Demokratie im Präsens (eBook)

Eine Theorie der politischen Gegenwart

(Autor)

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2020 | 1., Originalausgabe
217 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76734-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Demokratie im Präsens - Isabell Lorey
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Inmitten der Krisen und Bedrohungen der liberalen Demokratie entwickelt Isabell Lorey eine Demokratie im Präsens, die politische Gewissheiten ebenso aufbricht wie lineare Vorstellungen von Fortschritt und Wachstum. Mit ihrer queer/feministischen politischen Theorie formuliert sie eine grundlegende Kritik an maskulinistischen Konzepten von Volk, Repräsentation, Institution und Multitude. Und sie entfaltet einen originellen Begriff von präsentischer Demokratie, der auf Sorge und Verbundenheit, auf der Unhintergehbarkeit von Verantwortlichkeiten beruht - und ohne vergangene Kämpfe und aktuelle Praktiken sozialer Bewegungen nicht zu denken ist.



<p>Isabell Lorey ist Professorin für Queer Studies an der Kunsthochschule für Medien in Köln und arbeitet für die Publikationsplattform transversal texts des European Institute for Progressive Cultural Policies (eipcp).</p>

Isabell Lorey ist Professorin für Queer Studies an der Kunsthochschule für Medien in Köln und arbeitet für die Publikationsplattform transversal texts des European Institute for Progressive Cultural Policies (eipcp).

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Rousseau


Versammlung statt Repräsentation

Die Form von Demokratie, die wir heute als selbstverständlich betrachten, ist das Ergebnis von Auseinandersetzungen und Kämpfen, die sich im 18. Jahrhundert in Europa zuspitzten. Es waren Kämpfe um Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen, die sich seit dem 17. Jahrhundert auch in Rechtskodizes manifestierten. Die englische Habeas-Corpus-Akte aus dem Jahr 1679, die das Recht einer*s Verhafteten auf unverzügliche Haftprüfung durch einen Richter festschrieb, gilt in der europäischen Freiheits- und Rechtsgeschichte als entscheidender Schritt zu einer rechtsstaatlichen Verfassung: einer juridisch konstituierten Macht.[1]  Zehn Jahre später wurden in der Bill of Rights die Rechte des englischen Parlaments festgeschrieben, 1787 wurde die US-amerikanische Verfassung mit den Anfangsworten »We, the people« verabschiedet und 1789 sollten im Verlauf der Französischen Revolution in der Erklärung der universellen Menschen- und Bürgerrechte die individuellen Rechte jeder einzelnen Person garantiert werden.

Die ersten bürgerlichen Verfassungen gehören allerdings zur Geschichte der Sieger, der besitzenden Männer, und nicht zu der der Frauen, der Bauern, der Sklav*innen und all derjenigen, deren Kämpfe nicht dermaßen erfolgreich waren, dass sie sich konstitutionell niederschlugen. Es waren Kämpfe, wie jene in den Federalist Papers von 1787/1788 im Zuge der US-amerikanischen Verfassungsgebung, in denen um die Notwendigkeit der Repräsentation des people, des demos gestritten wurde. Die Vertreter der repräsentativen Demokratie, die eine bundesstaatliche, präsidiale Exekutive favorisierten, setzten sich gegen die Verfechter einer Konföderation durch. Demokratie wurde als »Tyrannei der Mehrheit« diskreditiert, die Republik als gerechtere repräsentative Form dagegengestellt.[2]  1791 gab Olympe de Gouges ihre Erklärung der Rechte der 25Frau und Bürgerin in Druck, in der sie gegen die männlichen Privilegien protestierte, die durch die Französische Revolution in Verfassungsrang erhoben werden sollten. Sie bezeichnete das neue bürgerliche Regime als »Tyrannei« der Männer und verlangte in ihrer feministischen Verfassungsschrift eine neue egalitär-revolutionäre Konstitution.[3]  Ohne auch nur eine Verfassungsänderung erreicht zu haben, wurde sie zwei Jahre später durch die Guillotine hingerichtet. Im gleichen Jahr, als de Gouges’ revolutionär-feministische Erklärung erschien, begann – inspiriert von der Revolution in Frankreich, die Menschen- und Bürgerrechte versprach – in der französischen Kolonie Saint-Domingue die haitianische Revolution der Sklav*innen. Erst dreizehn Jahre später, 1804, konnte die napoleonische Armee besiegt und die Republik Haiti durch seine nun freien schwarzen Bürger ausgerufen werden. Es war der erste unabhängige Staat in Lateinamerika.[4]  Auch in Haiti waren die Bürgerrechte nur Männern vorbehalten.[5]  Doch schon die Ermächtigung der schwarzen Männer war nicht nur für die damaligen weißen französischen Bürger eine »undenkbare Geschichte«, die in der europäischen Siegerhistorie bis in die Gegenwart bagatellisiert wird.[6] 

Nur die aus den »westlichen« Revolutionen hervorgegangenen US-amerikanischen und französischen Verfassungen der männlichen und weißen Bürger gelten in der politischen Theorie als entscheidende Ereignisse zur demokratischen Implementierung von allgemeinen Normen wie Freiheit und Gleichheit. Auch wenn diese nicht für alle galten, war – so die dominante Erzählung – 26mit den jeweiligen Verfassungen ein konstitutioneller Anfang einer bürgerlichen Gesellschaft gemacht, der mit dem Fortschrittsversprechen verbunden werden konnte, dass Demokratie sich verändert und auch auf diejenigen ausgeweitet werden kann, die am Anfang nicht gemeint waren, nicht gezählt und nicht vertreten wurden, denen die Demokratie nicht zugetraut wurde, wenn es um Rechte und Partizipation, um Freiheit und Gleichheit ging. Einem verbreiteten Verständnis von demokratischer Entwicklung zufolge zeigt die Geschichte, dass obwohl die Konstitutionen des 18. Jahrhunderts voller Ausschlüsse und voller Legitimationen von Domestizierung und Hierarchisierung waren, die anfänglich Ausgeschlossenen in den folgenden Jahrhunderten für ihre fortschreitende Inklusion kämpfen konnten.[7]  Repräsentative Demokratie ist in diesem Verständnis dynamisch, nicht ein für alle Mal bestimmt, sie verändert sich aufgrund gesellschaftlicher Transformationen und Auseinandersetzungen. Es ist ein Verständnis von repräsentativer Demokratie, dem nicht nur Europa und der »Westen« als Maß von Fortschritt und Entwicklung eingeschrieben sind, sondern auch weiße und maskulinistische Vorherrschaft. Das Paradigma dieses Fortschrittsverständnisses ist noch immer dermaßen hegemonial, dass die grundlegenden Parameter liberaler Demokratie – wie Repräsentation, ›Volk‹ oder die Figur des autonomen Individuums – bis heute nicht ausreichend dekonstruiert wurden, um den bürgerlichen Herrschaftsrahmen nachhaltig aufzubrechen.

Stellen wir deshalb erneut grundlegende Fragen: Wenn Demokratie die Macht oder Herrschaft des demos meint, was bedeutet es, dass der demos (selbst) herrschen soll? Ist der demos das ›Volk‹? Wer gehört dazu und wer nicht? Wie soll diese Form der (Selbst-)Regierung vonstattengehen? Wer soll wie partizipieren? Sollen alle, die als Bürger gelten, direkt teilnehmen oder vermittelt über Repräsentation? Wer war der demos im 18. Jahrhundert und als was galten all die anderen, die nicht dazugehörten und dennoch regiert werden mussten? Wie konstituieren die aus der Politik Ausgeschlossenen die Parameter der rechtlichen Verfasstheit einer bürgerlichen Ge27sellschaft? Lässt sich die einmal festgelegte Verfassung durch kontinuierliche Inklusion der Ausgeschlossenen aufbrechen? Oder muss die maskulinistische Verfasstheit nicht vielmehr grundlegend und als zugrunde liegende Strukturierung infrage gestellt werden?

Zur Legitimation von Demokratie als Herrschaft und Selbstregierung des demos wurden in der modernen europäischen politischen Philosophie vielfältige Überlegungen angestellt. Die zentrale Frage von Demokratie war schon in der Zeit der Aufklärung nicht nur die nach der Selbstregierung des demos, sondern auch jene, in welcher Form die ungezählten Vielen vom Aufstand abgehalten, beherrschbar und regierbar gemacht werden können. Die Zerstreuten und schwer Regierbaren, jene, die den Herrschenden immer wieder als bedrohlich und tendenziell unbeherrschbar erschienen, wurden in der Geschichte der politischen Theorie nicht selten mit dem lateinischen Wort multitudo bezeichnet, im Französischen und Englischen als multitude, Vielheit.

Ein wiederkehrender Topos, der die Auseinandersetzungen seit den Kämpfen um bürgerliche Verfassungen durchzieht, ist der des Verhältnisses von Zahl und Versammlung. Wer zählt, wenn der demos sich versammelt? Wer zählt zum demos? Wer zählt nicht dazu? Ist der demos überhaupt zählbar? Als ideale Praxis der Selbstregierung des demos gilt in der politischen Philosophie jene Praxis, die aus der griechischen Antike bekannt ist: Alle freien Bürger einer Stadt oder eines Reiches versammeln sich auf dem Marktplatz, debattieren und entscheiden über die gemeinsamen Angelegenheiten. Doch als im 18. Jahrhundert um die Aktualisierung dieser Form der (Selbst-)Herrschaft gestritten wurde, überwogen die Zweifel an der Umsetzbarkeit einer »direkten« oder »absoluten« Demokratie für größere Staatsgebilde. Der demos der Bürger galt allein schon aufgrund seines zahlenmäßigen Umfangs als nicht versammelbar und damit als nicht unmittelbar in der Lage, sich selbst zu regieren. Doch wenn der Bürger sich nicht selbst regieren konnte, drohte er in der Multitude verloren zu gehen unter jenen, die gar nicht gezählt wurden, wenn es um die Bürgerversammlung ging: die Frauen, die Kinder, die Armen, die Sklav*innen und die Fremden, die nicht in der Lage waren, als ein souveränes Subjekt zu agieren.[8] 

28Diese Fragen...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Politik • Staat • STW 2327 • STW2327 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2327 • Theorie
ISBN-10 3-518-76734-8 / 3518767348
ISBN-13 978-3-518-76734-4 / 9783518767344
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