Young China (eBook)
352 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2294-0 (ISBN)
Zak Dychtwald, geboren 1990, ist Globetrotter, Schriftsteller, Consultant und Keynote-Speaker. Er ist CEO und Leiter der Forschungsabteilung der Young China Group, einem Think-Tank, der sich auf China und die Interaktion zwischen China und der Welt konzentriert und Unternehmen sowie politische Institutionen berät. Nach seinem Abschluss an der Columbia University im Jahr 2012 zog Zak nach China, um die Sprache zu lernen, das Land zu erkunden und Chinas junge Leute in ihrem eigenen Land kennenzulernen. Dabei erkannte er, dass das China, über das wir uns im Westen unterhalten, ein vollkommen anderes ist als das neue China, das er erlebte.
Zak Dychtwald, geboren 1990, ist Globetrotter, Schriftsteller, Consultant und Keynote-Speaker. Er ist CEO und Leiter der Forschungsabteilung der Young China Group, einem Think-Tank, der sich auf China und die Interaktion zwischen China und der Welt konzentriert und Unternehmen sowie politische Institutionen berät. Nach seinem Abschluss an der Columbia University im Jahr 2012 zog er nach China, um die Sprache zu lernen, das Land zu erkunden und junge Chinesen in ihrem eigenen Land kennenzulernen. Dabei erkannte er, dass das China, über das wir uns im Westen unterhalten, ein vollkommen anderes ist als das neue China, das er erlebte.
1. PROSTITUIERTE, DIE ORGANE STEHLEN: MYTHEN, SPRACHE UND ANDERE MAUERN ZWISCHEN CHINA UND DER WELT
九零后 – jiǔ líng hòu: Die Generation, die China als die »Nach-90er« bezeichnet. Manchmal auch »Netzgeneration«, »Ich-Generation« oder »Erdbeergeneration« genannt – weil ihre Angehörigen unfähig sind, »Bitteres zu essen«.
Als Philip, mein chinesischer Patenonkel, erfuhr, dass ich vorhatte, in den Zug nach Shenzhen zu steigen, schickte er mir eine Nachricht, um mich vor den dort lauernden Gefahren zu warnen.* Er ließ mir oft solche Mitteilungen zukommen: Direkt nach unserer ersten Begegnung hatte er mir geschrieben, dass er meinen Geburtstag in seinem Kalender markiert habe. Einige Wochen später meldete er sich bei mir, um mich an die Grippeimpfung zu erinnern. Kurz darauf schickte er eine weitere Mitteilung, in der er mir riet, mich ernsthaft mit Bok Choy als Vitaminquelle zu beschäftigen, die ich als Student gut gebrauchen könne. Einmal bekam ich eine besonders schöne Nachricht, in der er mir mitteilte, es wäre ihm eine Ehre, mir seinen Enkel vorstellen zu dürfen.
Sein jüngstes Schreiben enthielt eine Warnung vor Shenzhen, der chinesischen Metropole, die an Hongkong angrenzt. Philip hielt es für nötig, mich auf drei Gefahren hinzuweisen: Zunächst waren da Taschendiebe und gefälschte Produkte, die meine Rückkehr nach Hongkong erschweren könnten. Und dann kam die dritte:
Lass dich unter keinen Umständen mit Straßennutten ein. Abgesehen davon, dass du dir eine Krankheit einfangen und ausgeraubt werden könntest, werden sie wahrscheinlich auch deine inneren Organe stehlen.
Mit den besten Wünschen
Philip, dein chinesischer Pate
Ich war eher zufällig in Hongkong gelandet. An der Columbia University, an der ich eingeschrieben war, muss man ausgezeichnete Fremdsprachenkenntnisse nachweisen, um im Ausland studieren zu können. Hongkong war ein sprachliches Schlupfloch. Da ich als Studienanfänger ein Semester Chinesisch belegt hatte, kam ich für eine Bewerbung an der Universität Hongkong infrage. Ich war noch nie in Asien gewesen. Trotz meiner schlechten Erfahrungen mit dem Chinesischen – ich hatte für diesen Kurs mehr Zeit aufgewandt als für alle anderen und trotzdem die schlechteste Note während meines gesamten Grundstudiums bekommen – wollte ich das Land kennenlernen, von dem viele sagen, hier fände die Zukunft statt.
Doch wenige Wochen nach meiner Ankunft war ich zu meiner Enttäuschung zu der Überzeugung gelangt, dass das Leben in Hongkong für einen Amerikaner keine besondere Herausforderung darstellte. Hongkong war so etwas wie ein Schaufenster für das übrige China. Der Stadtstaat war mehr als ein Jahrhundert eine britische Kolonie gewesen und erst 1997 nach Ablauf des Pachtvertrags an China zurückgegeben worden. Die Leute sprachen Englisch. Viele von ihnen waren stolz darauf, vollkommen verwestlicht zu sein. Zu Hause in den Vereinigten Staaten hatte mir jeder erzählt, die Zukunft liege in China, aber alle meine Professoren in Hongkong schienen zu sagen, dass Hongkong nicht China war.
Hinter der Grenze lag Shenzhen, das zum wirklichen China gehörte. Die Stadt war früher einmal eine Ansammlung von Fischerdörfern gewesen; bis Mitte der 1970er-Jahre lebten im Mündungsgebiet des Perlflusses lediglich etwa 30 000 Menschen. Unter Maos Führung hatte das chinesische Regime bewusst darauf verzichtet, die wirtschaftliche Entwicklung des Gebiets voranzutreiben: Es diente als Pufferzone zwischen dem kommunistischen China und dem kapitalistischen Hongkong. In den 60er-Jahren, auf dem Höhepunkt von Maos Herrschaft, begab sich Philips Familie in Lebensgefahr, als sie sich über die Grenze in die New Territories von Hongkong aufmachte, um in der »Perle des Orients« ein besseres Leben zu finden. Philip war damals noch ein Kind.
Im Jahr 1976 starb Mao; zwei Jahre später öffnete China seine Tore zur Welt und für das westliche Kapital. Mein Wirtschaftsprofessor an der Universität Hongkong drückte es so aus: »Die Sonderwirtschaftszone Shenzhen wurde zum Versuchsfeld für jede Menge wirtschaftliche Experimente. Die meisten funktionierten.« Innerhalb eines Jahrzehnts vervierfachte sich die Bevölkerung von Shenzhen und schwoll auf zwölf Millionen Menschen an. Das Gebiet verwandelte sich von einem rückständigen Außenposten des Reichs in die viertgrößte Wirtschaftsmetropole Chinas, die in der Rangliste der größten Wirtschaftszentren der Welt auf den 23. Platz kletterte und so den Beinamen »Über-Nacht-Stadt« erwarb. Zu jener Zeit machte der Witz die Runde, die Universität Shenzhen habe keine historische Fakultät, weil sie nur die Zukunft kenne. Ich hatte großen Respekt vor Philip, aber er konnte mich nicht davon abbringen, Chinas aufstrebende Metropole zu besuchen.
Die Ausstattung des Zugs, der auf der Strecke zwischen Hongkong und Shenzhen verkehrte, ähnelte der eines typischen U-Bahn-Wagens: Kunststoffsitze und metallene Haltestangen. Wie jeden Tag überquerten zahlreiche Pendler im Anzug die Grenze. Mein Sitznachbar hatte in einer Tasche auf seinem Schoß zwei große Milchpackungen. Er erzählte mir, auf dem Festland bezahlten die Leute viel Geld für Milchprodukte aus Hongkong, da die Milch in China verunreinigt sei. Mir gegenüber saß ein Mädchen, das mich neugierig anstarrte. Seine Mutter wies es zurecht. Ich winkte ihm zu, und das Kind lachte. Die Zeit verging wie im Flug.
Als wir nach einer Stunde am Bahnhof von Shenzhen ausstiegen, wurden wir getrennt: Es gab Schlangen für Ausländer, Festlandchinesen und Einwohner Hongkongs, die immer noch ein Einreisevisum brauchten. Ein Beamter stempelte meinen Pass ab und winkte mich durch in die Bahnhofshalle von Shenzhen Luohu, durch die jedes Jahr acht Millionen Grenzgänger geschleust werden.
Als ich aus der Zollabfertigungshalle trat, brach eine Sturzflut aus Körpern und Stimmen über mich herein. Verkäufer, die alles Mögliche anpriesen, von Obst über Anzüge bis hin zu Ratschlägen zu internationaler Versandlogistik und Fabrikflächen samt Quadratmeterangaben, belagerten die Reisenden beim Ausgang. Eine Handvoll »Milchhändler« bedrängte den Mann, der neben mir gesessen hatte, und wenige Augenblicke später verschwand er mit ein paar Geldscheinen in der Hand in der Menge. Ich war wie benommen von dem lärmenden Gewimmel. Ich sah Schilder in englischer Sprache und fragte auf Englisch nach dem Weg, aber anders als in Hongkong sprach hier niemand Englisch. Ich versuchte, in der Unterkunft anzurufen, in der ich ein Zimmer gebucht hatte, aber mein Handy funktionierte auf dem Festland nicht. Ich wollte eine Coca-Cola kaufen, um mich für einen Moment hinzusetzen und mich zu sammeln, aber nach einer scheinbar vielversprechenden Geschäftsverhandlung wurde mir stattdessen eine Schachtel mit 20 Packungen Taschentücher ausgehändigt.
Das Schlimmste war, dass ich immerzu an Philips Warnung denken musste. Ich wurde den Gedanken nicht los, dass all diese Menschen – die Frau, die einen mit Orangen gefüllten Weidenkorb trug, die Taxifahrer, die mich mit Handzeichen zum Einsteigen aufforderten, die Frauen mittleren Alters, die mir zu verstehen gaben, dass ich in ihre Uhrenläden kommen sollte – in Wahrheit Prostituierte waren, die sich verschworen hatten, meine inneren Organe zu stehlen.
Nachdem ich eine Stunde auf dem Bahnhofsplatz gesessen hatte, beschloss ich, nicht umzukehren. Ein Kommilitone hatte mir die Adresse meiner Unterkunft in chinesischer Schrift auf einem Zettel notiert, den ich nun einem Taxifahrer hinhielt. Er hatte Mühe, den nicht in der auf dem Festland gebräuchlichen vereinfachten Schrift, sondern in traditionellen chinesischen Schriftzeichen verfassten Text zu entziffern. Nachdem er sich mit ein paar Kollegen beratschlagt hatte, rief er »Very good!« und bedeutete mir, in sein Taxi zu steigen. Ich begann, mir Sorgen zu machen, als er jede meiner Fragen mit »Very good!« beantwortete. Nach einer halben Stunde Fahrt hatte ich meine Berechnungen abgeschlossen: Bei diesem Tempo würde ich mir schlimmstenfalls einen Arm brechen, wenn ich auf der Stadtautobahn aus dem dahinkriechenden Wagen sprang. Mein Arm würde wieder heilen. Meine Nieren hingegen würden nicht nachwachsen.
Drei Stunden später saß ich am Stadtrand im Künstlerviertel von Shenzhen mit drei Studenten der örtlichen Universität an einem Tisch. Es waren zwei junge Männer und eine junge Frau. Ich hatte mein Ziel unversehrt erreicht. Das Künstlerviertel war hip und modern, eine Mischung aus Brooklyn und Seoul. Den Studenten war aufgefallen, dass ich in einem Restaurant allein an einem Tisch saß; also hatten sie mich aufgefordert, mich zu ihnen zu gesellen. Sie trugen Fliegerjacken, Cabans und enge Jeans. Einer der jungen Männer trug einen Hut verkehrt herum auf dem Kopf und hatte sich das Wort FREEDOM aufs Handgelenk tätowieren lassen. Die anderen beiden waren ein Paar. Sie saßen eng beieinander, ihre Hand auf seinem Arm, seine Hand auf ihrem Knie.
Die Kommunikation war mühsam. Bevor sie eine Frage in Englisch stellten, berieten sie sich jedes Mal mehrere Minuten. Und ich konnte nur einen verständlichen chinesischen Satz sagen: »Ich will nicht.« Das Gespräch war nicht sehr ergiebig – es war eine rudimentäre Diskussion über Filme –, und wir aßen die meiste Zeit in einer sonderbaren, glücklichen Stille. Sie bemühten sich, gute Gastgeber zu sein, und beschränkten sich...
Erscheint lt. Verlag | 31.8.2020 |
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Übersetzer | Stephan Gebauer |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Sozialpsychologie | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
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ISBN-10 | 3-8437-2294-3 / 3843722943 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2294-0 / 9783843722940 |
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