Ob der Islam zu Deutschland gehört... -  Ahmad von Denffer

Ob der Islam zu Deutschland gehört... (eBook)

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2020 | 1. Auflage
184 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7526-3459-4 (ISBN)
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Dieses Buch lädt ein zu einem spannenden Gang durch die Kulturgeschichte der Deutschen. Zweck ist es, der Frage nachzugehen, "ob der Islam zu Deutschland gehört". Um Antworten darauf zu finden, werden unterwegs Haltepunkte aufgesucht und von dort aus verschiedene Besonderheiten von Literatur, Musik und Kunst bis hin zur Zeitgeschichte betrachtet. Überraschungen sind dabei nicht ausgeschlossen. Wer mitgeht, wird mancherlei aus ungewohnten Perspektiven sehen können und darüber hinaus bislang Unbeachtetes und auch Unbekanntes kennenlernen.

Ahmad von Denffer, in der muslimischen Szene Deutschlands wie auch international bekannt geworden als Autor und Übersetzer zahlreicher Schriften zum Thema Islam, war nach dem Studium von Islam- und Völkerkunde Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Islamic Foundation in Leicester und Herausgeber des Nachrichtendienstes "Focus on Christian-Muslim Relations", später Deutschsprachiger Referent des Islamischen Zentrums München und Herausgeber der Zeitschrift "Al-Islam", auch Projektleiter sowie langjähriger Vorsitzender von "Muslime helfen".

DER BLAUE SCHEIN


1

Immer wieder haben wir ihn in der Hand, den blauen Zwanzig-Euro-Schein, beim Bezahlen täglicher Einkäufe. Im Blick sind die Farbe und die Wertangabe, bei den geschulten Damen und Herren an den Kassen dazu noch die Sicherheitsmerkmale. Das Motiv bleibt unbeachtet. Jeder kann sich ja selbst einmal auf die Probe stellen mit der Frage: Was ist denn auf dem Zwanzig-Euro-Schein zu sehen? Vielleicht weiß man noch, daß auf den Euro-Scheinen Bauwerke abgebildet sind. Sie stammen aus verschiedenen Epochen und die Gesamtschau soll, so läßt sich schließen, die Entwicklung der europäischen Kulturgeschichte aufzeigen. Dabei kam übrigens heraus, daß der griechisch-römischen Antike der Geldschein mit dem geringsten Wert zugeordnet wurde. Doch das ist hier nebensächlich, uns interessiert der blaue Schein.

Auf der Zwanzig-Euro-Note sind zwei Fensterbögen zu sehen, die an Kirchenfenster erinnern und unschwer erkennbar dem gotischen Stil angehören. Dessen bekanntestes Merkmal ist der hier abgebildete Spitzbogen. Den Rundbogen der vorausgegangenen Epoche der Romanik findet man auf dem Zehn-Euro-Schein.

Wie man weiß löste die Gotik als Bau- und Kunststil die Romanik seit dem 12. Jahrhundert für die nächsten vier Jahrhunderte ab. In der darauffolgenden Epoche der Renaissance hatte man sich wieder dem antiken Geschmack zugewandt und blickte mit Mißbilligung und sogar Verachtung auf den gotischen Stil des Mittelalters herab.

Die Bezeichnung „Gotik“ hat tatsächlich, wie man vermuten kann, etwas mit dem Volk der Goten zu tun, doch sind diese nicht etwa die Erfinder des gotischen Stils gewesen. Vielmehr galten sie schon aus dem Blickwinkel der zu Ende gehenden Antike als Barbaren, und dieser Wertschätzung erinnerte man sich in der Renaissance, als man meinte, nun die vorausgegangenen dunklen Jahrhunderte überwunden zu haben. Ihre Architektur und Kunst empfand man, im Gegensatz zu den wiederentdeckten antiken Formen, als wertlos und barbarisch, „gotisch“ eben. In diesem Sinn geht der Begriff auf den italienischen Künstler und Kunsthistoriker Vasari aus dem 16. Jahrhundert zurück. Aber wie die Zeiten, so wandeln sich auch die Geschmäcker, und die Gotik wurde wieder hochgeschätzt, als man später, vor allem während der Epoche der Romantik, den Blickwinkel wechselte und sich mit Begeisterung dem Mittelalter zuwandte.

Schon kurz zuvor hatte sich unser deutscher Nationaldichter Goethe der Sache angenommen, und so verbreitete sich in Deutschland die bis heute anzutreffende Auffassung, daß die Gotik mit ihren meisterhaft gestalteten hochragenden Kathedralen in erster Linie eine deutsche Angelegenheit ist. Fast jeder, der den Kölner Dom sieht, stellt sich das so vor. Goethe war 1770 nach Straßburg gekommen, hatte dort das Münster im gotischen Stil gesehen und sagte 1773 in einer kleinen Schrift mit dem Titel „Von deutscher Baukunst“ zur Gotik: „das ist deutsche Baukunst, unsre Baukunst, da der Italiäner sich keiner eignen rühmen darf, vielweniger der Franzos…“ 1

2

Natürlich bestreiten ernst zu nehmende Kunsthistoriker keineswegs anderen europäischen Völkern ihre Gotik, und es ist Konsens, daß sie ihren Anfang in Frankreich nahm. Dessen ungeachtet konnten noch unsere Großeltern, sofern sie Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ lasen, den Wortschwall vernehmen:

„Die faustische Seele der Gotik, schon durch die arabische Herkunft des Christentums in der Richtung ihrer Ehrfurcht geleitet, griff nach dem reichen Schatz spätarabischer Kunst. Das Arabeskenwerk einer unleugbar südlichen, ich möchte sagen Arabergotik umspinnt die Fassaden der Kathedralen von Burgund und der Provence, beherrscht die äußere Sprache des Straßburger Münsters, mit einer Magie in Stein und führt überall, an Statuen und Portalen in Gewebemustern, Schnitzereien, Metallarbeiten, nicht zum wenigsten in den krausen Figuren des scholastischen Denkens und einem der höchsten abendländischen Symbole, der Sage vom heiligen Gral, * einen stillen Kampf mit dem nordischen Urgefühl einer Wikingergotik, wie sie im Innern des Magdeburger Domes, der Spitze des Freiburger Münsters und der Mystik Meister Eckarts herrscht. Der Spitzbogen droht mehr als einmal seine bindende Linie zu sprengen und in den Hufeisenbogen maurisch-normannischer Bauten überzugehen.“ 2

Zum „heiligen Gral“ hat Spengler noch angemerkt: „* Die Gralssage enthält neben altkeltischen starke arabische Züge; aber die Gestalt Parzivals dort, wo Wolfram von Eschenbach über sein Vorbild Chrestien von Troyes hinausgeht, ist rein faustisch.“

Auf die Sage vom Gral können wir noch andernorts kurz zu sprechen kommen, hier soll es nur um die Gotik gehen.

Auch wenn man sich vielleicht erst einmal orientieren muß, um zu verstehen, was Spengler hier und andernorts mit „faustisch“ meint – und man ihm dabei nicht unbedingt folgen möchte, es ist verkürzt gesagt der Primat des Willens zur Naturbeherrschung, nicht des Willens zu Erkenntnis – bleibt doch immerhin: Spengler, den noch heute mancher in den Blick nimmt, wenn er an das kurze Ende des tausendjährige Reiches denkt oder sich vor der „farbigen Weltrevolution“ fürchtet, Spengler wußte, daß die Gotik nicht ohne arabischen Einfluß war. Diesen Einfluß schätzte er als so bedeutend ein, daß er dafür das Wort „Arabergotik“ prägte. Besonders auffällig ist dabei zudem, daß Spengler diese „Arabergotik“ nicht nur mit den Kathedralen Frankreichs in Bezug setzt, sondern auch und gerade mit dem Straßburger Münster, in dem doch Goethe die „deutsche Baukunst“ erkannt zu haben meinte.

Der Spitzbogen, der das Kennzeichen der gotischen Architektur wurde und diese überhaupt erst möglich machte, ist aus der muslimischen Welt nach Europa gekommen:

„Spitzbogen. Diese Architekturform kommt aus dem Orient und ist sehr alt. Sie fand im 11. Jahrhundert Eingang im Abendland, wenn man von den Bauwerken in Spanien und Sizilien absieht, die früheren Datums sind.“ 3

Wer über den Hof der Ibn Tulun-Moschee in Kairo geht und den Blick von dem ungewöhnlichen Minarett abwendet, das ein Reiter auf dem Pferd erklimmen konnte, und auf die Seitenhallen richtet, sieht in langen Reihen einen Spitzbogen nach dem anderen. Ungefragt hat schon der Touristenführer davon berichtet, wann dieses Bauwerk vollendet wurde – im Jahr 265 nach der Hidschra, also 879 abendländischer Zeitrechnung. Vielleicht erinnert man sich, anläßlich einer Frankreich-Reise gelesen zu haben, daß die Gotik dort ihren Ursprung hat und der Bau der großen gotischen Kathedralen um 1150 begonnen wurde. Zu dieser Zeit waren die Abendländer von den ersten Kreuzzügen aus dem Orient zurückgekommen und hatten zahlreiche Anregungen aus der muslimischen Kultur mit nach Hause gebracht. Auch in den Kreuzfahrerstaaten im Nahen Osten errichteten sie ihre Bauten der dortigen Architektur entsprechend. Ebenso war der Spitzbogen in Sizilien und Süditalien, wo im frühen Mittelalter Muslime lebten, gleichfalls zum besonderen Merkmal verschiedener Bauwerke geworden:

„Im architektonischen Stil hatten die sicilianischen Gebäude… durch den Gebrauch des, bald mehr bald weniger in eine Spitze auslaufenden Bogens, mit denen von Cairo Verwandtschaft, was sich aus dem politischen Zusammenhang der Insel mit Ägypten leicht erklärt“. 4

Selbst in Kirchenkreisen weiß man seit langem, „daß die ersten Anfänge des Gothischen Styls nicht in Deutschland, England, Frankreich oder einem anderen Lande der Christenheit zu suchen sind: sondern so gewiß der Spitzbogen das erste Element ist, aus welchem derselbe sich entwickelte, so gewiß ist es auch, daß in der Arabischen Architektur die ersten Anfänge desselben liegen. Die Geschichte bezeugt es also, daß er kein ursprünglich Christlicher sei, sondern gleich dem antiken und Byzantinischen, von einem fremden nicht-Christlichen Volk entlehnt.“ 5

Doch das bedeutet nicht, daß die Gotik und was sie für Europa wie für Deutschland bedeutet, insgesamt als arabisch zu sehen sei. Doch der anfängliche Beitrag aus der muslimischen Welt dazu war eine Voraussetzung dafür. Dieser Beitrag bleibt heutzutage meist unbeachtet. Das gilt ebenso für vieles andere, das aus der muslimischen Kultur in die abendländische und auch die deutsche Kultur überging. Der blaue Schein läßt davon noch mehr erkennen als nur den Spitzbogen. Die Ziffern auf dem Schein und auf jedem unserer Geldscheine, mit deren Hilfe der Wert gekennzeichnet ist, heißen bis heute „arabische“ Ziffern. Die Zwei, die wir verwenden, ist nichts anderes als die seitlich liegende arabische Zwei, die Null eine größer geschriebene Form der arabischen Null. Und sogar unser deutsches Wort „Ziffer“ kommt aus dem Arabischen: sifr bedeutet Null.

Die Araber selbst nannten ihre Ziffern „indische“, weil sie ursprünglich aus Indien stammten. Uns haben sie die Muslime übermittelt. Davor kannten wir...

Erscheint lt. Verlag 26.10.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7526-3459-6 / 3752634596
ISBN-13 978-3-7526-3459-4 / 9783752634594
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