Gleichgewicht der Macht (eBook)
784 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490590-7 (ISBN)
Daron Acemoglu, geboren 1967 in Istanbul, ist Professor für Wirtschaftswissenschaften am renommierten Massachussetts Institute of Technology (MIT). Er gehört zu den zehn meist zitierten Wirtschaftswissenschaftlern und ist Träger der John-Bates-Clark-Medaille, die als Vorstufe zum Nobelpreis gilt. 2019 wurde ihm der Weltwirtschaftliche Preis in Kiel zuerkannt, als Vordenker einer weltoffenen, marktwirtschaftlichen und sozialen Gesellschaft. 2024 wurde er gemeinsam mit James A. Robinson und Simon Johnson mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet.
Daron Acemoglu, geboren 1967 in Istanbul, ist Professor für Wirtschaftswissenschaften am renommierten Massachussetts Institute of Technology (MIT). Er gehört zu den zehn meist zitierten Wirtschaftswissenschaftlern und ist Träger der John-Bates-Clark-Medaille, die als Vorstufe zum Nobelpreis gilt. 2019 wurde ihm der Weltwirtschaftliche Preis in Kiel zuerkannt, als Vordenker einer weltoffenen, marktwirtschaftlichen und sozialen Gesellschaft. 2024 wurde er gemeinsam mit James A. Robinson und Simon Johnson mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet. James A. Robinson, geboren 1960, ist Politik- und Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Harvard University. Er ist der weltweit führende Experte für Entwicklungshilfe, Lateinamerika und Afrika. Er arbeitete in Botswana, Mauritius, Sierra Leone und Südafrika. 2024 wurde er gemeinsam mit Daron Acemoglu und Simon Johnson mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet. Christa Prummer-Lehmair lebt in München und übersetzt Belletristik und Sachbücher aus dem Englischen.
Als Großerzählung über Demokratie und Gewaltenkontrolle ist dieses kenntnisreiche Buch [...] zu empfehlen.
detailliert recherchierte und spannend verfasste Erinnerung daran, dass breite Korridore der Freiheit entscheidende Wettbewerbsvorteile liberaler Demokratien sind
Als Großerzählung über Demokratie und Gewaltenkontrolle ist dieses kenntnisreiche [...] zu empfehlen.
Eine Reise durch die Dominanz
Dies trifft nicht nur auf die Kongolesen zu. Reist man Richtung Golf von Guinea zurück, trifft man auf einen Ort, der Kaplans düstere Zukunftsvision vollkommen zu bestätigen scheint – Lagos, das Wirtschaftszentrum Nigerias. Kaplan beschreibt Lagos als eine Stadt, »deren Kriminalität, Umweltverschmutzung und Übervölkerung sie zum Klischee par excellence der urbanen Dysfunktion der Dritten Welt machen«.
Im Jahr 1994 herrschte in Nigeria eine Militärdiktatur, mit General Sani Abacha als Präsident. Abacha sah es nicht als seine Aufgabe an, Konflikte unparteiisch zu lösen oder die Nigerianer zu beschützen. Er konzentrierte sich darauf, seine Gegner umzubringen und die Bodenschätze des Landes auszubeuten. Er soll seinem Land mindestens drei Milliarden Dollar geraubt haben, vermutlich noch viel mehr.
Im Jahr zuvor, 1993, kehrte der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka nach Lagos zurück. Er wollte von Cotonou aus, dem Regierungssitz des benachbarten Benin, die Grenze zu Nigeria überqueren (siehe Karte 1). Das schilderte er wie folgt: »Als wir uns der Grenze zwischen Benin und Nigeria näherten, wurde die ganze Geschichte auf einen Schlag deutlich. Die Schlange der am Straßenrand geparkten Wagen, die die Grenze nicht passieren konnten oder wollten, war auf beiden Seiten kilometerlang.« Er sah Leute, die gewagt hatten, die Grenze zu passieren. »Mit verbeulten Fahrzeugen und/oder ausgeplünderten Taschen waren sie zurückgekommen, man hatte sie mit Waffengewalt gezwungen, Wegezoll zu zahlen, als sie bis zur ersten, von Demonstranten errichteten Straßenblockade vorgeprescht waren.«
Karte 1: Westafrika: Das historische Königreich der Aschanti, das Land der Yoruba, das Land der Tiv und Wole Soyinkas Reiseweg von Cotonou nach Lagos
Soyinka ließ sich jedoch nicht abschrecken, passierte zu Fuß die Grenze und suchte nach jemand, der ihn in die Hauptstadt bringen konnte. Aber er hörte immer nur: »Oga Wole, eko e da o« (Meister Wole, Lagos ist nicht gut). Ein Taxifahrer deutete mit seiner bandagierten Hand auf seinen bandagierten Kopf und erzählte, was ihm zugestoßen war. Eine blutrünstige Gang hatte ihn verfolgt und erwischt, obwohl er mit Vollgas im Rückwärtsgang versucht hatte zu entkommen.
Oga … diese Kerle haben meine Windschutzscheibe eingeschlagen, obwohl ich schon rückwärts gefahren bin. Gott hat mich gerettet. Eko ti daru, Lagos ist ein Chaos.
Schließlich fand Soyinka ein Taxi, das ihn nach Lagos brachte, doch der zögerliche Fahrer meinte: »Mann, die Straße ist schlecht. Sehr schlecht.« Und so begann, wie Soyinka schrieb, »die albtraumhafteste Reise meines Daseins«:
Die Straßensperren bestanden aus leeren Benzinfässern, abgefahrenen Reifen, Felgen, Verkaufsbuden, Holzklötzen, Baumstämmen, kleinen Felsbrocken … Die angeworbenen Straßenrowdys hatten die Sache … in die eigenen Hände genommen … An manchen der Straßensperren wurde ein Wegezoll erhoben, man zahlte und konnte weiterfahren – aber das bot eine Sicherheit, die nur bis zur nächsten Barriere reichte. Manchmal bestand der Zoll aus einem Kanister voll Benzin, das aus dem Wagentank abgezapft wurde, dann durfte man die Fahrt fortsetzen – bis zur nächsten Schranke. … Einige der Fahrzeuge hatten eindeutig einen Gassenlauf durch Wurfgeschosse, Knüppel, ja bloße Fäuste hinter sich, andere schienen direkt vom Filmset von Jurassic Park hierher verfrachtet – man hätte schwören können, dass abnormale Zahnabdrücke in der Karosserie zu sehen waren.
Als sich Soyinka Lagos näherte, wurde die Situation noch schlimmer:
Normalerweise dauert die Fahrt von dort ins Herz von Lagos ungefähr zwei Stunden. Jetzt waren bereits mehr als fünf Stunden vergangen, und wir hatten noch keine fünfzig Kilometer hinter uns gebracht. Meine Besorgnis wuchs … Es lag eine mit Händen greifbare Spannung in der Luft, als wir näher und näher an Lagos herankamen. Die Blockaden standen dichter, die Zahl demolierter Fahrzeuge nahm zu, und, am schlimmsten, es lagen Leichen am Straßenrand.
Leichen sind kein ungewöhnlicher Anblick in Lagos. Als ein hochrangiger Polizeibeamter vermisst gemeldet wurde, suchte die Polizei im Gewässer unter einer Brücke nach seinem Leichnam. Die Suche endete nach sechs Stunden und dem Fund von 23 Toten, von denen keiner die gesuchte Person war.
Während das nigerianische Militär das Land ausplünderte, war es für die Bewohner von Lagos nicht leicht, sich durchzuschlagen. Die Stadt war ein Hort des Verbrechens, und der internationale Flughafen befand sich in derart marodem Zustand, dass er von ausländischen Fluggesellschaften gemieden wurde. Gangs, die sich »Area Boys« nannten, machten Jagd auf Geschäftsleute, raubten sie aus und töteten sie sogar zuweilen. Die Area Boys waren nicht die einzige Gefahr für die Menschen. Auf den Straßen fand man nicht nur Leichen, dort türmte sich der Müll, und Ratten liefen umher. Ein Reporter der BBC berichtete 1999, dass »die Stadt … unter einem Berg von Abfällen verschwindet«. Es gab weder eine öffentliche Stromversorgung noch fließendes Wasser. Wollte man in der Wohnung Licht haben, benötigte man einen Generator. Oder Kerzen.
Das albtraumhafte Leben der Bewohner von Lagos beschränkte sich nicht darauf, dass ihre Straßen von Ratten und Müll verseucht waren und auf den Gehsteigen Leichen lagen. Sie lebten in ständiger Angst. Im Zentrum von Lagos zu wohnen, mit den Area Boys vor Ort, war kein Spaß. Selbst wenn man heute von ihnen verschont blieb, konnten sie es schon morgen auf einen abgesehen haben – vor allem, wenn man die Kühnheit besaß, sich darüber zu beschweren, was sie der Stadt antaten, oder wenn man ihnen nicht die von ihnen eingeforderte Unterwürfigkeit bewies. Ständige Angst, Unsicherheit und Ungewissheit kann ebenso zermürbend sein wie die tatsächliche Gewalt, weil sie einen – um einen Begriff des Philosophen und Politikwissenschaftlers Philip Pettit zu benutzen – unter die »Dominanz« einer anderen Menschengruppe stellt.
In seinem Buch Republicanism: A Theory of Freedom and Government schreibt Pettit, die Grundlage eines erfüllten, ehrbaren Lebens sei Nicht-Dominanz – die Freiheit von Dominanz, Angst und extremer Unsicherheit. Pettit zufolge ist es inakzeptabel,
unter der Gewalt von jemand anderem leben zu müssen, in einer Art und Weise, die einen schutzlos macht vor einem Übel, das der andere einem willkürlich aufzuerlegen in der Lage ist.
Eine solche Dominanz herrscht beispielsweise dann, wenn
eine Ehefrau in die Lage gerät, dass ihr Mann sie nach Belieben schlagen kann, ohne dass sie die Möglichkeit hat, dies zu verhindern; wenn ein Arbeitnehmer es nicht wagen kann, sich über seinen Arbeitgeber zu beschweren, und wehrlos einer Vielzahl von Schikanen ausgesetzt ist … zu denen der Arbeitgeber womöglich greift; wenn der Schuldner von der Gnade des Gläubigers oder des Bankbeamten abhängig ist, dass dieser ihn nicht in Armut und Ruin stürzt.
Pettit betont, bereits die Drohung mit Gewalt oder Misshandlung könne ebenso schlimm sein wie die tatsächlich ausgeübte Gewalt oder die Misshandlung selbst. Natürlich kann man der Gewalt dadurch entgehen, dass man sich den Wünschen oder Befehlen der anderen Person fügt. Doch der Preis dafür ist, etwas zu tun, was man nicht möchte, und dieser Bedrohung ständig ausgesetzt zu sein. (Ökonomen würden dazu sagen, Gewalt liege »außerhalb des Gleichgewichtspfads«, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht das eigene Verhalten beeinflusst oder Folgen hat, die fast so schmerzlich sind wie die tatsächlich ausgeübte Gewalt.) Pettit schreibt, solche Menschen
leben überschattet durch die Anwesenheit eines anderen, selbst wenn sich keine Hand drohend gegen sie erhebt. Sie leben in der Ungewissheit, wie der andere reagieren wird, und müssen die Launen des anderen wachsam im Auge behalten … Sie finden sich … nicht in der Lage, dem anderen ins Auge zu blicken, und sehen sich vielleicht sogar dazu gezwungen, zu schmeicheln, um sich bei ihm beliebt zu machen.
Jede Beziehung von ungleicher Machtverteilung, ob sie durch Drohung oder durch andere soziale Mittel wie Sitten und Gebräuche erzwungen wird, stellt eine Form von Dominanz dar, weil sie darauf hinausläuft,
der Willkür ausgeliefert zu sein; dem potentiell unberechenbaren Willen oder dem potentiell eigentümlichen Urteil des anderen ausgeliefert zu sein.
Wir definieren »Freiheit« als die Abwesenheit von Dominanz, denn wer dominiert wird, kann keine freie Wahl treffen. Freiheit oder – in Pettits Worten – Nicht-Dominanz bedeutet
Emanzipation von jeder derartigen Unterordnung, Befreiung aus jeder derartigen Abhängigkeit. Sie setzt voraus, auf Augenhöhe mit seinen Mitbürgern stehen zu können, in dem gemeinsamen Bewusstsein, dass keiner der Beteiligten über die Macht verfügt, willkürlich auf jemand anderen übergreifen zu können.
Entscheidend ist, dass Freiheit nicht einfach nur die abstrakte Möglichkeit voraussetzt, sein Handeln selbst bestimmen zu können, sondern auch die Fähigkeit gegeben ist, diese Freiheit konkret ausüben zu können. Diese Fähigkeit fehlt, wenn eine Person, Gruppe oder Organisation über die Macht verfügt, jemand anderen zu etwas zu zwingen, zu bedrohen oder das Gewicht sozialer Beziehungen zu nutzen, um jemand anderen zu unterjochen. Sie kann nicht...
Erscheint lt. Verlag | 27.11.2019 |
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Übersetzer | Bernhard Jendricke, Christa Prummer-Lehmair, Sonja Schuhmacher, Thomas Wollermann |
Zusatzinfo | Mit zahlreiche Karten und Grafiken im Text sowie einem farbigem Bildteil |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | AfD • Anarchie • Antike • Autoritärer Staat • China • Demokratie • Demonstration gegen den Staat • Despotie • Despotismus • Eliten • Failed State • Freiheit • #FridaysForFuture • FridaysForFuture • Gesellschaft • Gewalt • Griechenland • Herrschaft • Korridor • Krise • Politik • Presse-Freiheit • Sicherheit • Staat • Starker Staat • Überregulierung • Wirtschaftsnobelpreis 2024 • Wohlstand • Zukunft der Demokratie |
ISBN-10 | 3-10-490590-8 / 3104905908 |
ISBN-13 | 978-3-10-490590-7 / 9783104905907 |
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