder einer derartigen Trockenheit ausgesetzt.[41] Wenigstens waren sie nach dem massiven Rückgang des Schwefeldioxidausstoßes zumindest nicht mehr durch diesen Faktor zusätzlich geschwächt.

Zudem gab es laut Bundeswaldinventur[42] (durchgeführt 2001–2003, Stichtag 1. Oktober 2002) wieder mehr Wald: Seit 1987 war der Waldbestand in den alten Bundesländern gewachsen, und zwar von ungefähr 2,3 Milliarden Kubikmeter auf über 2,6 Milliarden Kubikmeter. Für Deutschland insgesamt – die Methodik der Bundeswaldinventur wurde im Erfassungszeitraum 2001 bis 2003 erstmals auch in den neuen Bundesländern angewendet – ergab sich ein Holzvorrat von 3,4 Milliarden Kubikmeter. Damit hatte Deutschland im Vergleich mit den europäischen Nachbarn die größten Holzvorräte und zusammen mit Österreich und der Schweiz die größten pro Hektar. In den alten Bundesländern waren im jährlichen Durchschnitt nicht weniger als 95 Millionen Kubikmeter Holz zugewachsen, allein dadurch wurden der Atmosphäre pro Jahr zusätzlich circa 87 Millionen Kubikmeter CO2 entzogen.[43] Die Menge des Holzvorrats hatte also ein für Deutschland neues Ausmaß erreicht. Mehr als ein Drittel bestand aus Laubbäumen, unter denen die Buche den größten Anteil hielt. Ein weiteres gutes Drittel lag beim wichtigsten Nutzholz, der Fichte, gefolgt von der Kiefer mit über 20 Prozent Anteil.

Als sich die Folgen der Trockenperiode 2003/2004 zeigten, ließen die altbekannten Schlagzeilen nicht lange auf sich warten. »Waldsterben bricht alle Rekorde«, betitelte Der Spiegel am 8. Dezember 2004 einen Artikel über die Vorstellung des jährlichen Waldschadensberichtes durch das zuständige Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Die Schäden hatten gegenüber dem Vorjahr um acht Prozent zugenommen. 2002 hatte die deutlich geschädigte Waldfläche noch bei bundesweit 21 Prozent gelegen, 2003 bei 23 Prozent.[44]

Die lang anhaltende Trockenheit des extremen Sommers 2003 und hohe Ozonwerte[45] hätten Wälder getroffen, die »bereits durch anhaltende Säure- und andere Belastungen aus der Luft geschwächt« seien, sagte die Ministerin Renate Künast. Sie nannte neben der Trockenheit die »hohe Belastung der Böden mit Schwefel, Stickstoff, Schwermetallen und Ammoniak, durch die Wurzelbildung und Nahrungsaufnahme der Pflanzen beeinträchtigt« würden, als Grund der Misere. »Eine Prognose zur weiteren Entwicklung der Wälder sei kaum zu wagen. Selbst wenn es keine zusätzlichen Belastungen mehr gäbe, bräuchten die Bäume viele Jahre zur Erholung.«[46] Umweltminister Jürgen Trittin trat flankierend auf und warf Stickstoffeinträge durch die Landwirtschaft gleich mit in den Topf. »Gülle killt den Wald«, sagte er.

Interessant ist hier der merkwürdige, scharfe Kontrast zur überaus optimistischen Vorstellung der Bundeswaldinventur wenige Wochen zuvor durch das gleiche Ministerium. Der Spiegel schrieb, die aktuelle Inventur sei wegen der positiven Entwicklung »von Schreckensmeldungen weit entfernt«.[47] Der Trend gehe hin zum Mischwald mit Laubbäumen, während Nadelbaum-Monokulturen sukzessive reduziert würden. Rund 73 Prozent des Waldes seien »gemischt«, und damit nähere sich der Wald seinem »ursprünglichen Erscheinungsbild, denn eigentlich würde in Deutschland von Natur aus vor allem Laubwald wachsen. (…) Heute weist der Report fast 15 Prozent des Waldes wieder als ›sehr naturnah‹ aus, weitere 20 Prozent gelten als ›naturnah‹. Das bedeutet, dass auf über einem Drittel der 11,1 Millionen Hektar großen Waldfläche in Deutschland weitgehend die Baumarten wachsen, die auch ohne Menschenhand vor Ort gedeihen würden.«

Bei der Vorstellung der Bundeswaldinventur schien es sich um eine Art Verkaufsveranstaltung für Holz aus deutschen Wäldern zu handeln. Entsprechend euphorisch äußerte sich der Staatssekretär aus dem Verbraucherministerium, Matthias Berninger: »Mit 3,4 Milliarden Kubikmeter Holz liegt der deutsche Wald in Europa an der Spitze.« Im Spiegel heißt es weiter: »Damit nicht genug: In den alten Bundesländern sprießen die Bäume schneller, als die Experten vermutet hatten. (…) Dabei liegt die Endzeitstimmung im Walde noch keine zwei Jahrzehnte zurück, als der schwefeldioxidhaltige saure Regen dem Ökosystem derart zusetzte, dass das Sterben der Bäume nur noch eine Frage der Zeit schien.«

Diese nicht einmal zwei Monate auseinanderliegenden Statements über den Wald in Deutschland sind in ihrer Tendenz unübersehbar widersprüchlich, obwohl sie aus demselben Ministerium stammen. Natürlich hat der auf die Vitalität der Bäume gerichtete Waldschadensbericht (heute Waldzustandsbericht genannt) mit seiner jährlichen Erfassung der Baumkronenverlichtung (also des Verlustes von Nadeln oder Blättern)[48] einen anderen Fokus und Erhebungszeitraum als die Waldinventur, die auf die Erfassung und langfristige Einschätzung forstlicher Produktionsmöglichkeiten abzielt. Doch dass die Waldschäden nach dem trockenheißen Sommer 2003 im Folgejahr enorm sein würden, war im Oktober 2004 mit Sicherheit bereits bekannt, und so wäre ein etwas zurückhaltenderer Tonfall wohl angemessen gewesen.

Und für die Öffentlichkeit weniger verwirrend.

Etwas pointiert ließe sich aus all dem mühelos herauslesen, dass der »Deutsche Wald« je nach argumentativer Notwendigkeit einfach immer spitze ist (bzw. zu sein hat), sei es hinsichtlich seiner Produktivität oder seiner Fähigkeit zum Absterben, und das sogar gleichzeitig! Es scheint, dass zum wichtigen Thema »Waldgesundheit« seit dem Ausklingen der 1980er Jahre von diversen Interessensgruppen gezielt immer wieder politisch zurechtgebogene, schiefe Interpretationen des Waldzustandes vermittelt werden. Solches Taktieren mag in Politik und Wirtschaft üblich sein, dürfte aber eine realistische Wahrnehmung der Problematik durch die Bevölkerung immer weiter erschwert haben. Eine bessere Bewusstseinsbildung ist durch das seit Langem aus allen Richtungen hereinprasselnde Trommelfeuer der Superlative kaum zu erwarten, gelangweiltes Abwinken schon eher – und das ist Wasser auf den Mühlen der Zweifelnden.

Die Klimaänderung der Gegenwart


Liest man den Buchtitel »Die Klimaänderung der Gegenwart«, wähnt man sich wohl unweigerlich im 21. Jahrhundert. Tatsächlich ist es der Titel eines Sachbuches aus dem Jahr 1957. Autor ist Constantin von Regel, damals Professor an der Universität Graz. Er war ein weit gereister, interdisziplinär arbeitender Botaniker mit einem Faible für Geografie, und ihn beschäftigte ein Phänomen, das seiner Meinung nach auf eine ungewöhnliche Klimaänderung hindeutete: das Vorrücken der polaren Waldgrenze nach Norden.[49]

In diesem Bereich der Nordhemisphäre, wo die Nadelwälder der Taiga nordwärts allmählich, manchmal auch abrupt, in die Tundra genannte baumlose Kältesteppe übergehen, war der unmittelbare menschliche Einfluss damals wie heute relativ gering. Es gab kaum Siedlungen, lediglich die mit Rentieren umherziehenden Nomadenvölker deckten ihren Brennholzbedarf in den Wäldern und veränderten so stellenweise die lokale Waldstruktur.

Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich Forscher und Forscherinnen intensiv mit der Frage nach der Entstehung der polaren Waldgrenze beschäftigt. Von Regel selbst ging ihr früh in seiner Karriere nach und hatte erstmals 1915 eine Arbeit darüber veröffentlicht.[50] Er konnte also vier Jahrzehnte später, zur Zeit der Niederschrift seines Buches, von rund 100 Jahren Forschung an diesem ihm selbst fast lebenslang vertrauten Gegenstand profitieren.

In der Zeit vor 1930 war die Forschung noch rein deskriptiv, das heißt, es wurde oft nur möglichst genau beschrieben, was in der Landschaft anzutreffen war, gelegentlich unterfüttert mit einfachen Messungen. Eingehende Datenerhebungen und Experimente an Pflanzen kamen erst später auf. Entsprechend lange blieb unklar, welche Faktoren den Verlauf der Waldgrenze entscheidend beeinflussen.[51]

Manche Autoren erklärten den bis zur Zeit des Ersten Weltkriegs rückläufigen Waldgrenzverlauf zunächst mit der Abholzung durch Nomaden, glaubten also an einen durch Menschen ausgelösten Rückzug des Waldes. Das war durchaus plausibel, da das Baumwachstum an der polaren Waldgrenze äußerst langsam verläuft und schon der relativ geringe Holzverbrauch durch die Nomaden den marginalen Holzzuwachs vielerorts bei Weitem überstieg.

Andere hielten »Versumpfung« für den begrenzenden Faktor der Waldverbreitung, da Schwankungen des oberflächennahen Grundwasserspiegels im Übergangsbereich zwischen Taiga und Tundra das Absterben von Baumgruppen und Wäldern auslösen konnten. So etwas hatte beispielsweise die russische Forscherin Cheloudiakova Mitte der 1930er Jahre am Fluss Indigirka in Ostsibirien vorgefunden.[52] An eine Änderung des Klimas dachte sie wohl noch nicht.

Ab Anfang der 1920er Jahre mehrten sich plötzlich gegenläufige Beobachtungen: Die Wälder der Taiga schienen nun damit zu beginnen, sich nordwärts auszudehnen. Erste wissenschaftliche Studien hierzu stammen vom Russen Grigorjew aus dem Jahr 1924 und dem Finnen Aario aus dem Jahr 1942. Grigorjew führte...

Erscheint lt. Verlag 18.11.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Biogeographie • Klimaveränderung • Klimawandel • Nachhaltigkeitsdebatten • Natur • Naturdynamik • Ökologie • Ökosystemforschung • Sachbuch • Umweltplanung • Wald • Waldökosysteme • Waldsterben
ISBN-10 3-7776-3053-5 / 3777630535
ISBN-13 978-3-7776-3053-3 / 9783777630533
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