Ausgeliefert (eBook)
448 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491102-1 (ISBN)
Alec MacGillis hat als Reporter für »Washington Post«, »Baltimore Sun«, und »New Republic« geschrieben und ist heute für »ProPublica« tätig. Sein Artikel über das Vorfeld der Wahlen in 2016 hat ihm den »Polk Award« eingebracht. MacGillis wuchs in Massachusetts auf und lebt heute mit seiner Familie in Baltimore. Die Recherche für »Ausgeliefert« hat ihn über ein Jahrzehnt begleitet. Auf seiner Reise hat er mit zahlreichen Menschen gesprochen: mit der zunehmend bedrohten Black Community in Seattle, einem Kartonhersteller in Ohio u.v.m.
Alec MacGillis hat als Reporter für »Washington Post«, »Baltimore Sun«, und »New Republic« geschrieben und ist heute für »ProPublica« tätig. Sein Artikel über das Vorfeld der Wahlen in 2016 hat ihm den »Polk Award« eingebracht. MacGillis wuchs in Massachusetts auf und lebt heute mit seiner Familie in Baltimore. Die Recherche für »Ausgeliefert« hat ihn über ein Jahrzehnt begleitet. Auf seiner Reise hat er mit zahlreichen Menschen gesprochen: mit der zunehmend bedrohten Black Community in Seattle, einem Kartonhersteller in Ohio u.v.m. Tobias Schnettler wurde 1976 in Hagen geboren und studierte Amerikanistik. Er arbeitet als Übersetzer bei Marburg und hat zuletzt unter anderem Bücher von Nell Zink, Andrew Sean Greer und John Ironmonger übersetzt. Bert Schröder wurde 1976 in Wilhelmshaven geboren und arbeitet als freier Übersetzer in Hamburg.
Genau der richtige Ton für diese "American Horror Story", die Europa eine Warnung sein sollte.
Eine spannende Analyse einer Entwicklung, deren Ausmaße man noch gar nicht vollständig überblicken kann. Dieses Buch bietet einen Anfang.
Dieses Buch belegt, wie der Online-Händler Amazon die Gesellschaft verändert.
"Ausgeliefert" versteht sich jedenfalls als fundiert begründete Anklage der rapide wachsenden ökonomischen Ungleichheit insbesondere in den USA
MacGillis liefert aber nicht nur eine beeindruckend umfangreiche Faktensammlung. Herausragend ist auch, dass er nicht die Digitalisierung als Schuldigen für die Fehlentwicklung ausmacht.
Das Buch ist in einem packenden Reportage-Stil geschrieben und zeigt an vielen Beispielen, wie sich die Gesellschaft immer stärker verändert, wie sich das Land spaltet
liest sich mal wie ein guter Wirtschaftskrimi, mal wie ein zu Herzen gehender Roman aus der Wirklichkeit
MacGillis hat ein anregendes Buch geschrieben, mit dem sich die Auseinandersetzung lohnt.
Einleitung
Der Keller
Hector Torrez,[1] 61 Jahre, wohnte im Keller, weil seine Frau es von ihm verlangte. Er hatte nichts Falsches getan, hatte sich keines Ehebruchs schuldig gemacht. Er arbeitete bloß am falschen Ort.
Ironischerweise hatte er diesen Job auf Drängen seiner Frau angenommen. Er war elf Jahre arbeitslos gewesen, seit er in der Folge der Finanz- und Bankenkrise von 2007 seinen mit 170000 Dollar im Jahr dotierten Job in der Tech-Branche verloren hatte. Er war durch ein tiefes Tal gegangen, hatte unter Niedergeschlagenheit und Depressionen gelitten – das Los eines Mannes Mitte 50 in einer Branche, die die Jugend vorzieht. Die Familie war mit dem Einkommen seiner Frau Laura über die Runden gekommen, die Schulungen für medizinische Diagnosegeräte anbot, doch irgendwann mussten sie ein kleineres Haus beziehen, ebenfalls in dem Vorort von Denver. Sie waren 2006 aus der Bay Area nach Colorado gezogen, weil sie die 5500 Dollar für die monatliche Hypothekenzahlung nicht mehr aufbringen konnten.
Irgendwann hatte Laura ihm ein Ultimatum gestellt: Wenn Hector keinen Job fand, durfte er nicht bleiben. Und so war er ausgezogen und zu seiner Verwandtschaft zurückgekehrt, Einwanderern aus Mittelamerika, die sich Jahrzehnte zuvor in Kalifornien niedergelassen hatten. Er wohnte bei der Familie seiner älteren Schwester im Speckgürtel von San Francisco. Wenn er das Haus verließ, musste er abends vor halb neun zurück sein, um seinen Schwager nicht zu stören, der jeden Morgen um halb fünf aufstand, um ins Silicon Valley zu fahren – als einer von mehr als 120000 Bay-Area-Angestellten, die täglich länger als drei Stunden pendelten.
Nach fünf Monaten hatte Hector Lauras Angebot zurückzukommen angenommen – unter der Bedingung, dass er sich einen Job suchte, den er ein halbes Jahr später im Juni 2019 schließlich fand. Eines Tages fuhr er an einem Lagerhaus vorbei, las auf einem Schild, dass dort Arbeitskräfte gesucht wurden, und hielt an, um nachzufragen. Es hieß, er könnte gleich am nächsten Tag anfangen.
Er arbeitete nachts, vier Nächte die Woche, meist von 17:15 bis 7:15 Uhr. Er wurde überall eingesetzt – stapelte zum Versand bestimmte Kisten auf Anhänger, lud Pakete auf Paletten und sortierte Umschläge und Päckchen, was bedeutete, dass er die gesamte Schicht hindurch am Fließband stand (im Lagerhaus gab es keine Stühle) und Hunderte Artikel pro Stunde von einem Karussell auf ein anderes lud, wobei er darauf achten musste, dass der Warencode für die Scanner lesbar war.
Er hob viele Kisten, von denen manche bis zu 25 Kilogramm wogen – die Herausforderung bestand weniger im Gewicht an sich, als vielmehr darin, dass man das Gewicht des Pakets nicht an seiner Größe erkennen konnte. Körper und Verstand wussten nie, was sie erwartete. Eine Zeitlang trug er einen Rückenprotektor, doch darunter wurde es so heiß, dass er das Gefühl hatte, bei lebendigem Leibe gebraten zu werden. Sein Ellbogen entzündete sich. Seinem Fitbit-Armband nach legte er pro Schicht mehr als 19 Kilometer zurück. Er glaubte, das Gerät müsse sich irren und besorgte sich einen Schrittzähler, doch der gab den gleichen Wert aus. Vor Schichtbeginn trug er betäubende Salbe auf, während der Arbeit nahm er Ibuprofen, und wenn er nach Hause kam, packte er seine Füße und Ellbogen in Eis und nahm Bittersalz-Fußbäder. Er wechselte die Schuhe, um den Druck auf die gesamte Sohle zu verteilen. Pro Stunde verdiente er 15,60 Dollar, ein Fünftel seines Gehalts in der Tech-Industrie, und unendlich viel mehr, als er während seiner Arbeitslosigkeit zur Verfügung gehabt hatte.
Das Lagerhaus in Thornton, 26 Kilometer nördlich von Denver, war erst 2018 eröffnet worden. Der Geschäftsführer, Clint Autry, arbeitete schon seit sieben Jahren für das Unternehmen und hatte bei der Eröffnung zahlreicher anderer Standorte im ganzen Land mitgewirkt;[2] er war auch in die Tests der Funkwesten eingebunden gewesen, die Arbeiter trugen, damit Zusammenstöße mit den mobilen Robotern, die große Wannen voller Waren transportierten, vermieden wurden. »Das A und O besteht darin, das Produkt auf dem schnellsten, kostengünstigsten Weg zum Kunden zu bringen«, erklärte Autry bei der feierlichen Eröffnung des Gebäudes.
Mitte März 2020, als der Corona-Lockdown einsetzte, nahm der Stress im Lager, genau wie überall im gesamten Land, zu. Die Bestellungen stiegen auf Vorweihnachtsniveau an, weil Millionen von Amerikanern zu dem Schluss kamen, Internetshopping sei die einzig sichere Art einzukaufen. Hector war erst neun Monate im Unternehmen, und doch war er der einzige von 20 Teilnehmern seiner Orientierungsgruppe, der noch dort arbeitete – die anderen hatten entweder mit dem Arbeitstempo nicht mithalten können, hatten sich verletzt oder waren gekündigt worden, weil sie nach einer Verletzung das Limit der entschuldigten Fehltage überschritten hatten. Jetzt nahm die Fluktuation sogar noch zu, weil viele Mitarbeiter sich dem immer größeren Stress und dem Ansteckungsrisiko, begünstigt durch die Enge im Lager, nicht mehr aussetzen wollten. Da es immer weniger Arbeiter gab, stieg der Druck auf die verbleibenden. Das Unternehmen verlangte, dass Hector Überstunden leistete – fünf Zwölf-Stunden-Schichten pro Woche. Durch die längeren Schichten und die Verkürzung der wöchentlichen Erholungszeiten um einen Tag verschlimmerte sich seine Ellbogenentzündung.
Was seinem engsten Kollegen passiert war, erfuhr er nicht von seinen Vorgesetzten, sondern von anderen Angestellten. Der Kollege, ein Mann Mitte 40, kam eines Tages nicht mehr, und Hector war davon ausgegangen, dass er einfach gegangen war, wie so viele andere. Doch dann kam die Nachricht, dass er das Virus habe und dass er sehr krank geworden sei. Dies erzählte Hector Laura, die sich daraufhin Sorgen um ihre Familie, vor allem um ihre alte Mutter machte, die bei ihnen wohnte und unter chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) litt. Und so verbannte Laura ihren Mann in den Keller. Der war nicht fertig ausgebaut, doch sie stellten ein Bett auf und besorgten einen kleinen Kühlschrank, eine Mikrowelle und eine Kaffeemaschine. Hector schlich sich hoch, wenn er ins Bad musste.
Laura ärgerte besonders, dass sie über nichts informiert worden waren. Hector war weder die Krankheit seines Kollegen mitgeteilt worden, noch hatte er Hinweise bekommen, wie dem Risiko einer Ansteckung zu begegnen sei. Es gab keine kostenlose Hotline, die er anrufen konnte. Als Laura auf der Firmenwebseite nach Informationen für Mitarbeiter suchte, wie mit solchen Situationen umzugehen sei, fand sie lediglich einen Eintrag, in dem die Firma stolz verkündete, was der Konzern alles unternehme, um die Krise zu meistern. »Kann sein, dass sie viel machen«, sagte sie, doch das Unternehmen »macht auch bei jedem Schritt auf dem Rücken seiner Angestellten Profit, die nicht geschützt werden und deren Familien nicht geschützt werden.«
Sie bereute es ein wenig, Hector zu dieser Stelle überredet zu haben. »Die nennen sich selbst einen Technologiekonzern, aber eigentlich ist das ein Ausbeuterbetrieb«, sagte sie. »Die haben unsere Wirtschaft und das ganze Land in der Hand.«
Wie alle großen Krisen zeigte die Pandemie von 2020 die Schwäche der Nationen auf, die sie angriff. Im Falle der USA bestand diese Schwäche in der außerordentlichen Ungleichheit zwischen den einzelnen Orten und Gemeinden. Als das Coronavirus das Land erreichte, traf es zunächst die reichen Bezirke, die enger mit ihresgleichen auf der ganzen Welt verbunden waren als mit den heruntergekommeneren Orten nebenan. Seattle, Boston, San Francisco, Manhattan. Doch schon nach wenigen Wochen war das Virus in die weniger privilegierten Bezirke eingedrungen, als hätte ein unfehlbarer Instinkt es zu denen geführt, die am verletzlichsten waren, bei denen es den größten Schaden anrichten konnte: in der Bronx, wo die bestätigten Fälle mit doppelt so großer Wahrscheinlichkeit tödlich endeten als in anderen Teilen der Stadt;[3] im Zentrum von Queens, wo es in kleinen Häusern wütete, in denen die großen Familien von Taxifahrern und Restaurantangestellten aus Bangladesch oder Kolumbien lebten und wo ein Krankenhaus von einem Jungen verlangte, dass er das Geld für die Einäscherung seiner Mutter aufbrachte, während sein Vater noch auf der Intensivstation lag;[4] in Detroit, wo weit mehr Menschen im Verlauf der Pandemie sterben würden als in Seattle, San Francisco und Austin zusammengenommen; und in der kleinen Stadt Albany, Georgia, wo eine einzige Trauerfeier eine Ansteckungswelle auslöste, durch die innerhalb weniger Wochen mehr als 60 Menschen starben – in einem County mit gerade einmal 90000 Einwohnern.[5] »Das schlug ein wie eine Bombe«, sagte der Coroner des Countys. »Nach der Trauerfeier ist jeden Tag jemand gestorben.«
Die unterschiedlich starken Auswirkungen sollten niemanden überraschen, denn diese Zerrissenheit des Landes war für jeden sichtbar und wurde mit jedem Jahr deutlicher, egal wohin man reiste. Man fuhr zum Beispiel aus den Bergen West Virginias, aus dem westlichen Virginia oder dem westlichen Maryland in die...
Erscheint lt. Verlag | 24.3.2021 |
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Übersetzer | Tobias Schnettler, Bert Schröder |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Abwicklung • amazon • Ausbeutung • Donald Trump • George Packer • Gerechtigkeit • Gesellschaftsporträt • Hillbilly-Elegie • Investigativer Journalismus • J. D. Vance • Jeff Bezos • Jill Lepore • Piketty • Schere zwischen Arm und Reich • Ungleichheit • US-Wahlen |
ISBN-10 | 3-10-491102-9 / 3104911029 |
ISBN-13 | 978-3-10-491102-1 / 9783104911021 |
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