Das Gehirn hat kein Geschlecht (eBook)

Wie die Neurowissenschaft die Genderdebatte revolutioniert
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
240 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43780-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Gehirn hat kein Geschlecht -  Daphna Joel,  Luba Vikhanski
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Das Märchen von männlichen und weiblichen Gehirnen Noch immer hält sich der Mythos, Frauen und Männer würden sich in Eigenschaften und Verhaltensweisen grundlegend unterscheiden. Auch die Wissenschaft versuchte lange zu beweisen, dass männliche und weibliche Gehirne von Natur aus unterschiedlich ticken. Die israelische Neurowissenschaftlerin Daphna Joel widerlegt diese Theorie. Anhand neuester Studien und ihrer eigenen bahnbrechenden Forschung belegt sie, dass jedes Gehirn ein einzigartiges Mosaik ist, das sowohl »männliche« als auch »weibliche« Merkmale in sich vereint. Und sie erklärt, warum wir alle verlieren, wenn wir an Geschlechterstereotypen festhalten. Ein faszinierender Blick auf unser Gehirn und ein starkes Plädoyer für die Abkehr von einem System, das Menschen aufgrund ihres Geschlechts in zwei Kategorien einteilt.

Dr. Daphna Joel ist Dozentin für Neurowissenschaften und Psychologie an der Universität Tel Aviv. Sie ist eine Expertin im Bereich Gehirn, Geschlecht und Gender und eine gefragte Keynote-Speakerin auf Kongressen und Symposien auf der ganzen Welt.

Dr. Daphna Joel ist Dozentin für Neurowissenschaften und Psychologie an der Universität Tel Aviv. Sie ist eine Expertin im Bereich Gehirn, Geschlecht und Gender und eine gefragte Keynote-Speakerin auf Kongressen und Symposien auf der ganzen Welt. Luba Vikhanski absolvierte das ›Science, Health and Environmental Reporting Program‹ der New York University. Sie arbeitet als Wissenschaftsautorin am Weizmann Institute of Science, Israel, und ist Autorin dreier Bücher.

Kapitel 2
Eine Geschichte verdrehter Tatsachen


Als im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert überall in Europa egalitäre Ideen zu zirkulieren begannen, standen die Männer vor einem peinlichen Dilemma. Die neuen Prinzipien implizierten, dass alle Menschen, Frauen und Männer, von Natur aus gleich seien. Dieser Gedanke gefährdete die bestehende soziale Ordnung, in der Frauen ausschließlich in unterlegenen Rollen anzutreffen waren. Man befürchtete, Gleichberechtigung würde die Grundpfeiler der Gesellschaft ins Wanken bringen – und vor allem, dass gleichberechtigte Frauen den Männern nicht mehr zu Diensten stehen würden.

Molière parodierte diese Ängste 1672 in seiner Komödie Die gelehrten Frauen. Darin wettert der Ehemann gegen seine Frau und alle anderen, die sich mehr für die Wissenschaft als für ihre häuslichen Aufgaben interessieren: »[S]ie schreibt und träumt nur noch von Büchermacherei; kein Feld der Wissenschaft ist ihr zu hoch und tief […] man weiß, wo jeder Stern auf seiner Bahn hinfliegt, Venus, Saturn und Mars […] und mit dem ganzen Kram, den man im All studiert, weiß keine, was zur Zeit im Suppentopf passiert.«2

Die Wissenschaft war herausgefordert, den politischen Streit über die Rolle der Frauen in einer egalitären Gesellschaft zu lösen. In Schöne Geister schreibt Londa Schiebinger von der Stanford University, die Mission sei gewesen zu zeigen, dass nicht die Männer, sondern die Natur für die Ungleichheit der Geschlechter verantwortlich war. Schiebinger legt dar, wie die wissenschaftliche Erforschung der weiblichen und männlichen Anatomie – auch der Gehirne – zu einer politischen Angelegenheit wurde. Ohne das Axiom der Gleichberechtigung aufzugeben, beschäftigte man sich in medizinischen und wissenschaftlichen Kreisen zunehmend mit den Unterschieden zwischen den Geschlechtern. »Von nun an galten die Frauen im Verhältnis zum Mann nicht mehr einfach als minderwertig, sondern als fundamental verschieden und somit als nicht mehr mit ihm vergleichbar«, schreibt sie.3

Die geschlechtlichen Unterschiede zwischen Frauen und Männern sind offensichtlich, aber unterscheiden sich ihre Körper insgesamt und auch ihre Gehirne? Es stand eine Menge auf dem Spiel: Bejahte man diese Frage, konnte dies dazu verwendet werden, die ungleiche soziale Stellung von Frau und Mann zu begründen; eine Verneinung würde nahelegen, dass Frauen jahrhundertelang ungerechtfertigt unterdrückt worden waren und es großer gesellschaftlicher Umwälzungen bedurfte. Viele Philosophen und andere Denker – nahezu ausnahmslos Männer – tendierten dazu, das Ausmaß der Unterschiede so groß wie möglich zu fassen. Schiebinger zitiert einen französischen Mediziner aus dem achtzehnten Jahrhundert mit den Worten, die Natur mache »durch die besondere Form, die sie den Knochen der Frau gegeben hat, erkennbar, daß der Geschlechterunterschied sich nicht nur in ein paar wenigen oberflächlichen Unterschieden ausprägt, sondern vielleicht das Ergebnis von Unterschieden ist, die so zahlreich sind wie die Organe des menschlichen Körpers.«4

Die Wissenschaft wurde zum Austragungsort, wie geschaffen, um solche Debatten zu führen und zu entscheiden. Im Gegensatz zur Religion, die das Problem hatte, dass sie bis zur naturwissenschaftlichen Revolution der Neuzeit die Minderwertigkeit der Frauen vertreten hatte, galt die Wissenschaft als unparteiisch und insofern geeignet, objektive Argumente im Streit um die Fähigkeiten der Frauen zu liefern. »Vielleicht würde das Messer des Anatomen auch den Unterschied der Geschlechter freilegen und seine Grenzen endgültig umreißen«, schreibt Schiebinger, »vielleicht stellte sich heraus, daß alle Unterschiede, bis hin zu den geistigen, tatsächlich wäg- und meßbar waren.«5

In der Tat, schreibt Stephanie Shields von der Pennsylvania States University, wurden das Wiegen und Vermessen des Schädels und später des Gehirns – das inzwischen als Sitz des Geistes etabliert war – äußerst wichtig.6 Im alten Griechenland hatte Galen die Hoden für den edelsten Körperteil gehalten – was absolut sinnvoll schien, weil sie nur beim »überlegenen« Geschlecht zu finden waren. Aber im siebzehnten Jahrhundert wurde das Gehirn als das vortrefflichste und göttlichste Organ angesehen: Sitz der Sinne, des Verstands und des Urteilsvermögens. Daher war es absolut notwendig zu beweisen, dass Männer die leistungsstärkeren Gehirne hatten.

Anfangs schien das eine leichte Aufgabe zu sein. Der Schädel – von dem man die Größe des Gehirns ableiten zu können glaubte – war bei Frauen im Durchschnitt kleiner als bei Männern. Wie hätte sich die Minderwertigkeit der Frauen besser erklären lassen (nun, abgesehen davon, dass sie keine Hoden besaßen)?

Aber man hatte sich zu früh gefreut. Schließlich besitzt eine ganze Reihe von Tieren größere Schädel als wir. Die von Pottwalen zum Beispiel sind um einiges größer als die von Menschen. Wissenschaftler, die die Überlegenheit von Männern gegenüber Frauen beweisen wollten – aber sicher nicht die von Pottwalen gegenüber Menschen – suchten nach einem Weg, diese unbequeme Tatsache zu umgehen. Sie schlugen vor, dass vielleicht nicht die Größe des Schädels, sondern das Verhältnis von Schädel- zu Körpergröße entscheidend sei.

Doch auch damit erhielt man nicht die gewünschten Ergebnisse. Ja, schlimmer noch, einige Wissenschaftler fanden tatsächlich heraus, dass die Schädel von Frauen in Relation zum Gesamtgewicht ihres Körpers größer waren als die von Männern. Daraus schlossen diese Wissenschaftler jedoch keineswegs, dass Frauen deshalb intelligenter wären. Weiterhin unbeirrt auf der Jagd nach »wissenschaftlichen« Beweisen für die Dominanz des Mannes, legten einige Forscher ihre Ergebnisse so aus, dass sie die geringere Intelligenz der Frau bewiesen. Frauen, so behaupteten sie, ähnelten Kindern, deren Schädel im Verhältnis zu ihrer Körpergröße ebenfalls ziemlich groß sind, was nur bedeuten konnte, dass Frauen weniger entwickelt und demzufolge intellektuell weniger qualifiziert waren als Männer.

Wenn ich heute auf die Geschichte der Hirnforschung zurückblicke, bin ich beeindruckt von der Kreativität, mit der wissenschaftliche Fakten verdreht wurden, um einer gesellschaftlichen oder politischen Agenda zu dienen. Gefiel Wissenschaftlern nicht, was sie herausfanden, interpretierten sie es häufig einfach anders oder nahmen Abstand von dem Messverfahren, welches das unerwünschte Resultat hervorgebracht hatte, und suchten stattdessen nach »besseren« Methoden. Shields zufolge wurden Berge von Papier im Streit über »richtige« Messungen für die Schädelgrößen von Männern und Frauen vollgeschrieben. War es das Verhältnis von Schädel- zu Körpergewicht? Oder war es eine Frage der Knochendichte des Schädels im Vergleich zum übrigen Skelett? Das Problem erwies sich als unlösbar: Bei bestimmten Verfahren waren die Ergebnisse »günstiger« für die Männer, bei anderen für die Frauen.

Die Vorstellung, dass größer besser ist, blieb weiterhin populär, als Wissenschaftler entdeckten, dass nicht nur der Schädel, sondern auch das Gehirn bei Männern durchschnittlich größer war als bei Frauen. Paul Broca, bedeutender Neurowissenschaftler des neunzehnten Jahrhunderts, gehörte zu denen, die sich diplomatischer ausdrückten, aber auch er vertrat entschieden diese Ansicht: »Wir können uns fragen, ob die geringe Größe des weiblichen Gehirns ausschließlich mit ihrer geringen Körpergröße zusammenhängt«, schrieb er 1861 in einem Wissenschaftsmagazin. »Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Frauen durchschnittlich etwas weniger intelligent sind als Männer, ein Unterschied, den wir zwar nicht überbetonen sollten, der aber dennoch existiert.«7 Der prominente Evolutionsbiologe George Romanes sagte es unverblümter: Die geringere Größe des weiblichen Gehirns sei verantwortlich für die geistige Unfähigkeit der Frauen, schrieb er 1887, was »sich überdeutlich in dem vergleichsweisen Mangel an Originalität zeigt, insbesondere bei intellektueller Arbeit auf höherem Niveau.«8 Theodor von Bischoff, ein angesehener Biologe im neunzehnten Jahrhundert, ging sogar so weit zu behaupten, dass Frauen wegen ihrer kleinen Gehirne nicht die notwendigen geistigen Fähigkeiten für ein Studium besäßen und dass zu viel Bildung die Entwicklung der reproduktiven Organe heranwachsender Mädchen behindern könne.9

Diese älteren Versionen des Glaubens, weibliche und männliche Gehirne würden sich fundamental unterscheiden, erscheinen uns heute absurd. Heutzutage, da Frauen Männern in so vielen Studienbereichen zahlenmäßig überlegen sind, erscheint es absurd, dass Wissenschaftler glauben konnten, Frauen seien aufgrund der Größe ihres Gehirns ungeeignet, eine Universität zu besuchen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist nach wie vor so, dass weibliche Gehirne durchschnittlich kleiner sind als männliche. Geändert haben sich nicht die Gehirne, sondern die gesellschaftlichen Normen, die Frauen einst verboten oder sie davon abhielten zu studieren.

Während das Thema der Größe des Gehirns ein Eigenleben entwickelte, hatte sich die Suche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen, die die Überlegenheit des männlichen über das weibliche Geschlecht beweisen sollten, in der Zwischenzeit auf ein neues Feld verlagert. Nachdem im neunzehnten Jahrhundert entdeckt worden war, dass verschiedene Hirnregionen unterschiedliche Funktionen haben, begannen Forscher, diese Regionen bei Frauen und Männern zu vergleichen. Es...

Erscheint lt. Verlag 21.5.2021
Übersetzer Johanna Wais
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Denken • denken lernen • Eigenschaften • Emotionen • Feminismus • Frauenbild • Frauenpsychologie • Frauen und Männer • Gedächtnis • Gender • Genderforschung • Gender-Pay-Gap • Gender Studies • Geschlechterforschung • Geschlechterfrage • Geschlechterunterschiede • Geschlechtsneutrale Erziehung • Hirnforschung • jungen erziehen • Kindererziehung • Kommunikation • Lebensumstände • Mädchen erziehen • Männerbild • Männerpsychologie • Männer sind anders Frauen auch • Margarete Stokowski • metoo • Misogynie • Nature vs. Nurture • Neurowissenschaft • Nominierung Wissenschaftsbuch des Jahres • Patriarchat • Popular science • Populismus • Rollenklischee • Sachbuch Neuerscheinung 2020 • Sachbuch Neuerscheinung 2021 • Sex • Sexismus • Sexualität • typisches Frauen-Verhalten • typisches Männer-Verhalten • typisch Frau • typisch männlich • Verhaltensweisen • Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken
ISBN-10 3-423-43780-4 / 3423437804
ISBN-13 978-3-423-43780-6 / 9783423437806
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