Die Akte Verschickungskinder (eBook)
304 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86667-7 (ISBN)
Hilke Lorenz, geboren 1962, hat sich in mehreren populären Sachbüchern u. a. »Kriegskinder - Das Schicksal einer Generation« (2003, Spiegel-Bestseller) und »Heimat aus dem Koffer« (2009) mit dem Einfluss von Kriegserlebnissen und totalitären Ideologien auf Kinder und die nachfolgenden Generationen beschäftigt. Sie ist Redakteurin bei der Stuttgarter Zeitung. Für ihren Artikel »Ausgeliefert« über die Verschickungskinder gewinnt sie den Diakonie Journalistenpreis Kategorie Print 2020.
Vorwort
Die Wand des Schweigens
von Dr. Herbert Renz-Polster
Nach der (teilweisen) Aufarbeitung der Missbrauchskultur in Kirchen und der Heimerziehung liegt nun endlich ein Buch zur Missbrauchskultur in »Erholungs«-Einrichtungen vor, in die Kinder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts massenhaft verschickt wurden. Danke für diese umfassende Arbeit!
Viele von uns verorten die kinderfeindliche Praxis der Verschickung weit im Nebel der Geschichte. Dass Kinder von ihren Eltern, Freunden und dem häuslichen Umfeld getrennt wurden, um in der Fremde bei fremden Menschen zu leben, das war so im Mittelalter, wo Kinder zur Ausbildung in fremde Haushalte gegeben oder zu Lehrmeistern geschickt wurden. Oder in Kriegszeiten, wo Kinder zu ihrem eigenen Schutz zu Fremden aufs Land gegeben wurden.
Dass die Verschickungen keineswegs von »damals« sind, weiß ich aus meinem eigenen Leben mit einem »Verschickungskind«.
Meine Frau Dorothea wuchs in den späteren 1960er-Jahren in Indien als Tochter von Missionaren auf. Als sie fünf Jahre alt war, galt es, den Koffer zu packen. Die Reise ging über 2000 Kilometer in ein Internat in Südindien, in dem sie keine Menschenseele kannte, geschweige denn jemand ihre indische Gassensprache oder ihre Familiensprache sprach. Mit 20 anderen kleinen Kindern aus aller Herren Länder, mit denen sie einen Schlafsaal teilte, lebte sie ab da unter der Obhut einer englischen Matrone. Um eine »gute Schule« besuchen zu können. Ferien zu Hause gab es zweimal im Jahr, jedes Mal hieß es danach wieder: Koffer packen. Das war, natürlich, alles zu ihrem eigenen »Guten«.
Auch die Verschickungen der Kinder zur Erholung, von denen in diesem Buch die Rede ist, waren, natürlich, zu deren »Guten« – die Ferien von zu Hause sollten den Kindern einen Vorteil bringen, ob gesundheitlicher oder pädagogischer Art.
Dachten damals alle Eltern so? Das wird manchmal pauschal so behauptet. Früher, so wird dann vermutet, kannten die Eltern einfach das mit der »Bindung« noch nicht.
Das stimmt in dieser Pauschalität nicht. Zu allen Zeiten gab es Ethnotheorien oder Alltagskonzepte von Bindung, denen Eltern, Großeltern oder Erzieher*Innen aus dem Herzen heraus folgten. Zu allen Zeiten gab es Eltern, die um die Gefahren und Folgen von Trennungen von Kindern und ihren Bezugspersonen intuitiv wussten. Und die ihre Kinder weniger leicht fortgaben als andere. Oder solche Trennungen sogar als inakzeptabel ansahen und ihre Kinder davor bewahrten, so gut sie konnten. Nein, »das mit der Bindung«, das gab es längst, bevor die Bindung zum Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung wurde. Tatsächlich kam das Bindungsmotiv ja auch in der Wissenschaft schon vor der Formulierung der klassischen Bindungstheorie in sehr unterschiedlichen Schulen immer wieder an die Oberfläche. Man erinnere sich an die Arbeiten von Wilhelm Reich, René Spitz oder Harry Harlow. Oder an die wunderbare Arbeit von Anna Freud, die sie ausgerechnet an Säuglingen durchführte, die zu ihrem eigenen Schutz im Zweiten Weltkrieg aufs Land »verschickt« wurden. Sie stellte darin zusammen mit Dorothy Burlingham fest, dass die Säuglinge, die die Bombenangriffe mit ihren Müttern erlebt hatten, emotional ausgeglichener und besser entwickelt waren als diejenigen Säuglinge, die die Kriegsmonate in ruhigen ländlichen Gebieten, aber getrennt von ihren Müttern verbrachten. Natürlich war das für viele Menschen damals eine Überraschung. Aber allein, dass die Fragestellung verfolgt wurde, zeigt, dass bindungsgeleitete Hypothesen keineswegs von einem anderen Stern waren.
Die Frage nach dem Warum
Liest man dieses Buch, so stellt sich einem immer wieder die bohrende Frage: Warum nur fiel es den an diesem System der Verschickungen Beteiligten – den Eltern, den Kinderärzten, dem pädagogischen Personal – nicht früher auf, dass das, was sie da machten, eben NICHT zum Guten der Kinder war? Warum etwa haben sie die Signale ignoriert, die von den Kindern selber kamen, die Verhaltens»störungen«, der Rückzug, die Ängstlichkeit? Kurz, warum konnte dieses System über Jahrzehnte Kinder traumatisieren?
Ich sehe den Grund darin: Über diesem System hing ein Schweigegelübde – eine Art Omertà, durch die sich die Mafia schützt. Natürlich war sich niemand dieses Gelübdes bewusst, die Wand des Schweigens entstand vielmehr auf dem Boden schadhafter Beziehungen.
Vor Kurzem erzählte mir meine 93-jährige Mutter von einer Verwandten, die ihr als Kind sehr nahestand. Diese Verwandte ging als Jugendliche nach dem Krieg zur Lehre in eine andere Stadt, sie wollte in einem Haushaltswarengeschäft Verkäuferin lernen. »Und Knall auf Fall kam sie wieder zurück. Und seither war sie irgendwie verändert. Wo sie vorher eine strahlende, fröhliche junge Frau gewesen war, war sie ab da in sich gekehrt und misstrauisch.« Was wohl passiert war, dass ein Lehrmädchen in den Nachkriegsjahren »Knall auf Fall« wieder ins Elternhaus zurückkam, mit dem Stigma einer abgebrochenen Lehre? Das blieb allen ein Geheimnis: »Sie hat nie etwas dazu gesagt.«
Wie denn auch – wenn Offenheit doch auf Vertrauen beruht? Auf das Vertrauen, gehört und verstanden zu werden?
Warum verschlossen die Eltern ihre Ohren vor ihren Kindern? Oft aus Scham. Das, was sie vernommen hätten, hätte in ihnen Scham ausgelöst. Scham begleitet den Marsch ins Schweigen.
Die Wand des Schweigens stand aber auch deshalb undurchdringlich da, weil das, was den Kindern in den Einrichtungen widerfuhr, gang und gäbe war. Oft genug wurden die Kinder ja auch zu Hause hart bestraft, entwertet und gedemütigt. Mussten den Teller leer essen. Wurden eingesperrt. Hätten sie ausgerechnet ihren Eltern gegenüber nun Klage wegen gewaltsamer Behandlung durch fremde Erwachsene führen können? Diese Wand sollte erst in den 1970er-Jahren allmählich zu bröckeln beginnen.
Zwischen den Geburtsjahrgängen 1970 und 1985 verdoppelt sich in Deutschland der Anteil der Kinder, die in ihrem Elternhaus nie körperliche Gewalt erfahren haben, von etwa 25 auf etwa 50 Prozent. Heute liegt dieser Anteil bei etwa 63 Prozent. 1997 wird die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt – gegen den Widerstand von immerhin zehn Abgeordneten aus CDU/CSU und FDP (einer von ihnen ist heute Bundesinnenminister, eine andere unterstützt inzwischen die AfD als Wahlkampfhelferin). Erst im Jahr 2000 sichert Deutschland mit seinem Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung allen Kindern das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung zu (und auch das gegen den Widerstand der damals größten Bundestagsfraktion).
Aber da war noch eine dritte Ebene der Omertà. Die Wand des Schweigens stand auch auf dem Fundament eines tief in die Erwachsenen eingegrabenen Glaubens an die Autoritäten. Was die Experten anordneten, war richtig. Was Ärzte zu sagen hatten, galt. Widerspruch gestand man sich nicht zu – und er wurde auch nicht zugelassen. Wenn ein Heimleiter oder ein Arzt einem Kind eine Störung attestierte, dann war das Kind gestört, basta. Kurz, das Schweigen hatte auch eine Herrschaftsdimension. Die Wand bestand auch aus institutionalisierter Gewalt.
Meine Schwester kam im Jahr 1956 als leicht frühgeborenes Kind auf die Welt, meine Mutter durfte sie die ganzen drei Monate ihres Aufenthalts in der Klinik nicht besuchen. Im Alter von zwei bis vier Jahren musste meine Schwester mehrere Schieloperationen über sich ergehen lassen. Jedes Mal war sie wochenlang allein unter fremden Schwestern und Ärzten (Ärztinnen waren damals selten). Wenn sie mit ihren verbundenen Augen den Brei verkleckerte, wurde sie ausgeschimpft. Zum Frühstück gab es am Tisch Kuchen – für die »Erste-Klasse-Patienten«. Die anderen Kinder bekamen Brot.
Die Verschickungen waren zum Guten des Kindes
Ja, wir haben viel gewonnen. Unsere Beziehungen untereinander, auch die zu unseren Kindern, sind menschlicher geworden, gleichwürdiger. Der Bund des Schweigens hat ein Stück seiner Grundlage verloren – die Distanzierung, das mangelnde Vertrauen. Wir sind freier geworden und auch kritischer.
Und doch sollten wir hellhörig werden, wenn wir dieses eine Motiv bedenken, das Eltern damals dazu brachte, ihre Kinder einem faulen System anzuvertrauen: Sie taten es für ihr Kind. Zu seinem Wohle. Wie oft hören wir heute ähnliche Begründungen?
Im Jahr...
Erscheint lt. Verlag | 22.1.2021 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
ISBN-10 | 3-407-86667-4 / 3407866674 |
ISBN-13 | 978-3-407-86667-7 / 9783407866677 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 8,3 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich