Nicht ohne meine Kippa! (eBook)

Mein Alltag in Deutschland zwischen Klischees und Antisemitismus
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
208 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-12009-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nicht ohne meine Kippa! -  Levi Israel Ufferfilge
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Mit Chuzpe gegen den Hass Ohne Kippa geht Levi Ufferfilge nicht aus dem Haus. Tagtäglich bestreitet er mit dem kleinen Stück Stoff auf dem Kopf seinen Alltag. Doch das Sichtbarsein als Jude bleibt nicht ohne Folgen: Antisemitische Anfeindungen, Beleidigungen und kuriose Begegnungen aller Art. Eine erhellende wie schockierende Erzählung über das Jüdischsein in Deutschland heute. Levi Ufferfilges »Käppchen«, wie seine Großmutter liebevoll zu sagen pflegt, ist sein ständiger Begleiter. Die Kippa ist nicht nur sein liebstes Kleidungsstück, sondern sie erinnert ihn auch an die Zugehörigkeit zum Volk Israel, seiner Religion, seiner Kultur und daran, dass stets etwas über ihn wacht. Damit gehört er zu den wenigen Deutschen, die sichtbar als Juden zu erkennen sind. Dass es immer noch gefährlich sein kann, seinen Glauben so offen zu zeigen, hat auch er zu spüren bekommen. Ob im Zug, beim Einkaufen oder auf der Straße, oft muss er als Dauer-Interviewpartner, als Zuhörer und Tröster herhalten und ist Projektions- und Angriffsfläche für allerhand Klischees über Juden. Manchmal ist es schwer, das auszuhalten. Doch Levi Ufferfilge lässt sich die Freiheit nicht nehmen, seine jüdische Identität offen zu zeigen. Damit ist er auch seinen Schülerinnen und Schülern ein Vorbild. Er lebt vor, wie man Religion, ihre Rituale und Traditionen, mit einem modernen Leben zusammenbringen kann und trägt damit dazu bei, das großartige jüdische Erbe wiederzuentdecken.

Levi Israel Ufferfilge, geboren 1988 im nordwestfälischen Minden, hat Jüdische Studien und Jiddistik studiert. Nach seiner Promotion ist er heute als Schulleiter der Jewish International School - Masorti Grundschule in Berlin tätig. Über seine Erfahrungen als sichtbarer Jude schreibt er auf Twitter unter dem Hashtag #juedischinschland und auf Facebook, wo seine Anekdoten eine große Leserschaft haben.

Levi Israel Ufferfilge, geboren 1988 im nordwestfälischen Minden, hat Jüdische Studien und Jiddistik studiert. Nach seiner Promotion ist er heute als Schulleiter der Jewish International School – Masorti Grundschule in Berlin tätig. Über seine Erfahrungen als sichtbarer Jude schreibt er auf Twitter unter dem Hashtag #juedischinschland und auf Facebook, wo seine Anekdoten eine große Leserschaft haben.

1

Am Anfang gab es keine Kippa


Im westfälischen Nirgendwo, das Torfbauern Generationen zuvor einem riesigen Moor abgerungen hatten, bin ich so deutsch aufgewachsen wie jeder andere Dorfbewohner, für den die deutsche Leitkultur die Summe all dessen ist, was sein Leben ausfüllt: nicht hehre Ideale demokratischer Freiheiten, humanistischer Bildung oder Dichter-und-Denker-Hochkultur, sondern das Schimpfen über das viel beschworene schlechte Wetter Westfalens, Plaudereien über die frisch geernteten Bohnen aus dem Gemüsegarten, den Frühschoppen im Gasthof, die alte Kegelbahn, den Jahrmarkt mit Viehverkauf am Samstag, den G’ttesdienst am Sonntag, die totgeglaubte Mundart und das Trinken und Schießen im Schützenverein.

Es mag bitter klingen, doch in meiner Kindheit und Jugend begriff ich die Region, in der ich aufgewachsen bin, als post-jüdisch. In meinem Heimatort gab es – spärlich sichtbar jüdisch – nur mich mit meiner Kippa auf dem Kopf, die meine Großmutter liebevoll »Käppchen« nennt, und den in einem kleinen Waldstück gelegenen jüdischen Friedhof, den bis heute nahezu niemand unter den protestantischen Dorfbewohnern kennt. Die ehemalige Synagoge ist heute ein Wohnhaus ohne Erinnerung an seine sakrale Funktion oder das jüdische Leben, das in ihm weilte. Jeder jüdische Besitz ist einst unter Wert verkauft und geraubt worden. Viele Jüdinnen und Juden, deren Kultur bis zum Nationalsozialismus für fast alle Dorfbewohner Teil ihrer unausgesprochenen, unreflektierten Leitkultur gewesen ist, sind ermordet worden, manche konnten durch Flucht dem gewaltsamen Tod entgehen. So ist es überall in diesem Land gewesen, ob Provinz oder Metropole.

Es gab um mich herum also kein jüdisches Leben. Die nächste jüdische Gemeinde Minden war weit weg und winzig. Es gab höchstens einmal im Monat einen G’ttesdienst. Judentum fand in Deutschland im Stillen statt, meist unsichtbar.

Auch mit dem Zuzug vieler tausender Jüdinnen und Juden aus den Ländern der ehemaligen UDSSR in den 1990er Jahren und Anfang der 2000er Jahre wurde jüdisches Leben in Deutschland nicht selbstverständlich. Die deutsche NS-Vergangenheit, die Shoah und ihre Folgen, der Anpassungsdruck in der BRD, der nicht zu überwindende Kontrast zu dem Leben und der Kultur, die vorher da gewesen und dann zerstört waren, verunmöglichten jede jüdische Selbstverständlichkeit. Daran konnten die russischsprachigen Neumitglieder wenig ändern; immerhin stammten sie aus der Sowjetunion, die jahrzehntelang Juden und Judentum unterdrückt hatte.

Was meine unmittelbare Umgebung mir nicht bieten konnte, eröffnete mir das amerikanische Fernsehen: eine vielfältige, vitale jüdische Welt. Es zeigte mir, dass Jüdischsein in den USA derart normal, verbreitet und gleichberechtigt war, dass es nicht nur in nahezu jeder Fernsehserie jüdische Figuren gab, sondern auch in zahlreichen Zeichentrickserien.

Bei den Kleinkindern in Rugrats gab es sogar Episoden, in denen sie jüdische Feiertage wie Pessach und Chanukka feierten. Ohnehin schien Chanukka das nach Weihnachten am häufigsten im Fernsehen zu bestaunende Fest zu sein. Ich sah es in der Sesamstraße; später dann in Friends und natürlich in Die Nanny. Ich hatte manchmal den Eindruck, man würde Bar-Mizwa-Feiern wie in Die Simpsons öfter zu sehen bekommen als Taufe, Kommunion und Konfirmation zusammen.

Noch heute werde ich gefragt, ob meine Mutter so wie jene in Die Nanny sei (ist sie nicht) und ob Juden wirklich so gern und so viel essen würden wie in der Serie (wer isst denn nicht gern und viel?). Ich mochte die Serie sehr. Ich glaube, ich habe sie vier- oder fünfmal in ganzer Länge gesehen und kann bis heute das deutsche Titellied singen: »Sie verkaufte Hochzeitskleider und war sehr mondän … mondän!«. Oft habe ich überlegt, ob ich von der Serie eine humorvolle, augenzwinkernde Vermittlung meiner Religion und Kultur gelernt habe. Zweifellos habe ich durch sie ein gewisses Faible für Barbra Streisand entwickelt.

So manche späte Stunde habe ich mit Filmen und Serien zugebracht, die noch lange vor meiner Kindheit und Jugend gedreht worden sind. Ausgerechnet Alaska etwa, das mir in meiner Jugend eine große Hilfe gewesen wäre, schließlich geht es um einen jungen Mann, der als einziger Jude in einem Kaff im Nirgendwo landet.

Mit diesem Nirgendwo, meiner alten Heimat, verhält es sich wie mit einer Schneekugel: Der Untergrund ist nahezu völlig eben. Und so wie sich die Natur nicht erhebt, tun es auch menschliche Bauten kaum. Es erscheint, als würde der Himmel hier wesentlich mehr Raum einnehmen als in der Stadt, die den Blick gen Horizont doch stets einzuschränken weiß. Das Blick auf dem offenen Land wandert immer wieder nach oben: zu der enormen Weite und Tiefe der Nacht, der Vielzahl der Sterne. Und am Tage zu den riesigen, sich mächtig auftürmenden Wolken. Ein besonders imposantes Schauspiel: Wenn es so windig ist, dass es die dicksten Äste von den Bäumen reißt. Der Himmel färbt sich dunkelblau wie alte Tinte, und die Wolken scheinen so schwer, dass es sie auf den Asphalt niederzwingen müsste. Stattdessen aber fallen Regentropfen, gröber und härter als in gnädigeren Regionen, nieder. Vielleicht muss ein Zurückgedrängter umso aufsehenerregender zur Schau stellen, wie er sein verbliebenes Gebiet beherrscht: durch tosende Unwetter und Nächte, die alles verschlucken.

Das Nirgendwo ist wie gemacht für lange Spaziergänge. Ich ging früher jeden Tag meist ein und denselben Weg entlang spazieren. Er führte meine Straße entlang, immer geradeaus, bis zu einer Weggabelung, an die ein Acker grenzte. Hier musste man wählen: Ging man nach links, kam man zu einer alten Pferdekoppel, die die besten Jahre schon lang hinter sich hatte; ging man nach rechts, verschwand der Weg irgendwann ins Ungewisse. Ich pflegte nur bis zu jener Weggabelung zu gehen. Dort stand ein weiß-rot gestrichener Holzpfahl. Ich tippte ihn an und kehrte um. Die Strecke bis dorthin nutzte ich, um einen bestimmten Gedanken in meinem Kopf zu drehen und zu wenden. Während Joggen wohl dazu dient, den Kopf freizubekommen, füllt ein Spaziergang ihn mit Klarheiten und Wirrnissen an. Ich sah Hasen über die Äcker hasten und Rehe genügsam über die Felder schreiten. Schafe blökten in nebliger Ferne, und ab und an flatterte ein Fasan aufgescheucht aus einem Geäst, wenn ich ihm zu nahe gekommen war. Berührte ich den Holzpfahl – ich nannte ihn den Grübelpfahl –, der unfreiwillig an die Markierung des Nordpols erinnerte, war es Zeit für einen neuen Gedanken auf dem Rückweg. Ich dachte über das Für und Wider in einer Angelegenheit nach, dachte an einen Menschen, an ein vergangenes Ereignis, an Worte für ein neues Gedicht, das ich gerade schrieb, oder hielt ein Zwiegespräch mit G’tt.

Es gab immer schon Orte, die ich am schönsten fand, wenn ich mit ihnen allein war. Oder sie nur richtig genießen konnte, wenn ich mich an ihnen ganz einsam wähnte. So als gäbe es nur die Weite oder Geborgenheit des Ortes und mich und nichts weiter sonst auf der Welt. Keine anderen Menschen. Keine Unterschiede. Keine Verpflichtungen, irgendetwas Dringendes zu tun – oder überhaupt etwas zu tun.

In meiner alten Heimat hatte ich drei Orte, an denen ich am liebsten ganz allein war: der stille, bewaldete Teil vom Tierpark meines Heimatorts, das schier endlose Moor mit seinen Reihern, Kranichen, Schafen und Gewächsen und der im Herzen eines kleinen Waldstücks verborgene winzige jüdische Friedhof.

Gut behütet


Obwohl mein Gedächtnis launisch zu sein scheint und ich mich an vieles aus meiner Kindheit nicht mehr erinnere, trage ich die Erinnerung an meinen Opa, der kurz, bevor ich in den Kindergarten kam, gestorben ist, ganz genau mit mir. Ich könnte viele Tage, die ich mit ihm verbracht habe, vom Aufstehen bis zum Zubettgehen in erschöpfendem Detail nacherzählen.

Meine Eltern, meine Geschwister und meine Großeltern lebten zusammen in einem Haus mit großem Garten. Wir hatten einen Fischteich, Obstbäume, einen üppigen Gemüsegarten, ein Glashaus und ein Häuschen für das Federvieh meines Opas, das er sich zu seiner und meiner Freude hielt. Ich durfte die Hühner und Fasane füttern und darauf achten, wann ihre Eier im Brutkasten zu schlüpfen begannen, um den Küken beim Schlüpfen zu helfen. Die neuen Küken ließ ich dann meist zur Freude meiner Eltern auf dem gedeckten Frühstückstisch herumtapsen. Mein Opa brachte mir allerhand über Gemüsesorten bei und wie wichtig es ist, sich um die Erde mit ihren Geschöpfen und Gewächsen zu kümmern. Wenn wir einige Zeit in der...

Erscheint lt. Verlag 17.4.2021
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Akzeptanz • anfeindungen • Antisemitismus • Beleidigungen • Bräuche • Deutschland • Erbe • Freiheit • Fremdenfeindlichkeit • Fremdenhass • Geschichte • Hass • Jude • Judentum • Jüdisch • Klischees • Miteinander • Rabbi • Religion • Religionsfreiheit • Religiös • Rituale • Toleranz • Traditionen • Übergriffe • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-608-12009-2 / 3608120092
ISBN-13 978-3-608-12009-7 / 9783608120097
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