Das kooperative Gen (eBook)

Evolution als kreativer Prozess

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
224 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-26805-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das kooperative Gen - Joachim Bauer
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Wie wir wurden, was wir sind
Die Evolution ist weniger ein »Kampf ums Dasein« als vielmehr ein kreativer Prozess - das verdeutlicht Bestsellerautor Joachim Bauer auf der Grundlage aktuellster Forschungsergebnisse. Nicht zufällige Mutation bestimmt die Evolution, sondern aktive Veränderungen der Gene, die den Prinzipien Kooperation, Kommunikation und Kreativität folgen.

Prof. Dr. med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Arzt und Psychotherapeut. Nach erfolgreichen Jahren an der Universität Freiburg lehrt und arbeitet er heute in Berlin. Für seine Forschungsarbeiten erhielt er den renommierten Organon-Preis. Er veröffentlichte zahlreiche Sachbücher, u. a. »Warum ich fühle, was du fühlst«. Zuletzt erschienen bei Blessing/Heyne der SPIEGEL-Bestseller »Selbststeuerung - Die Wiederentdeckung des freien Willens« (2015), »Wie wir werden, wer wir sind - Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz« (2019) und »Fühlen, was die Welt fühlt« (2020).

Wir dürfen beginnen, über die Evolution im Sinne der Entwicklung von Systemen zu denken, anstatt sie als eine Wanderung mit verbundenen Augen durch das Dickicht der reinigenden Selektion anzusehen.1

James A. Shapiro

1 Einführung


Denkverbote, Dogmatismus und Mangel an Vorstellungskraft sind das Ende jeder Wissenschaft. Barbara McClintock gelangen vor über fünf Jahrzehnten einige Entdeckungen, deren Tragweite wir erst heute begreifen. Die amerikanische Genetikerin blieb über dreißig Jahre hinweg eine in der »Scientific Community« isolierte Kollegin. Sie konnte ihre Forschungsergebnisse lange in keinem der angesehenen internationalen Journale publizieren, auch in Lehrbüchern wurde sie zunächst totgeschwiegen. Nur Joshua Lederberg, einer der Pioniere der modernen Genforschung 2, war sich nicht ganz sicher: »By god, that woman is either crazy or a genius.« 3 Erst als viele Jahre später zahlreiche weitere Forscher wiederholt die gleichen Beobachtungen wie McClintock machten, wurde die Genialität ihrer Entdeckungen erkannt, und schließlich kam man nicht umhin, ihr sogar den Nobelpreis zu verleihen. Dies ist lange her – sie erhielt ihn 1983. Aber die Fragen, um die es damals ging, sind heute aktueller denn je. Die innerhalb der letzten Jahre durchgeführte vollständige Aufklärung zahlreicher Genome4 – nicht nur des Menschen, sondern auch vieler weiterer, vor allem sogenannter niederer Spezies – versetzt uns seit kurzem in die Lage zu erkennen, nach welchen Regeln sich Gene entlang der Evolution entwickelt haben.5 Und erst vor diesem Hintergrund zeigt sich nun, welch immense Tragweite die Beobachtungen McClintocks tatsächlich hatten.6

Ihre Entdeckung eines dynamischen, unter dem Einfluss äußerer Stressoren sich gelegentlich fast schlagartig selbst verändernden Genoms7 wurde durch die Genforschung der vergangenen zehn Jahre – und deren Ergebnisse werden den Kern dieses Buches bilden – eindrucksvoll bestätigt. Was diese außergewöhnliche Frau mit einem bahnbrechenden Experiment bereits 1944 in den legendären Labors von Cold Spring Harbor in der Nähe von New York entdeckte, widerspricht aber der vorherrschenden darwinistischen Denkschule, deren moderne Variante innerhalb der heutigen Biologie als »New Synthesis«-Theorie bezeichnet wird. 8 Dass McClintocks Arbeiten und das, was nach ihr folgte, bis heute nicht zu einer längst fälligen Neukonzeption unserer Vorstellungen über die Evolution geführt haben, hat damit zu tun, dass das Denken darüber, was Biologie ist, in erheblichem Maße auf Vorstellungen basiert, die zum Teil aus der mechanischen Physik und zum Teil aus der Ökonomie stammen. Das Statement des renommierten und einflussreichen Evolutionsbiologen Ernst Mayr – »Die Biologie ist keine zweite Physik«9 – vermochte nicht zu verhindern, dass tonangebende Theoretiker unserer Zeit Lebewesen immer noch als »Maschinen« betrachten.10 Doch würden Genome wie eine Maschine arbeiten, das heißt, ohne die Fähigkeit lebender Systeme, die eigene Konstruktion nach inneren Regeln immer wieder neu zu modifizieren und auf äußere Stressoren kreativ zu reagieren, wäre das »Projekt Leben« wohl schon vor langem gescheitert.

Wir spüren heute, mit welch weitreichenden Bedrohungen durch globale Veränderungen unserer Umwelt wir bald konfrontiert sein könnten. Für die Entwicklung, die das Biotop Erde derzeit zu verkraften hat, stehen die Megazentren unserer Zivilisation, deren nächtliches Leuchten bis in die Erdumlaufbahn zu sehen ist. Doch unser Globus war für das Leben, dessen Teil wir sind, zu keiner Zeit ein gemütlicher Platz. Wer auf die Abfolge schwerer und schwerster Katastrophen zurückblickt, denen die Biosphäre im Verlauf der Erdgeschichte ausgesetzt war, wird sich, nicht ohne ein gewisses Erstaunen, vor allem eines fragen: Wie konnte das Leben unter solchen Umständen überhaupt überleben?

Mit diesem Buch möchte ich Einblick in neuere, wissenschaftlich gesicherte, in der breiteren Öffentlichkeit bisher aber nur wenig – oder gar nicht – wahrgenommene Erkenntnisse geben. Ich werde zeigen, über welche inhärenten, also in ihnen selbst angelegte biologische Strategien Organismen und ihre Gene verfügen, um Herausforderungen zu meistern, und wie es möglich war, dass sich das Leben, herausgefordert durch eine respektable Serie äußerst bedrohlicher Situationen, die unser Globus im Verlauf der Evolutionsgeschichte durchlief, behaupten konnte.

Charles Darwin 11 erkannte, dass alle jemals vorhandenen Lebensformen dieser Erde untereinander durch einen gemeinsamen evolutionären Stammbaum verbunden sind, vor allem aber, dass nicht Schöpfung im naiven Sinne dieses Wortes, sondern eine biologische Entwicklung immer wieder neue Spezies (den Menschen eingeschlossen) aus bereits vorhandenen Arten des Lebens entstehen ließ und vermutlich weiterhin entstehen lassen wird.12 Zusätzlich zu dieser fundamentalen, durch unzählige Beobachtungen solide gesicherten Erkenntnis formulierte Darwin jedoch drei weitere Aussagen, die ebenfalls zentrale Dogmen des modernen Darwinismus (der schon erwähnten »Synthetischen Theorie«13) sind.

Das erste Dogma lautet: Veränderungen, die in bestehenden Arten entlang der Evolution auftreten und potenziell zur Entstehung neuer Spezies führen, unterliegen ausschließlich dem Zufallsprinzip, sowohl was ihre Qualität als auch – und dies bezieht sich bereits auf die zweite zentrale Aussage – was den Zeitpunkt ihres Auftretens betrifft. Das zweite Postulat des Darwinismus lautet, dass biologische Veränderungen, denen Spezies unterworfen sind, ausschließlich langsam-kontinuierlich bzw. linear auftreten. Das dritte darwinistische Dogma hebt die Bedeutung der Selektion hervor. Bekanntlich können nicht alle Varianten, welche die Evolution hervorbringt, dauerhaft bestehen. Der Prozess der Auslese oder Selektion wird vom Darwinismus – unter Auslassung des primären Prinzips biologischer Kooperativität 14 – dahingehend interpretiert, dass ausschließlich maximale Fortpflanzung darüber entscheide, wer den »Kampf ums Überleben« gewinne. Das Prinzip der Selektion begünstige daher nur solche (zufälligen) Veränderungen von Organismen, die der effektiveren Fortpflanzung dienen, diesbezüglich bestehe ein fortwährender »Selektionsdruck«.

Darwins ursprüngliche Theorie, die Selektion basiere auf einem – sowohl zwischen Individuen als auch zwischen Arten – untereinander geführten Vernichtungskampf, wurde, nachdem ihre wissenschaftliche Unhaltbarkeit nicht mehr zu bestreiten war, vom modernen Darwinismus still und leise zu Grabe getragen.15 Für die katastrophalen historischen Konsequenzen, die Darwins Aussage, auch der Mensch müsse einem fortwährenden Kampf ausgesetzt bleiben 16, nach sich zog 17, hat der Darwinismus, der sich neuerdings gern auch als moralische Instanz aufspielt 18, niemals Verantwortung übernommen.

Die Strategien, mit denen lebende Systeme sich in der Evolution entwickeln und verändern, folgen in wesentlichen Teilen nicht dem Zufallsprinzip, sind also nicht »random«, wie sich anhand einer inzwischen unabweisbaren wissenschaftlichen Datenlage zeigen lässt. Zudem war die Entwicklung der Arten im Pflanzen- und Tierreich kein kontinuierlicher, linearer Prozess, sondern erfolgte überwiegend in Schüben, die – nach allem, was wir heute wissen – im Zusammenhang mit massiven Veränderungen der jeweiligen geophysikalischen bzw. klimatischen Umwelt standen. Weiterhin zeigen zahlreiche Beobachtungen, dass Arten zwar – dies war und ist allerdings eher eine Binsenweisheit als eine besondere Erkenntnis – einer natürlichen Auslese unterworfen sind, dass sich Gene aber keineswegs nur in Richtung maximaler Reproduktionsfähigkeit entwickeln, sondern auch »neutrale« (das heißt keinen Selektionsvorteil gewährende) neue Varianten hervorbringen können. Bei weitem nicht alles, was im Verlauf der Evolution entstand, ist dem Druck der Selektion geschuldet.

Das »Verhalten« lebender Systeme, in kreativer Weise neue genetische Varianten zu erproben und dabei immer komplexer zu werden, liegt in ihnen selbst begründet. Vor dem Hintergrund der neueren Erkenntnisse erweist sich das Genom als ein mit einem biologischen Sensorium ausgestattetes Organ mit einer beachtlichen Fähigkeit, sich anzupassen und sich, angestoßen durch Veränderungen der jeweiligen Umwelt, selbst zu verändern.19 Gene bzw. Genome folgen drei biologischen Grundprinzipien (die sich, nebenbei bemerkt, außerhalb der Biosphäre nicht finden lassen): Kooperativität, Kommunikation und Kreativität.

Veränderungen unserer Umwelt sind für das Leben nicht die einzige Gefahr. Noch bevor wir zu einem mehr oder weniger nahen Zeitpunkt vom globalen Wandel unserer heutigen Umwelt endgültig eingeholt werden, könnten wir es geschafft haben, uns selbst ein Ende zu bereiten (ich bin diesbezüglich ausgesprochen pessimistisch). Was uns hier gegenübertritt, ist ein durchaus »natürliches«, zur Biosphäre zählendes Phänomen, es ist das Potenzial menschlicher Destruktivität. Die Dynamik destruktiver menschlicher Aggression hat die Naturforscher seit jeher beschäftigt. Die Chancen, dass wir uns selbst vernichten, stehen relativ gut. Ob die Spezies Mensch ein Teil der Zukunft dieser Erde sein wird, ist völlig unsicher.

Aber noch leben wir. Obwohl es bei einigen Evolutionsbiologen neuerdings wieder en vogue geworden ist, dem Menschen keinen besonderen Status innerhalb der Artengemeinschaft zuzusprechen, so sind wir doch vermutlich die...

Erscheint lt. Verlag 13.4.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Biologie • eBooks • Evolution • Forschung • Genetik & Gentechnik • Genforschung • Kommunikation • Kooperation • Kreativität • Mutation • Prozess
ISBN-10 3-641-26805-2 / 3641268052
ISBN-13 978-3-641-26805-3 / 9783641268053
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