Die unbequeme Wahrheit (eBook)

Spiegel-Bestseller
Rede zur Lage unserer Nation
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
208 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-25115-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die unbequeme Wahrheit -  Gabor Steingart
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»Die Politik versucht mit künstlich geschaffenem Notenbankgeld die Welt von gestern zu retten – und verpasst so die Zukunft.« Gabor Steingart über Deutschland nach Corona

Corona ist mittlerweile nur ein anderes Wort für Ausrede. Gabor Steingart hat eine persönliche Rede verfasst, die uns die Augen öffnet für die Erschöpfungszustände im produktiven Kern unserer Volkswirtschaft. Die unbequeme Wahrheit hinter den billionenschweren Konjunkturprogrammen handelt von ökonomischer Erstarrung, prekären Arbeitsverhältnissen und sozialer Spaltung in Deutschland. Alles wird beklagt, aber nichts bekämpft. Europa greift zu den synthetischen Drogen der Geldschöpfung, auch um den Schmerz des Epochenwandels nicht zu spüren. Die politisch Verantwortlichen konservieren unterm Rettungsschirm die Welt von gestern. An der Schwelle von der Industrie- zur Digitalgesellschaft hat Deutschland von Pionier auf Follower umgeschaltet – mit gravierenden Folgen für unseren Wohlstand. Doch es gibt Alternativen zur Verzweiflung und Steingart benennt sie. Digitalisierung, Globalisierung und Klimaschutz bilden das magische Dreieck der bevorstehenden Transformation. »Nur wenn wir alle drei Phänomene zusammendenken, ihre Vernetztheit erkennen und eine Welt bauen, die global, digital und nachhaltig ist, können wir bestehen.«

Dieses Buch ist eine Ruhestörung.
Dieses Buch ist eine Ermutigung.
Dieses Buch ist ein Programm für alle, die keine Lust auf Untergang haben.

Gabor Steingart, geboren 1962, ist einer der profiliertesten deutschen Sachbuchautoren und mehrfach ausgezeichneter Journalist. In seinem täglichen Podcast und Newsletter »Steingarts Morning Briefing« kommentiert er das aktuelle Welt- und Wirtschaftsgeschehen, bietet Nachrichten sowie exklusive Interviews mit Meinungsbildnern aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Sein Werdegang: 1990 bis 2010 SPIEGEL-Journalist in Leipzig, Bonn, Hamburg, Berlin und Washington D.C. Von 2010 bis 2018 zunächst Chefredakteur, später Herausgeber, Geschäftsführer und Mitgesellschafter der Handelsblatt Media Group. 2018 gründete er die Medienmarke ThePioneer für unabhängigen und werbefreien Journalismus. Auswahl der Bestseller: »Deutschland – Der Abstieg eines Superstars«, »Weltkrieg um Wohlstand«, »Die Machtfrage«, »Unser Wohlstand und seine Feinde«, »Weltbeben«.

Ökonomisch erwartet uns nach der Pandemie nicht das Ende der Globalisierung, wie vielerorts prophezeit wird, und auch nicht der Zerfall Europas, sondern eine Welt der beschleunigten Digitalisierung.

Corona war die Preview auf unser künftiges Leben.

Das Virus funktioniert wie ein gestrenger Lehrmeister.

Es hat über Nacht das traditionelle, das analoge Leben unterbrochen – den Kulturbetrieb, den Flugverkehr, die Sportveranstaltungen, den schulischen Präsenzunterricht und den stationären Einzelhandel – , um dich, mein Freund, mit herrischer Geste in die Rituale der digitalen Welt, des Second Life, einzuführen.

Die Kathedralen unseres alten Lebens – die Flughäfen und die Shoppingcenter – waren verwaist. Wie Kinder, die Angst vor der wilden Nordsee haben, hat man uns hineingeschubst in die Welt des Streamings, der Videokonferenzen, des E-Sports und der digitalen Lehrmittel; seither tauchen wir immer tiefer ein in die Paläste des E-Commerce, in die Showrooms der digitalen Dienstleister und durchschwimmen die Kontakthöfe der algorithmischen Partnervermittler.

Alle elf Sekunden verliert sich ein Single.

Corona wurde zu einer teuer erkauften Nachhilfe im Fach »Zukunftskunde«. Überrascht stellen wir fest: Die verborgene Grotte zur neuen Welt befindet sich gleich unterm Handydisplay.

Das Neue ist nach dieser Pandemie nicht mehr neu, sondern selbstverständlich.

Wir sind nicht mehr nur Beobachter, sondern Agenten einer neuen Zeit.

Von vorn feuert man uns an. Von hinten werden wir sanft gestupst. Wir sind nicht mehr die, die wir waren. Unwillkürlich fühlt man sich an Stefan Zweigs Die Welt von Gestern erinnert:

»Jeder war Zeuge dieser ungeheuren Verwandlungen. Für unsere Generation gab es kein Entweichen, kein Sich-abseits-Stellen wie in den früheren. Ständig musste man sich … den fantastischsten Veränderungen anpassen, immer war man an das Gemeinsame gekettet. So erbittert man sich wehrte; es riss einen mit, unwiderstehlich. Das neue Jahrhundert wollte eine neue Ordnung, eine neue Zeit.«

Nur haben die politisch Verantwortlichen diese Nachhilfestunde der Wirklichkeit für sich gar nicht angenommen. Wie im Gespräch unter Schwerhörigen spricht jeder seine in früherer Zeit abgesicherten Texte.

Der eine fordert Solidarität, der andere versteht Steuersenkung.

Wir sagen Amazon, sie hören Kaufhof.

Die digitale Welt ist erkennbar nicht die ihre. Sie schauen ungerührt vorbei an der unbequemen Wahrheit, dass inmitten des Shutdown die digitalen Giganten Amerikas und Asiens einen Wachstumsschub sondergleichen verzeichnet haben, derweil unsere Volkswirtschaft an einem Vorhofflimmern leidet.

Bei Amazon und Alibaba waren keine Lieferketten unterbrochen. Bei Microsoft stand die Produktion nicht still. Netflix drehte hochtourig und darf sich nun als die wertvollste Medienfirma der Welt bezeichnen. Die sozialen Medien – Facebook, Snapchat und Co. – feierten an der Börse und im wahren Leben der Menschen ihr All-Time-High. Derweil das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, jener publizistische Leuchtturm, dem kein Schiff mehr folgt, ein Zehn-Millionen-Sparprogramm annoncierte. Andere Verlage werden folgen. Der Lebenszyklus nicht nur der klassischen Printmedien ist in seiner Spätphase angekommen. Die Beteiligten atmen flach.

Das Virus hat nicht nur den Menschen befallen, sondern auch unsere altehrwürdige Industrie- und Mediengesellschaft, die ausweislich von Lebensalter und Vorerkrankungen die besten Zeiten hinter sich hat. Wir denken an die Gift spuckenden Schornsteine, an das Schneckentempo der Informationsübertragung durch in Zellstoff aufgelöste Bäume und die Inkontinenz unserer Mülldeponien. Die festen, weil eingerosteten Verhältnisse werden nun sichtbar und lösen sich unter Schmerzen auf.

Die Erdplatten bewegen sich, die alten Verstrebungen brechen, alles Ständische und Stehende verdampft. Auch wenn es bald einen Impfstoff gegen Covid-19 geben dürfte, einen Impfstoff gegen den Wandel der Welt wird es niemals geben.

Die neue Wirklichkeit teilt sich nicht mehr zuerst in Ost und West, Stadt und Land, Diktatur oder Demokratie, Plan- oder Marktwirtschaft, sondern in digital und analog. Die neue globale Wirklichkeit ist nicht die, die man dir als Niedergangsepos zu verkaufen sucht. Sie beruht auf einer ökonomischen Kraft, die unsere Umwelt schont und nicht schändet. Sie kombiniert Selbstdisziplin mit Selbstentfaltung. Sie schafft ein Universum der Möglichkeiten, in dem nicht mehr nur mit Geld, sondern auch mit Daten bezahlt wird und in dem die politische Macht erstmals die Paläste der Elite verlässt.

Die technologische Revolution, die um den Erdball fegt, ist die erste wahrhaft kosmopolitische Revolution und eine sozialistische Erhebung ist sie auch. Denn sie enteignet die alten industriellen Eliten, schleift ihre Fürstentümer und hinterlässt ihre Gefolgsleute im Gulag des Gestrigen, wo sie eine Existenz jenseits des bisherigen Wohlstandes werden fristen müssen.

Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Die Erben des Industrieproletariats, die den Aufstieg in Helmut Schmidts Facharbeiterrepublik geschafft und dort Jahrzehnte auf dem Hochplateau von Wohlstand und Mitbestimmung verbracht haben, werden diese Revolution nicht unbeschadet überstehen. Viele sinken wieder zurück in den Zustand des Prekären, dort, wo die Bezahlung schlecht, das Gewerkschaftsbüro geschlossen und die Aufstiegsperspektive trübe ist.

Die Umwälzung der Produktions- und Lebensverhältnisse wird – darin besteht die historische List der Pandemie – von diesem bis dahin unbekannten Virus beschleunigt und zugleich verdeckt. Die Inhaber der neuen Wundertechnik und der darauf basierenden Geschäftsmodelle erleben den Aufstieg zu den Sternen.

Die kleine Autofirma Tesla, die im Jahr so viele Autos verkauft wie der Volkswagen Konzern in vierzehn Tagen, ist an der Börse mehr wert als Mercedes, BMW, Volkswagen und Audi zusammen. Die deutsche Autoindustrie, aber auch die deutschen Banken und die hiesige Chemie- und Pharmaindustrie wissen kaum, wie ihnen geschieht. Von den Investoren der Börse, da, wo echte Menschen mit echtem Geld auf die Zukunft wetten, werden sie geschrumpft.

Corona war der Schwarze Schwan für große Teile der deutschen Volkswirtschaft, deren Manager ihn mit ihren nostalgischen Gesängen regelrecht angelockt haben. Heute kreist der Schwarze Schwan über dem Hochofen von ThyssenKrupp. Er überfliegt die Braunkohlereviere und die VW-Zentrale in Wolfsburg, um auf jenen Produktionsanlagen zu landen, in denen seit hundert Jahren der Verbrennungsmotor gefertigt wird. Das Wappentier des bevorstehenden Unglücks nistet auch auf den Zinnen alter Macht im Frankfurter Bankenviertel.

Das Kapital ist seit jeher unruhig und daher auf Wanderschaft. Erst interessierte es sich für Stahl und Kohle, bevor es zu Elektro- und Textilindustrie weiterzog. Nach einem kurzen Zwischenstopp bei den großen Auto- und Computerherstellern fühlt es sich nun zu den Unternehmen der Digitalwirtschaft hingezogen. Wer weiter mit seinen Produktionsanlagen die Umwelt vernebeln, verschandeln und vergiften will, ist dem Untergang geweiht. Nostalgie ist ein Gefühl, aber kein Geschäftsmodell. Die Geschichte des Kapitalismus erzählt seit jeher eine Geschichte vom Werden und Vergehen der Wirtschaftszweige und damit auch vom Aufstieg und Fall der Nationen.

Die alten Industrien Deutschlands waren für das Kapital der bevorzugte Partner des 20. Jahrhunderts. Steve Jobs, Mark Zuckerberg und Elon Musk hießen damals noch Werner von Siemens, Gottlieb Daimler, Friedrich Karl Henkel und Robert Bosch. Die Liebe des Kapitals zu unseren Auto- und Chemiefabriken, zu den Herstellern des Maschinen- und Anlagenbaus war schon vor Corona nicht mehr stürmisch, aber im Zuge der Pandemie kam es zur Erkaltung, die keine konjunkturelle, sondern eine strukturelle ist.

Alle sagen, das »bisher unbekannte Virus« sei schuld, aber in Wahrheit ist das Virus nur der Überbringer einer Botschaft, die von der Verwandlung der Welt erzählt.

Diese Verwandlung, und das ist die erste unbequeme Wahrheit für dich, mein Freund, betrifft unser Leben mehr als das Virus selbst, dem wir in den vergangenen Monaten all unsere Aufmerksamkeit geschenkt haben. Hätten wir nicht ein Fernstudium der Virologie betrieben, sondern mit derselben Energie uns für eine der Computersprachen interessiert oder Mandarin gelernt, wären wir für die Reise in die neue Welt deutlich besser vorbereitet.

So aber stehen wir beide spärlich bekleidet am Bahnsteig. Der Zeitgeist verwirbelt uns das Haar. Der Zug rollt lautlos heran.

Und wir wissen noch immer nicht, ob wir einsteigen sollen. Eine Sitzplatzreservierung jedenfalls besitzen wir nicht.

Die Neuallokation von Ressourcen ist kein Spiel bösartiger Spekulanten, sondern Teil der großen kapitalistischen Schöpfungsgeschichte, die vom Kommen und Vergehen der Wirtschaftszweige erzählt. Die Wanderung des Kapitals bezeichnet den Urprozess der kapitalistischen Erneuerung und damit einen Prozess der Zu- und Abwanderung, der immer auch eine Neuverteilung von Chancen bedeutet. Der Börsenkapitalist hält die Weltkarte in der Hand. Er interessiert sich für wenig mehr als für Profit in seiner kristallinen Form. Die Stollen der alten Industrien lässt er zurück wie das ausgebeutete Flussbett des Klondike River.

Die deutschen Traditionskonzerne werden derzeit ausgesiebt. Hier lagert aus Sicht der Investoren zwar noch immer Goldstaub, aber eben kein Goldnugget mehr. Deshalb fehlt den Unternehmen mittlerweile auch...

Erscheint lt. Verlag 27.8.2020
Zusatzinfo durchg. 4c, mit farbigen Infografiken
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Christoph Keese • Dirk Müller • Handelsblatt • Henryk M. Broder • Machtbeben • Morning Briefing • Weltbeben
ISBN-10 3-641-25115-X / 364125115X
ISBN-13 978-3-641-25115-4 / 9783641251154
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