Essen lernen (eBook)

Wo unsere Ernährungsgewohnheiten herkommen und wie wir sie ändern können

(Autor)

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2017 | 1., Deutsche Erstausgabe
479 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75137-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Essen lernen - Bee Wilson
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Mögen Sie Rosenkohl? Lieben Sie Brokkoli? Oder ist Fleisch Ihr Gemüse? Dass die Geschmäcker verschieden sind, ist eine Binsenweisheit. Aber nirgendwo sind die Vorlieben und Abneigungen so ausgeprägt wie beim Essen und so immun gegen gute Argumente. Nicht nur Eltern wissen davon ein Lied zu singen. Warum ist das so? Und was können wir tun, um anders, besser, zu essen?
Bee Wilson hat sich auf eine spannende Reise zu den Ursprüngen unserer Ernährungsgewohnheiten begeben, mit der neuesten Forschungsliteratur sowie ihren eigenen Erfahrungen als Mutter von drei Kindern im Gepäck. Sie hat mit Psychologen und Ernährungsexperten gesprochen, Schulkantinen besucht und zahlreiche »Essbiographien« zusammengetragen. Das Ergebnis ist so lehrreich wie ermutigend: Geschmack ist kein Schicksal.
Welche Speisen wir mögen, ob wir essen wie ein Spatz oder wie ein Scheunendrescher, ist uns nicht in die Wiege gelegt. Wir lernen es, und zwar in der Kindheit, am Esstisch der Familie, unter Einfluss zahlreicher Faktoren. Und wir können umlernen. Bee Wilson zeigt uns in ihrem neuen Buch, wie das geht, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, was vielleicht das Wichtigste ist: die Freude am Essen.



<p>Bee Wilson, geboren 1974, studierte in Cambridge Ideengeschichte, bevor sie sich als Gastrokritikerin einen Namen machte. Ihre Artikel - zum Beispiel über die Geschichte des Brotes oder Hitlers Ernährungsgewohnheiten - wurden unter anderem in der<em> London Review of Books</em> und im<em> New Yorker</em> publiziert. Die Guild of Food Writers kürte sie mehrfach zur Journalistin des Jahres.</p>

Bee Wilson, geboren 1974, studierte in Cambridge Ideengeschichte, bevor sie sich als Gastrokritikerin einen Namen machte. Ihre Artikel – zum Beispiel über die Geschichte des Brotes oder Hitlers Ernährungsgewohnheiten – wurden unter anderem in der London Review of Books und im New Yorker publiziert. Die Guild of Food Writers kürte sie mehrfach zur Journalistin des Jahres.

13Einleitung


»Ich mag Marmelade, weil sie nicht immer vom Löffel rutscht.«

Russel Hoban, Fränzi mag gern Marmelade

Um unsere Ernährung machen wir uns ständig Sorgen, und die meisten davon schlagen sich in unserer endlosen Suche nach dem vermeintlich perfekten Lebensmittel nieder, das all unsere Gebrechen zu heilen vermag. Iss das! Iss das nicht! Zwanghaft beschäftigen wir uns mit dem Nährstoffgehalt unserer Mahlzeiten: Wie viel Mineralstoffe und wie viel Eiweiß enthält diese Zutat? Wie viel ungesättigte Fettsäuren jene? Wir überfordern uns damit. Nährstoffe sind nur dann von Belang, wenn wir sie tatsächlich zu uns nehmen. Letztlich zählt, wie wir essen und wie wir an das Essen herangehen. Möchten wir unser Essverhalten ändern, müssen wir zunächst die Kunst des Essens selbst neu erlernen, was gleichermaßen eine Sache der Psychologie wie der Ernährungswissenschaft ist. Wir müssen Mittel und Wege finden, um Dinge verspeisen zu wollen, die uns guttun.

Unsere geschmacklichen Vorlieben folgen uns wie tröstliche Schatten. Sie scheinen uns zu sagen, wer wir sind. Vielleicht tun wir deshalb auch so, als wäre unser Geschmack in Stein gemeißelt. Immer wieder versuchen wir mehr oder weniger halbherzig, unsere Essgewohnheiten zu ändern; wir probieren jedoch so gut wie nie, unseren Zugang zum Essen selbst zu überdenken: wie gut wir mit Hunger klarkommen; wie sehr wir dem Zucker verfallen sind; wie wir uns fühlen, wenn man uns nur eine kleine Portion serviert. 14Wir bemühen uns zwar, mehr Gemüse zu essen, versuchen aber nicht, ebendieses Gemüse auch mehr zu schätzen, vielleicht weil fast jeder der Meinung zu sein scheint, dass es einfach unmöglich sei, einen neuen Geschmack auszubilden und alte Gewohnheiten abzulegen. Tatsächlich wäre nichts weiter von der Wahrheit entfernt.

Den Verzehr aller Lebensmittel, die wir regelmäßig verspeisen, haben wir irgendwann erlernt. Zu Beginn unseres Lebens trinken wir alle Milch, aber danach ist alles offen. Bei den Jagdvölkern Tansanias gilt das Knochenmark von Wild als geeignetste erste Kost nach dem Abstillen.1 Kommt man dagegen in Laos im Fernen Osten zur Welt, wird der erste feste Bissen wohl ein von der Mutter vorgekauter und von Mund zu Mund verabreichter Klebereis sein (auf Englisch nennt man das manchmal kiss feeding).2 Der erste Happen westlicher Kinder mag dagegen angerührtes Getreidebreipulver aus dem Karton, pürierte Babynahrung aus dem Glas, gedämpfter und durchpassierter Bio-Kürbis, mit einem hypoallergenen Löffel verabreicht, oder die eine oder andere Gabel vom elterlichen Teller sein. Bis auf Milch gibt es kein Nahrungsmittel für alle – noch nicht einmal für Babys.*

15Vom ersten Lebensjahr an ist der menschliche Geschmack erstaunlich vielfältig. Als Omnivoren fehlt uns das instinktive Wissen, welche Nahrungsmittel sicher und gut für uns sind. Jeder einzelne muss seine Sinne nutzen, um selbst herauszufinden, was genießbar ist und was nicht. In vielerlei Hinsicht ist das ein überaus erfreuliches Unterfangen und außerdem der Grund dafür, warum es auf der Welt so wunderbar unterschiedliche Küchen gibt.

Einer weiteren Konsequenz unseres Allesfresser-Daseins schenken wir jedoch bei weitem nicht genug Beachtung: Anders als beispielsweise das Atmen beherrschen wir das Essen nicht von Geburt an. Wir müssen es erst erlernen. Füttern Eltern ihr Kind, bringen sie ihm gleichzeitig bei, wie etwas zu schmecken hat. Auf grundlegendster Ebene bedeutet das: Wir müssen das Wissen darüber, was essbar und was giftig ist, erst erwerben. Wir müssen lernen, wie wir unseren Hunger stillen und wann wir mit dem Essen aufhören sollten. Im Gegensatz zum Ameisenbär, der nur die winzigsten Insekten frisst, verfügen wir kaum über natürliche Instinkte, auf die wir uns verlassen könnten. Aus all den Wahlmöglichkeiten, die wir als Omnivoren haben, müssen wir die herauspicken, die gut, die hervorragend und die überhaupt nicht schmecken. Aus diesen Vorlieben und Abneigungen erstellen wir dann ein ganz persönliches Geschmacksprofil, so einzigartig wie eine Handschrift.

So ist es jedenfalls einmal gewesen. In der heutigen Esskultur entwickeln bedeutend mehr Menschen als früher einen beunruhigend gleichförmigen Geschmack. Zwei Verbraucherwissenschaftler erklärten 2010, dass die Geschmackspräferenzen der Kindheit einen neuen Einblick in die Entwicklung von Übergewicht gewährten. Sie wiesen auf einen »Teufelskreis« hin: Unternehmen forcierten die Produktion von Nahrungsmitteln mit einem hohen Salz-, Zucker- und Fettgehalt. Kinder gewöhnten sich an diesen 16Geschmack, weshalb die Firmen mehr und mehr Produkte dieser Art auf den Markt werfen, »die eine ungesunde Ernährung begünstigen«.3 Den größten Einfluss auf den Geschmack eines Kindes haben mittlerweile nicht mehr die Eltern, sondern Lebensmittelkonzerne, deren Erzeugnisse trotz der Illusion endloser Auswahlmöglichkeiten tatsächlich eher eintönig schmecken, besonders im Vergleich zu den abwechslungsreichen Aromen der traditionellen Kochkunst.

Kürzlich war ich mit einem meiner Kinder im Kino. Wir gingen zum Eisstand, und ich erkannte mit Schrecken, dass abgesehen vom Vanilleeis so gut wie alle Sorten auf die eine oder andere Weise Schokolade enthielten. Wollten wir lieber Minze mit Schokoladenstückchen, Kirsche mit Schokoladenstückchen, Schokolade mit Schokokeksstückchen oder Karamell mit Karamellschokoladenstückchen? Das Gefährliche an einer Kindheit umgeben von all diesen süßen und salzigen Leckereien ist nicht etwa, dass wir von Natur aus nicht widerstehen könnten, sondern dass wir uns mehr und mehr an diese Aromen gewöhnen, je öfter wir etwas Ähnliches verzehren, und irgendwann davon ausgehen, alles hätte so zu schmecken.

Sobald man allerdings verstanden hat, dass geschmackliche Vorlieben erlernt werden, scheinen viele der Verhaltensweisen, mit denen wir uns dem Essen nähern, auf einmal recht merkwürdig zu sein. Um ein Beispiel zu nennen: Denken Sie nur an all die Eltern, die sich die größte Mühe geben, Gemüse in den Mahlzeiten ihrer Kinder zu »verstecken«. Ist Brokkoli wirklich so schrecklich, dass er vor unschuldigen Kinderaugen verborgen werden müsste? Ganze Kochbücher widmen sich diesem Thema. Alles beginnt mit der Annahme, Kinder würden von Natur aus kein Gemüse mögen und äßen es nur, wenn sie sich dessen nicht bewusst wären, beispielsweise wenn man es ihnen püriert in einer Pasta-Sauce oder eingebacken in einer Süßspeise serviert. Niemals könnten sie lernen, eine Zucchini einfach nur um ihrer selbst willen zu mögen. In unserem 17gehetzten, übermüdeten Zustand fällt es uns Eltern oft schwer, auf Langfristigkeit zu setzen. Wir halten uns für clever, weil es uns gelingt, ein wenig Rote Beete in einen Kuchen zu schmuggeln. »Ha, reingelegt!«, denken wir dann. Weil das Kind aber gar nicht weiß, dass es das Wurzelgemüse gerade verspeist, erreichen wir mit solchen Methoden häufig nur das Gegenteil, denn wir steigern die kindliche Lust auf Süßes. Es wäre dagegen sehr viel klüger, dem Nachwuchs dabei zu helfen, zu Menschen zu werden, die Gemüse gerne und freiwillig essen.

Weil wir nicht erkennen, dass unser Essverhalten erlernt ist, missverstehen wir die Natur der derzeitigen Ernährungskrise. Mit prophetischen, den drohenden Untergang ankündigenden Worten erinnert man uns in regelmäßigen Abständen daran, dass unsere Ernährung in den letzten Jahrzehnten einen dramatischen Wandel zum Schlechten durchgemacht hat. Im Jahr 2010 gingen zehn Prozent aller Todes- und Krankheitsfälle weltweit auf unzureichende Bewegung und schlechte Ernährung zurück – mehr als dem Rauchen oder der Luftverschmutzung durch offene Feuerstellen in geschlossenen Räumen zum Opfer fielen (6,3 Prozent gegenüber 4,3 Prozent).4 Etwa zwei Drittel der Bevölkerung wohlhabender Länder sind übergewichtig oder gar adipös, wobei der Rest der Welt schnell aufholt. Üblicherweise folgern die Menschen daraus, dass wir dem süßen, salzigen und fettigen Essen, für das die Nahrungsmittelindustrie so unablässig wirbt, einfach nicht widerstehen könnten. Alles schmeckt besser mit Speck. Wie der Journalist Michael Moss 2013 enthüllte, entwickeln die großen Lebensmittelkonzerne Speisen mit einem chemisch austarierten »Glückspunkt«, der uns süchtig macht.5 Die Medien sagen uns manchmal eine Zukunft voraus, in der das Übergewicht in der Bevölkerung immer weiter zunehmen wird, bis schließlich jeder Mensch auf der Welt davon betroffen ist.

Eine Sache bleibt jedoch meist unerkannt: Nicht jeder ist gleichermaßen anfällig für die Tücken unseres Lebensmittelangebots. 18Manchen gelingt es, Fett, Salz und Zucker in moderaten Mengen zu sich zu nehmen und dann einfach aufzuhören. Andere halten die angeblich so unwiderstehlichen Speisen für alles andere als appetitlich. Wenn zwei Drittel der Bevölkerung übergewichtig sind, bedeutet das im Umkehrschluss auch, dass es ein ganzes Drittel nicht ist. Das ist schon erstaunlich, denkt man an die vielen Möglichkeiten, die es heutzutage gibt, einen Doughnut aufzutreiben. Obwohl diese Glückspilze denselben Nahrungsmitteln ausgesetzt sind, denen wir uns heute nahezu überall gegenübersehen, haben sie einen anderen Umgang damit gefunden. Herauszufinden, wie ihnen das gelungen ist, sollte in unser aller Interesse sein.

Viele, die sich für eine ausgewogene Ernährung engagieren, meinen, selbst den Kochlöffel zu schwingen, sei die Antwort. Wenn man den Kindern nur beibringen würde, wie man ein Essen zubereitet und das Gemüse dafür im eigenen Garten anbaut, würden sie sich bald...

Erscheint lt. Verlag 7.8.2017
Übersetzer Laura Su Bischoff
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Angabe fehlt
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abnehmen • Am Beispiel der Gabel • Ernährung • Ernährungsratgeber • Erziehung • Freude am Essen • Geschenke für Frauen • Geschenke für Männer • Geschenk für Frauen • Gesunde Ernährung • Kinder • Kinderernährung • Kindererziehung • Kinder Essen • Kochen für Kleinkinder • Mein Kind will nicht essen • Ratgeber • ST 4787 • ST4787 • suhrkamp taschenbuch 4787
ISBN-10 3-518-75137-9 / 3518751379
ISBN-13 978-3-518-75137-4 / 9783518751374
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