Das ist keine Propaganda (eBook)

Wie unsere Wirklichkeit zertrümmert wird - Ein SPIEGEL-Buch
eBook Download: EPUB
2020
304 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-22838-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das ist keine Propaganda - Peter Pomerantsev
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Wenn Informationen zur Waffe werden, befinden wir uns alle im Krieg
Die Versuche, unsere Meinung zu manipulieren, sind außer Kontrolle geraten. Hacker, Bots, Trolle, Putin, der IS oder Trump - sie alle wollen nicht einfach nur »alternative Fakten« in die Welt setzen, sie sind vielmehr dabei, unsere Realität zu verändern. Peter Pomerantsev nimmt uns mit an die Front des Desinformationskrieges, der inzwischen überall auf der Welt tobt. Er trifft Twitter-Revolutionäre und Pop-up-Populisten, Islamisten und Identitäre, die aus der Zertrümmerung von Ideen wie »wahr« und »falsch« ihren Nutzen ziehen. Sein Buch ist eine brillant erzählte Reportage und ein intellektuelles Abenteuer zugleich. Unter anderem reiste Peter Pomerantsev in die Philippinen und interviewte dort die, mittlerweile mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Journalistin Maria Ressa und sprach mit ihr über den Kampf gegen Desinformation und über die Aufdeckung von Korruption.

Noch nie ist das Ausmaß der Angriffe, denen unsere Wirklichkeit ausgesetzt ist, so eindrucksvoll vor Augen geführt worden.

Peter Pomerantsev forscht als Senior Visiting Fellow am Institute of Global Affairs an der London School of Economics über die Manipulation von Informationen. Er ist ein gefragter Experte und publiziert neben seiner wissenschaftlichen Arbeit unter anderem in The Atlantic oder der Financial Times. Sein erstes Buch »Nichts ist wahr und alles ist möglich« (2015), in dem er seine Erfahrungen als TV-Produzent im Russland der Jahrtausendwende schildert, wurde preisgekrönt und in zahlreiche Sprachen übersetzt.

TEIL 1


TROLLSTÄDTE

Der Gegensatz von Redefreiheit und Zensur war eine der offensichtlichen Konfrontationen des 20. Jahrhunderts. Nach dem Kalten Krieg schien die Redefreiheit vielerorts gesiegt zu haben. Was aber, wenn die Mächtigen den »Informationsüberfluss« nutzen, um neue Unterdrückungsmittel an die Hand zu bekommen und das Ideal der Redefreiheit auf den Kopf zu stellen, um Dissens auszuschalten, gleichzeitig aber genügend Anonymität zu wahren, um es jederzeit leugnen zu können?

Desinformationsarchitektur


Man nehme zum Beispiel die Philippinen. 1977, als meine Eltern in die Fänge des KGB gerieten, herrschte in diesem Inselreich im Westpazifik Oberst Ferdinand Marcos, ein von den USA gestützter Militärdiktator, unter dessen Regime, wie ich auf der Webseite von Amnesty International erfahre, 3257 politische Gefangene getötet, 35 000 gefoltert und 70 000 eingesperrt wurden. Marcos vertrat eine recht theatralische Auffassung von der Rolle, die Folter bei der Befriedung der Gesellschaft spielen könnte. Anstatt Getötete einfach verschwinden zu lassen, ließ er 77 Prozent der Leichen als Warnzeichen am Straßenrand ausstellen. Bei manchen Opfern hatte man das Hirn entfernt und den leeren Schädel mit ihren Unterhosen ausgestopft. Andere waren zerteilt worden, sodass die Menschen auf dem Weg zum Markt an einzelnen Körperteilen vorbeikamen.1

Marcos’ Regime stürzte 1986 angesichts von Massenprotesten und weil die Amerikaner ihn nicht weiter stützten und Teile der Armee sich gegen ihn wandten. Millionen Menschen gingen auf die Straße. Es sollte ein Neubeginn werden: das Ende von Korruption und Menschenrechtsverletzungen. Marcos ging ins Exil und lebte bis zu seinem Tod auf Hawaii.

Heute wird man in Manila vom Geruch von fauligem Fisch und Popcorn, von Abwasser und Speiseöl empfangen, der einem auf den Bürgersteigen den Atem nimmt. Allerdings kann man kaum von Bürgersteigen sprechen. Breite Trottoirs, auf denen man spazieren gehen kann, gibt es kaum. Stattdessen balanciert man auf schmalen Simsen entlang der Fassaden von Shoppingmalls und Wolkenkratzern, neben einem der tosende Lavastrom des Straßenverkehrs. Zwischen den Malls erstrecken sich tiefe Slumtäler. Hier stolpert man nachts über die Füße von Obdachlosen, die in Alufolie eingewickelt auf der Straße schlafen, findet Bars, in denen Boxkämpfe zwischen Kleinwüchsigen dargeboten werden, und Karaokelokale, in denen man Truppen von Frauen, deren Kleider so eng sind, dass sie wie Zangen in ihre Oberschenkel kneifen, mieten kann, um mit ihnen koreanische Popsongs zu singen.

Tagsüber navigiert man zwischen Malls, Slums und Wolkenkratzern in einem Netz aus schmalen, von Menschen wimmelnden Gehwegen, die sich mitten in der Luft zwischen den mehrstöckigen Autobahnen entlangwinden. Man zieht den Kopf ein, um nicht an Pfeiler der Hochstraßen zu stoßen, taumelt angesichts der Kakophonie aus Hupen und Sirenen, die von der Straße hochtönt, und steht plötzlich in Augenhöhe vor einer Frau, die auf einem riesigen Werbeplakat Dosenfleisch isst. Diese Plakatwände findet man überall; sie trennen Slums von Wolkenkratzern. Von 1898 bis 1946 – nur unterbrochen von der japanischen Besetzung zwischen 1942 und 1945 – wurden die Philippinen von den Vereinigten Staaten verwaltet. Seitdem gibt es hier US-Marinestützpunkte, und das, was den US-Truppen als Verpflegung serviert wurde, ist zu einer Delikatesse geworden. Auf einem Plakat füttert eine glückliche Hausfrau ihren gut aussehenden Ehemann mit Thunfischstücken aus einer Konservendose. Anderswo hängt das Bild eines fetttriefenden, gebratenen Schinkens über einem dampfenden Fluss, in dem Straßenkinder baden; dahinter verspricht eine Leuchtreklame: »Jesus wird dich retten«. Es ist ein katholisches Land. Der fünfzigjährigen amerikanischen Kolonisierung ging eine dreihundertjährige spanische voran. »Wir hatten dreihundert Jahre Kirche und fünfzig Jahre Hollywood«, spotten die Filipinos. In Shoppingmalls gibt es Kirchen, in denen man beten kann, und Wachen, welche die Armen fernhalten. Manila ist eine Stadt mit 22 Millionen Einwohnern, aber so gut wie keinem öffentlichen Raum. In den übermäßig gekühlten Malls atmet man parfümierte Luft: In den billigeren, in denen sich eine Fast-Food-Filiale an die nächste reiht, dominiert Lavendel. Die schickeren duften leicht nach Zitrone. So oder so riecht es nach Toilette. Man wird den Latrinengestank nie los, ob durch die parfümierte Luft drinnen oder das Abwasser draußen.

Rasch fällt einem auf, dass dauernd und überall für Selfies posiert wird. Jeder tut es: der schwitzende Typ in schmierigen Flipflops, der den Metallkasten von einem öffentlichen Bus fährt, die chinesischen Mädchen, die in der Mall auf ihre Cocktails warten. Die Filipinos machen weltweit die meisten Selfies, sie sind die fleißigsten Nutzer der sozialen Medien und Versender von SMS. Manche führen dies auf die Bedeutung der Familie und persönlicher Beziehungen zurück, die notwendig sind, um in einem Land mit ineffektiver Regierung zurechtzukommen. Außerdem sind die Selfies nicht notwendigerweise narzisstisch: Man vertraut Menschen, deren Gesicht man sehen kann.

Und mit dem Aufstieg der sozialen Medien sind die Philippinen zum Brennpunkt einer neuen Art der Manipulation im digitalen Zeitalter geworden.

In einer der Mall-Oasen zwischen den Wolkenkratzern mit ihren himmelblauen Fensterscheiben treffe ich »P.«. Er besteht darauf, dass sein Name nicht genannt wird, ist aber offensichtlich hin- und hergerissen und erpicht auf Anerkennung für die Kampagnen, deren Erfolg er sich nicht öffentlich als Verdienst anrechnen kann. Er ist Anfang zwanzig, gekleidet wie ein Mitglied einer koreanischen Boyband und er ist ziemlich aufgedreht, ganz gleich, um welches Thema es geht, ob er nun von einer Präsidentschaftswahl spricht oder dem blauen Häkchen in seinem Instagram-Konto (das den Status anzeigt).

»Ich bin glücklich, wenn ich Menschen kontrollieren kann«, gesteht er. »Vielleicht ist das schlecht. Aber es befriedigt mein Ego, etwas tief in mir … Es ist, als würde ich zu einem Gott, auf der digitalen Seite.« Dabei klingt er keineswegs unheimlich, sondern eher wie jemand, der in einer musikalischen Farce die Rolle des Bösewichts spielt.

Er begann seine Online-Karriere mit fünfzehn, als er eine anonyme Webseite einrichtete, auf der man dazu ermuntert wurde, über seine romantischen Erlebnisse zu sprechen. »Erzählt mir von euren schlimmsten Trennungen«, forderte er die Nutzer zum Beispiel auf. Oder: »Was war euer heißestes Date?« Er zeigt mir eine seiner Facebook-Gruppen mit über drei Millionen Mitgliedern.

Noch in der Schulzeit gründete er neue Gruppen, jede mit einem anderen Profil: Eine war beispielsweise der Freude gewidmet, eine andere der geistigen Gesundheit. Als er sechzehn war, traten die ersten Firmen an ihn heran, damit er ihre Produkte nennt. Er verfeinerte seine Technik. Innerhalb einer Woche brachte er eine Community dazu, über »Liebe« zu sprechen, zum Beispiel darüber, für wen ihre Mitglieder am meisten empfanden. In der nächsten verlagerte er das Gespräch auf die Sorge um geliebte Menschen und die Angst, sie zu verlieren. Dann wies er wie nebenbei auf ein Produkt hin: Nehmt dieses Mittel; es wird dazu beitragen, das Leben eurer Lieben zu verlängern.

Angeblich hatte er mit zwanzig auf seinen Plattformen zusammengenommen 15 Millionen Follower. Der Provinzjunge aus bescheidenen Verhältnissen konnte sich plötzlich eine Eigentumswohnung in einem Wolkenkratzer in Manila leisten.

Werbung war das eine, die nächste Herausforderung aber war die Politik. In dieser Zeit bestand politische PR darin, Journalisten dazu zu bewegen, über bestimmte Themen zu schreiben. Aber wie wäre es, wenn man den gesamten Diskurs in den sozialen Medien prägen könnte?

Er bot mehreren Parteien seine Dienste an, aber der einzige Kandidat, der darauf einging, war Rodrigo Duterte, ein Außenseiter, der in den sozialen Medien ein neues Mittel sah, das ihm zum Sieg verhelfen konnte. Eines von Dutertes zentralen Themen als Kandidat war der Kampf gegen Drogenkriminalität. Er prahlte sogar damit, in seiner Zeit als Bürgermeister von Davao City, tief im Süden des Landes, mit dem Motorrad herumgefahren zu sein und Drogendealer erschossen zu haben. Zu diesem Zeitpunkt besuchte P. bereits die Universität, wo er vom Little-Albert-Experiment in den 1920er Jahren hörte, das darin bestand, dass man ein Baby immer, wenn es eine weiße Ratte sah, furchteinflößenden Geräuschen aussetzte, was dazu führte, dass es vor allen pelzigen Tieren Angst hatte.2 Da kam P. auf die Idee, etwas Ähnliches mit Duterte zu versuchen.

Als Erstes gründete er in verschiedenen Städten eine Reihe von Facebook-Gruppen, die völlig harmlos wirkten, wie einfache Diskussionsforen über das, was in der Stadt passierte. Der Trick bestand darin, sie im lokalen Dialekt einzurichten, von denen es auf den Philippinen Hunderte gibt. Nach einem halben Jahr hatten die Gruppen jeweils etwa 100 000 Mitglieder. Dann begannen P.s Administratoren, jeden Tag eine Geschichte zu posten, in der über Verbrechen berichtet wurde, immer zum Zeitpunkt der größten Internetnutzung. Die Storys waren durchaus real, doch dann begannen P.s Leute Kommentare zu schreiben, in denen sie die Verbrechen mit Drogen verknüpften: »Wie es heißt, war der Mörder ein Drogendealer«, oder: »Es war das Werk eines Pushers«. Nach einem Monat brachten sie zwei Verbrechensmeldungen pro Tag, wieder einen Monat später drei.

...

Erscheint lt. Verlag 2.4.2020
Übersetzer Klaus-Dieter Schmidt
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel This is not Propaganda. Adventures in the War Against Reality
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte AfD • Breitbart • Donald Trump • eBooks • Facebook • Fake News • Friedensnobelpreisträgerin • Maria Ressa • Populismus • Präsidentschaftswahl • Putin • Rappler • RT Propaganda • Russland desinformation • Russland Ukraine • Selenskyj • Twitter
ISBN-10 3-641-22838-7 / 3641228387
ISBN-13 978-3-641-22838-5 / 9783641228385
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