Die Öffentlichkeit und ihre Feinde (eBook)
304 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12088-2 (ISBN)
Bernd Stegemann, geboren 1967, studierte Philosophie und Germanistik an der FU Berlin und der Universität Hamburg sowie Schauspieltheater-Regie an der Hamburger Theaterakademie. Seit 1999 arbeitet er als Dramaturg/Chefdramaturg an verschiedenen Theatern, zuletzt am Berliner Ensemble. Seit 2005 ist er Professor für Dramaturgie und Kultursoziologie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«.
Bernd Stegemann, geboren 1967, studierte Philosophie und Germanistik an der FU Berlin und der Universität Hamburg sowie Schauspieltheater-Regie an der Hamburger Theaterakademie. Seit 1999 arbeitet er als Dramaturg/Chefdramaturg an verschiedenen Theatern, zuletzt am Berliner Ensemble. Seit 2005 ist er Professor für Dramaturgie und Kultursoziologie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«.
Einleitung
Russische Troll-Armeen, chinesische Hacker, US-amerikanische Konzerne, sie alle bedrohen die liberale Öffentlichkeit, wie sie seit dem 18. Jahrhundert in Europa entstanden ist. Seit der Aufklärung entsteht Öffentlichkeit immer da, wo freie Meinungen sich versammeln, um über Themen zu sprechen, die alle angehen. Wenn hingegen Algorithmen, die vortäuschen echte Menschen zu sein, die Öffentlichkeit mit Stimmungsmache überschwemmen, und wenn Facebook, Google und Co. zielgenaue Beeinflussungen platzieren, die am Ende politische Wahlen entscheiden, so könnte man sie als Feinde der Öffentlichkeit identifizieren. Doch ist die Lage so eindeutig?
Der Strukturwandel der Öffentlichkeit schreitet durch die globale Vernetzung rasend schnell voran. Die beiden momentan auffälligsten Veränderungen sind die technische Möglichkeit, dass jeder Empfänger nun auch ein Sender sein kann. Wer immer sich bei Twitter, Facebook oder TikTok anmeldet, kann seine Stimme und sein Bild um die ganze Welt schicken. Die andere Veränderung betrifft die Unsicherheit, ob die vielen Botschaften überhaupt noch eine menschliche Ursache haben. Immer öfter mischen sich künstlich generierte Stimmen in die Debatten ein. Was das mit der Öffentlichkeit macht, erfahren wir täglich neu, und die Probleme für das individuelle Urteilsvermögen werden mit jedem neuen technischen Tool anspruchsvoller. Die jetzt schon für alle spürbaren Folgen bestehen darin, dass die Öffentlichkeit zu einem stark erhitzten Ort geworden ist. Würde man sie als eine Person beschreiben, so wäre man ungern in ihrer Nähe. Sie ist reizbar, versteht alles falsch, reagiert auf die leisesten Töne mit aggressiver Zurechtweisung, und sie stellt sich taub, wenn sie kritisiert werden soll. Die Öffentlichkeit ist ein unangenehmer Zeitgenosse geworden.[1]
Die Frage, die mich auf den folgenden Seiten beschäftigen wird, schließt an diese Beobachtung an. Spätestens seit der Weltfinanzkrise 2008 nimmt die Polarisierung der Gesellschaften in Europa und Nordamerika zu. Überall entstehen Parteien und Bewegungen, die mit dem Konzept der bürgerlichen Aufklärung hadern. Dabei sind die Proteste gegen den »liberalen Westen« nicht auf eine Weltanschauung festgelegt. Rechts-identitäre Verteidiger gegen eine Islamisierung Europas stehen neben den identitätspolitischen Kämpfern für Minderheitenrechte und den Verächtern kapitalistisch bürgerlicher Freiheiten. Ihnen allen ist gemein, dass sie dem System, so wie es ist, kritisch bis zur Ablehnung gegenüberstehen.
Mit den Klimaprotesten, die seit 2019 vor allem durch Greta Thunberg entstanden sind, kam ein wiederum neuer Ton in die erhitzte Öffentlichkeit. Viele Binnenkonflikte einer spätmodernen Industriegesellschaft erscheinen seitdem in einem anderen Licht. Die wachsende Ungleichheit, die unstillbare Gier und der permanente Veränderungsdruck, die das Kennzeichen unserer nervösen Gegenwart sind, bekommen eine andere Überschrift. Das Anthropozän als das neue Erdzeitalter des Menschen stiftet als Epochenbegriff eine neue Perspektive auf unsere Zeit. Das milliardenfache »Ich« der Menschen ist zum geologischen Faktor aufgestiegen, und ob wir wollen oder nicht, wir werden mit den Folgen unseres Handelns konfrontiert werden. Im Anthropozän wird immer sichtbarer, dass alles menschliche Streben und Planen auf einer Erde stattfindet, die eigene Gesetze und Grenzen hat.
Die Art, wie diese neue Perspektive in der erhitzten Öffentlichkeit aufgenommen wird, und die politischen Entscheidungen, zu denen sie führt, werden die Entwicklung unserer Gesellschaft bestimmen. Bleiben wir gefangen im Wachstumsprimat einer konsumgetriebenen Wirtschaft und diskutieren wir die Widersprüche unserer Zeit weiterhin im Modus überhitzter Debatten? Oder schaffen wir es, die Dimension des Anthropozäns öffentlich sichtbar zu machen, so dass alle anfangen, ihr Leben daraufhin zu befragen? Der Kern dieser Frage lautet also: Ist die überhitzte Öffentlichkeit in der Lage, das Anthropozän angemessen zu begreifen? Die Beantwortung dieser Frage hat weitreichende Konsequenzen. Ohne Öffentlichkeit sind keine demokratischen Veränderungen möglich. Es braucht den vorpolitischen, öffentlichen Raum, in dem Werte und Meinungen durch wechselseitige Begegnungen gebildet werden, um zu demokratischen Entscheidungen zu kommen. Vor allem wenn es um Entwicklungen geht, die den Horizont des aktuell Denkbaren überschreiten, ist eine breite und ergebnisoffene Verständigung notwendig. Denn erst wenn ausreichend viele Menschen ihre Meinung bilden konnten, sind Entscheidungen, die den bisher gültigen Rahmen in Frage stellen, überhaupt möglich.
Dass der Status quo unseres Lebens angesichts des Anthropozäns kategorisch verändert werden muss, mag inzwischen einigen Wenigen bewusst sein. Die Dimension dieser Veränderungen spiegelt sich jedoch in keiner Weise in den Räumen wider, die die Öffentlichkeit diesen Debatten gibt. Und damit ist weniger die Quantität der Aufmerksamkeit gemeint[2] als vielmehr die Art der Kommunikation. Die öffentliche Kommunikation des Anthropozäns verläuft in den Debattenmustern des Holozäns. Dass mit alten Werkzeugen neue Probleme nicht zu bearbeiten sind, ist zwar bekannt, und niemand würde mit einem Schraubenschlüssel einen Softwarefehler im Handy beheben wollen, doch für das Anthropozän stehen die Konsequenzen dieser Erkenntnis noch aus. Es wird noch immer über die Erde gesprochen als wäre sie eine komplizierte Maschine, die im Störungsfall repariert werden kann. Und es wird versucht, Änderungen im Umgang mit dieser Maschine durch Proteste herbeizuführen, die genau so vor Werkstoren im 19. Jahrhundert hätten stattfinden können, oder die so wütend schreien, als wollten sie mit einer viralen Kampagne politisch unkorrekte Meinungen canceln.
Die spätmoderne Öffentlichkeit ist angesichts der Komplexität des Anthropozäns in einem denkbar schlechten Zustand. Doch wie lassen sich die Denkblockaden in der eigenen Gegenwart auflösen? Das erste Hindernis besteht bereits darin, dass die aktuellen Katastrophen nicht daraufhin unterschieden werden können, ob sie Vorboten einer größeren Veränderung sind, oder ob sie zu den normalen Zufällen des Lebens gehören. Es ist schlicht unmöglich, ein Ereignis in der Gegenwart im Hinblick auf alle seine zukünftigen Folgen zu begreifen. Und ebenso schwierig ist es, die wegweisenden von den nebensächlichen Ereignissen zu unterscheiden. Ist das Corona-Virus, das im Jahr 2020 in wenigen Wochen alle Länder der Welt erreicht hat, ein weiterer Vorbote des Anthropozäns, oder gehört es zu den immer wieder auftretenden Seuchen, denen die Menschheit seit jeher ausgeliefert war? Wird man Corona in einigen Jahrzehnten als Anfang vom Ende der globalen Zivilisation bewerten, so wie wir heute die Pest als einen Sargnagel des römischen Imperiums erkennen können? Eine solche Frage ist nicht zu beantworten.
Vielleicht besteht die Antwort auch nicht in einem einfachen Ja oder Nein, sondern in einer sehr viel komplizierteren Beobachtung. Denn eine mögliche Antwort kann lauten, dass das Corona-Virus beides zugleich ist. Es ist eine weitere Seuche, die sich in eine lange Geschichte von ansteckenden Krankheiten einreiht. Und es ist mehr als das, da die Reaktionen der Menschen und Gesellschaften auf diese Seuche neu sind. Das engmaschige Netz biopolitischer Regierungen wird im Seuchenfall sichtbar und führt zu weniger Ansteckungen und Toten. Zugleich wird das Netz der Regeln und Kontrollen selbst öffentlich sichtbar, wodurch die zahlreichen Bruchlinien in den spätmodernen Industriegesellschaften hervortreten. Zwei auf den ersten Blick gegenläufige Erkenntnisse können so gewonnen werden. Der Durchgriff eines biopolitischen Staates auf seine Bevölkerung ist gewaltig und rettet Leben, und zugleich sind die Lebensverhältnisse in der Bevölkerung extrem ungleich. Die Spaltung in das abgehängte untere Drittel, eine zunehmend orientierungslose Mittelschicht und eine kleine Oberklasse wird im unterschiedlichen Ansteckungsrisiko und den Reaktionen auf die Seuchenschutzmassnahmen sichtbar. Doch nicht nur die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft treten durch Krisen hervor, auch die Entwicklung von Gesellschaften wird durch die Probleme, mit denen sie konfrontiert werden, angeregt. Die Richtung, die sie dabei einschlagen, hängt hingegen weniger von dem Problem selbst ab als vielmehr von den Reaktionsmöglichkeiten der Gesellschaft.
Die soziologische Theorie, die sich am hartnäckigsten der Erforschung dieser komplexen Verhältnisse gewidmet hat, ist die Systemtheorie.[3] Ihre Ausgangsbeobachtung besteht darin, dass Systeme nur mit der ihr eigenen Logik auf Probleme reagieren können. Diese Beobachtung geht auf die kybernetische Revolution ...
Erscheint lt. Verlag | 13.2.2021 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Adorno • cancel culture • Demokratie • Fake News • Framing • Frankfurter Schule • Habermas • Hate speech • Kommunikation • Luhmann • Medien • Meinungsfreiheit • Moderne • Polarisierung der Öffentlichkeit • Political Correctness • Social Media • Unfriede • woke |
ISBN-10 | 3-608-12088-2 / 3608120882 |
ISBN-13 | 978-3-608-12088-2 / 9783608120882 |
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