Couchsurfen und andere Schlachten (eBook)

Herausgegeben und mit einem Vorwort von Ilija Trojanow

(Autor)

Ilija Trojanow (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
480 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61057-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Couchsurfen und andere Schlachten -  Arnon Grünberg
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Eine abenteuerliche Reise durch die Gegenwart: Ob auf fremden Sofas beim Couchsurfing, auf Brautschau in der Ukraine, in Guantánamo oder Afghanistan diese Reportagen führen dorthin, wo wir alleine nie hingekommen wären. Arnon Grünbergs Blick für das absurde Detail stimmt ebenso nachdenklich, wie er erheitert. Die besten Reportagen, ausgewählt von Ilija Trojanow.

Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, lebt und schreibt in New York. Neben allen großen niederländischen Literaturpreisen erhielt er 2002 den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten verfasst Arnon Grünberg einen täglichen Blog und ist in den Niederlanden bekannt für seine Kolumnen und Reportagen.

Couchsurfen in Mittel- und Osteuropa

(April 2008)

Im Winter 2007 hörte ich zum ersten Mal etwas von Couchsurfen2. Es bedeutet, kurz gefasst, dass man umsonst bei Fremden übernachtet. Die Website bringt Leute, die ein Bett suchen, mit solchen zusammen, die ein Bett anzubieten haben.

Ich komme gern in die Wohnungen anderer Leute, es macht mir Spaß, unter fremden Duschen zu stehen. Doch achtundvierzig Stunden später möchte ich am liebsten wieder weg sein. Ein Bett mit Zukunft gleicht einem Sarg.

Darum habe ich mich bei couchsurfing.com angemeldet.

Was ich tue, dient meinem Zweck, leben zu lernen. Lernen, das heißt: sehen, wie andere es machen. Und auch: in den Sachen anderer Leute herumschnüffeln.

Sicherheitshalber unternehme ich diese Reise mit meinem Freund Sander. Für den Fall, dass Gastgeber oder andere Couchsurfer aggressiv werden.

Der Gratisaspekt erweist sich dabei als ein eher untergeordnetes Detail. Der eigentliche Reiz des Couchsurfens liegt im Kontakt. Wobei ich hinzufügen muss, dass ›Kontakt‹ für die meisten Beteiligten nicht unbedingt erotisch besetzt ist.

 

Das erste Bett steht in Berlin, in der Wohnung von Guy und Marianne in der Manfred-von-Richthofen-Straße. Guy ist Francokanadier und laut Couchsurfing-Profil Liebhaber von dunklem Bier. Wer Marianne ist, muss sich noch herausstellen.

In der Wohnung empfängt uns eine 21-jährige, schlicht gekleidete junge Frau, auch sie aus dem französischsprachigen Teil Kanadas. Sie ist in Berlin, um Deutsch zu lernen.

Weit und breit allerdings leider kein Guy. Dafür fünfzig leere Bierflaschen in der Küche.

Auf die Frage, wann Guy nach Hause kommt, antwortet Marianne: »Das kann spät werden.« Wie sie mir sagt, logiert in der Wohnung vorübergehend auch noch eine zweite Marianne, die Marianne deux genannt wird.

Ich sage: »Ich muss noch mal los, bin gleich zurück, ich kauf schnell noch ein Handtuch.«

Mehr als ein Bett darf man nicht erwarten.

Um sieben Uhr erscheint Marianne deux. Ebenfalls Francokanadierin. Marianne deux sagt, sie sei glücklich.

Von Guy nach wie vor keine Spur.

Gegen Mitternacht bieten Sander und ich an, im Wohnzimmer auf einer Matte zu schlafen, damit Marianne deux das Bett haben kann.

An der Wand hängen Fotos der blonden Krankenschwester, der eigentlich diese Wohnung gehört. Erst war sie in Indien, jetzt arbeitet sie in der Schweiz.

Brüderlich liegen wir schließlich zu dritt nebeneinander. Wir sprechen noch etwas Französisch, aber ich kann mich nicht mehr auf den richtigen Zeitengebrauch konzentrieren.

Lektion eins des Couchsurfens: Mach das Beste aus allem, was dir begegnet. Stell keine Fragen. Fragen sind kein Beitrag zum Glück.

 

Das zweite Bett steht in der Wohnung von Martina in Prag 7. Sie wohnt im dritten Stock. Ab acht Uhr abends sind wir willkommen.

Sander und ich wuchten meinen Schrankkoffer die Treppe hinauf. Innerlich bin ich von Kopf bis Fuß auf die zu erwartende Hippiekolonie eingestellt, mein Reisegepäck dagegen stammt aus Großvaters Zeiten.

Im Wohnzimmer liegen zwei Matratzen mit drei Couchsurfern. Es riecht nach Aschenbecher, Schweißfuß und Bananen.

Martina hat rotes Haar und ist ziemlich dick. Sie ist fünfundzwanzig, sieht aber älter aus. In ihrem Couchsurfing-Profil steht, dass sie raucht wie ein Schlot. Was sie verschwiegen hat, ist, dass sie von Bananensaft-Cocktails mit Rum lebt.

Ich komme mit einem jungen Australier ins Gespräch, der fünf Tage auf dem Flughafen von Prag übernachtet hat, bevor er Unterschlupf bei Martina fand. Mitten auf seiner Weltreise ging ihm das Geld aus. Der moderne Obdachlose ist eine dekadente Spezies.

Neben dem Australier liegt ein Pärchen. Er aus Frankreich, sie aus Spanien. Der Unterschied zwischen Liegen und Sitzen ist fließend. So wie auch unklar ist, wo der Pyjama beginnt und die Jeanshose endet. Ich würde sagen: Die Jeanshose ist der Pyjama.

»Warum hast du dich zum Couchsurfen angemeldet?«, frage ich Martina.

»Früher musste ich in eine Bar, um Leute zu treffen«, sagt sie. »Jetzt kommen sie zu mir. Ich kam zu Verabredungen auch immer zu spät. Jetzt komme ich nie mehr zu spät.«

»Habt ihr Hunger?«, frage ich. »Kann ich euch zu einem Essen in einem guten Restaurant einladen?«

Diese Matratzengruft ist ja schön und gut, aber bevor ich mich dazulege, möchte ich doch noch was Leckeres essen.

»Ich geh nicht mehr aus dem Haus«, sagt Martina. »Ich will mich betrinken und high werden, außerdem habe ich schon gegessen.«

Obwohl man es nach dieser Äußerung nicht vermuten sollte, hat Martina eine feste Stelle in einer Werbeagentur. Sie selbst nennt sich ›Sklavin des Kapitalismus‹. Ihr wäre es lieber gewesen, fährt sie fort, die Revolution von 1989 hätte erst 1990 stattgefunden, dann hätte sie wenigstens noch eine Auszeichnung der sozialistischen Kinder- und Jugendorganisation bekommen.

»Und du?«, fragt sie. »Bist du Geheimagent oder so was?«

Ich nicke.

»Und wenn du mir verrätst, was du genau machst, musst du mich ermorden, was?«

»Welches Datum wäre genehm?«, frage ich. »Lass es mich wissen, wann es dir passt.«

Die Kombination von Bananensaft und Rum macht auch mir langsam zu schaffen.

Martina lacht kurz und leicht gruselig auf. »Überrasch mich«, sagt sie.

Mich beschleicht das ungemütliche Gefühl, dass sie es ernst meint.

 

Der Unterschied zwischen Vertrauen in die Menschheit und Nihilismus ist oft minimal. Martina hat uns ihre Hausschlüssel gegeben. Wir müssen in ein anderes Zimmer umziehen, dürfen aber noch eine Nacht bleiben. Heute Morgen hat sich herausgestellt, dass wir im Bett von Martinas Mitbewohner geschlafen haben. Beim Aufwachen entdeckte ich einen Pyjama, auf dem ich gelegen hatte. Ich roch alten Schweiß.

Schmutzphobie ist der kleine Bruder des Todes. Vergiss jede Schmutzphobie. Das Leben ist schmutzig.

Bevor Martina von der Arbeit zurückkommt, machen wir uns an den Abwasch. Es sind vor allem Aschenbecher und Gläser.

Die anderen Couchsurfer sind am Morgen gegangen.

Um acht Uhr betritt Martina die Wohnung. Sie wirft ihre Tasche in die Ecke, reißt den Kühlschrank auf und beginnt leise zu weinen.

Da steht man dann da mit seinem Geschirrtuch über der Schulter.

»Was du brauchst, ist ein richtiges Steak«, sage ich.

»Ich will nach China«, sagt Martina schluchzend. »Ich bin in meiner asiatischen Phase.«

Wir nehmen sie mit in die Bar des Hotels Josef. Alle sieben Minuten trinkt Martina ein Glas Rum. Sie will sich betrinken, wird aber nur immer nüchterner. Sie sagt: »Ich trinke nur tschechischen Rum. Tschechischer Rum ist der Rum des Arbeiters.«

Das bleibt von Solidarität übrig. Besser als nichts.

Nach neun Rum geht Martina zu Piña Colada über. Ich ertappe mich bei Erstaunen und sogar einer gewissen Ehrfurcht. Ein moralisches Dilemma tut sich auf: Martina gewährt uns ein Bett für die Nacht, müssten wir sie nicht vor dem Absturz bewahren? Allein schon aus Eigeninteresse. Wer trägt sie nach Hause?

Im Restaurant Chez Marcel stößt eine Bekannte zu uns. Sie hat ein Kind aus einer früheren Beziehung und ist jetzt verheiratet mit einem schnauzbärtigen Mann, der zwanzig Jahre älter ist als sie. Sie sagt: »Ich bin in keiner asiatischen Phase, ich bin in meiner konservativen Phase. Mein Mann ist mein Held.«

Sie zeigt uns die Hochzeitsfotos.

Mit jedem Glas Wein nimmt ihr Konservatismus andere, überraschende Formen an. Sie murmelt: »Ich liebe euch, bedingungslos.«

Wie viele Menschen kann man bedingungslos lieben? Dutzende. Mindestens.

Martina selbst scheint die Prinzipien des Couchsurfens überall zu verwirklichen. In ihrer Wohnung. In ihrem ganzen Leben. Couchsurfen bis zum bitteren Schluss. Nenne es praktischen Idealismus.

Die Bekannte begleitet uns zu Martinas Wohnung. Ihr Kind und ihr schnauzbärtiger Mann sind verreist. Heute Abend ist sie die vierte Couchsurferin.

 

M. ist Logopädin, und W., eigentlich Wilhelm, ist Arzt. Sie haben angeboten, uns vom Bahnhof im österreichischen Stainach-Irdning in der Steiermark abzuholen.

W. hat etwas von einem ergrauten Skilehrer.

Im Vorraum ihrer Villa in Stainach werden uns Pantoffeln gereicht. Fünf Minuten später sitzen wir bei Kir Royal zusammen im Wohnzimmer. »Die Crème de Cassis ist selbstgemacht«, sagt M.

»Sie machen selbst Johannisbeerlikör?«, frage ich. Nicht umsonst habe ich mich folgendermaßen beschrieben: »Reinlich, harmlos und höflich.«

»Nein, er ist von der Nachbarin«, sagt M. »Außerdem sagen wir unter Couchsurfern ›Du‹.«

Ich nehme einen Schluck Kir Royal. »Und warum empfangt ihr wildfremde Leute zu Hause?«

M. lacht allerliebst. »Unser Sohn war couchsurfen in Mexiko«, sagt sie. »Und ich bin eine besorgte Mutter. Da hab ich mir ein Profil auf couchsurfing.com zugelegt. So konnte ich sehen, wo er war, denn er hat überall Bemerkungen hinterlassen. Nach einiger Zeit dachte ich: Warum empfangen wir selbst eigentlich niemanden? Unser Sohn findet das komisch, aber natürlich verbietet er es uns nicht. Und wir haben so nette Couchsurfer kennengelernt. Ein Amerikaner auf Weltreise, zwei Ungarn mit einem Cello. Nur Raucher mag ich nicht.«

Ich erzähle, dass wir gerade von einer Kettenraucherin kommen.

»Ja«, sagt M., »was mir an deinem Profil gefallen hat, war, dass du dich als reinlich beschrieben hast. Ich mag keine Dreckspatzen.«

Nach...

Erscheint lt. Verlag 28.4.2021
Übersetzer Rainer Kersten
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Afghanistan • Balkan • Berichterstatter • Berichterstattung • Brautschau • CouchSurfing • Guantánamo • Irak • Journalist • Kosovo • Krisenherd • Krisenregion • Libanon • Reise • Reportagen • Reporter • Ukraine
ISBN-10 3-257-61057-2 / 3257610572
ISBN-13 978-3-257-61057-4 / 9783257610574
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