Grauzonen (eBook)

Geschichten aus der Welt hinter den Nachrichten | Neu: Mit Vorwort zum aktuellen Israel-Gaza-Krieg
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
224 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-40302-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Grauzonen -  Christian Sievers
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Zwanzig Minuten hat Christian Sievers in einer «heute»-Sendung, um über das aktuelle Weltgeschehen zu berichten - und muss dabei erklären, zusammenfassen, weglassen. In diesem Buch erzählt er die Geschichten hinter der Nachricht. Gerade in den Krisengebieten dieser Welt stößt er auf Unerwartetes, Überraschendes, Verwirrendes: Humor neben Hass, Mut in der Katastrophe, Propaganda mit Augenzwinkern und Lügner, die den Wert der Wahrheit predigen. Eine verunsicherte Medienwelt steht vor der Herausforderung, all diesen Facetten der Story gerecht zu werden. Das Buch ist ein Blick hinter die Kulissen einer Nachrichtensendung und in den aufwühlenden Alltag von Krisenreportern. Es ist auch eine Liebeserklärung an den Nahen Osten, wo nichts geht und alles möglich ist.

Christian Sievers (Jahrgang 1969) hat Rechtswissenschaften studiert. Seine journalistische Kariere begann er beim Radio; die Fernsehzuschauer lernten ihn als Moderator des ZDF-Morgenmagazins kennen. Heute moderiert er die Nachrichtensendungen «heute» und «heute journal». Zuvor war er fünf Jahre lang Auslands-Korrespondent des ZDF im Nahen Osten. Er twittert mit Leidenschaft und liebt im Urlaub Hotels, die ihr Frühstück bis nachmittags servieren.

Christian Sievers (Jahrgang 1969) hat Rechtswissenschaften studiert. Seine journalistische Kariere begann er beim Radio; die Fernsehzuschauer lernten ihn als Moderator des ZDF-Morgenmagazins kennen. Heute moderiert er die Nachrichtensendungen «heute» und «heute journal». Zuvor war er fünf Jahre lang Auslands-Korrespondent des ZDF im Nahen Osten. Er twittert mit Leidenschaft und liebt im Urlaub Hotels, die ihr Frühstück bis nachmittags servieren.

7.10.


Die Lichter der Landebahn kommen näher, dann setzt die Maschine auf, und die Bremsen quietschen.

In der Kabine brandet Applaus auf. Nicht das übliche Klatschen auf einem Charterflug, voller Begeisterung, weil jetzt der Urlaub beginnt. Es ist pure Erleichterung: Wir haben es geschafft. Gut angekommen, in einer Region, in der nichts mehr gut ist. Eine Region im Krieg, die die größte Bedrohung und die entscheidendsten Umwälzungen seit Generationen erlebt, eine historische Zäsur.

Sicher gelandet. Wenigstens das. Ich ertappe mich dabei, wie ich laut und lange mitklatsche.

Der Ben-Gurion-Flughafen von Tel Aviv ist Israels einziges echtes Tor zur Welt. Jetzt liegt er beinah komplett verlassen da. Ein Flugzeug ohne Aufschrift parkt am Terminal, ein paar Militärmaschinen stehen im Hintergrund. Praktisch alle großen Airlines dieser Welt haben ihre Israel-Flüge eingestellt, aus Angst um die Sicherheit von Besatzung und Passagieren. Die Israelis von «El Al» fliegen noch – «I stand with Israel» haben sie schnell auf Bordkarten und Plakate gedruckt. Und unsere kleine Airline aus Zypern wagt es ebenfalls. «Wir fliegen zu hundert Prozent nach Plan», hatte der Gepäckabfertiger in Larnaca stolz gesagt. Auch wenn die Piloten eine ungewöhnliche Anflugroute nehmen müssen, um den Raketen im Luftraum über Israel auszuweichen.

Dieses Land wird angegriffen. Nicht nur mit Raketen. Als wir in Tel Aviv landen, ist es gerade ein paar Tage her, dass Hamas-Terrortrupps aus dem Gazastreifen israelische Städte, Kibbuzim und ein Musikfestival überfallen haben und dort in unbeschreiblicher Bestialität mordeten. Über tausend Tote. Noch nie seit dem Holocaust sind an einem einzigen Tag so viele jüdische Menschen umgebracht worden. Allein dieser Satz lässt einem den Atem stocken – besonders, wenn man aus Deutschland kommt.

In der Reihe vor mir im Flugzeug sitzt eine Familie mit zwei kleinen Kindern, die im Urlaub in Rumänien war, jetzt seit Tagen über Mitteleuropas Flughäfen irrt und sich durch die überlasteten Hotlines der Airlines telefoniert, im verzweifelten Versuch, irgendwie nach Hause zu gelangen. «Danke, dass ihr gerade jetzt zu uns kommt, um zu berichten», sagt der Vater, «das bedeutet mir sehr viel.»

Ich muss schlucken, so wie es mir immer geht, wenn sich jemand nachdrücklich für etwas bedankt, das doch einfach nur mein Job ist. Wir werden solchen Dank in den kommenden Tagen häufiger hören, von Israelis, von Palästinensern. Es ist der dringende Wunsch, jetzt in aller Welt wahrgenommen zu werden. Es ist wohl auch die Vorahnung, dass dieser Krieg obendrein eine Schlacht um die Meinungshoheit werden wird – eine Schlacht, wie sie die Welt noch nie zuvor gesehen hat.

Es wirkt, als hätten sich alle festgelegt, entweder «für» die eine oder «für» die andere Seite zu sein. Mehr denn je sind Zwischentöne rar. Die eigene Meinung zählt, alle anderen Sichtweisen werden pauschal zurückgewiesen und in den sozialen Netzwerken mit wüsten Worten geradezu bekämpft. Viele sehen diesen Konflikt klassisch in Schwarz und Weiß. Dabei gilt speziell in Nahost: So einfach ist es nie. In einer lebenswerten Welt muss doch auch beides möglich sein: Trauern um die israelischen Opfer des Hamas-Terrors und Mitgefühl mit denen, die in Gaza auf der Flucht sind oder die unter den Ruinen ihrer Häuser begraben liegen.

Welche gewaltigen Anstrengungen Israels Regierung unternimmt, die öffentliche Meinung weltweit in ihrem Sinn zu beeinflussen, und warum Hamas keinen Krieg gewinnen will, sondern die Sympathien vor allem der arabischen Welt – auch darum geht es auf den folgenden Seiten. Und vor allem: Wie wichtig der unvoreingenommene, zweite Blick ist auf die Situation und auf die Menschen hinter den Nachrichten. Genau deshalb heißt dieses Buch «Grauzonen».

Ich habe fünf Jahre lang in Tel Aviv gelebt und von hier aus als Nahost-Korrespondent des ZDF über die Region berichtet. Ich habe bereits zwei frühere Gaza-Kriege miterleben und darüber berichten müssen, aber was ich jetzt vor Ort spüre, hat es nie zuvor gegeben. Da sind Trauer und Sorge, Wut und Angst. Alles gleichzeitig. Da sind mehr Fragen und weniger Perspektiven als sonst in einer Region, die ohnehin schon seit Jahrzehnten damit lebt, dass kaum etwas klar ist und morgen alles anders sein kann.

 

Die Straßen der sonst so lebenslustigen Metropole am Mittelmeer sind leer gefegt. Es ist still in dieser Stadt, die doch eigentlich niemals schlafen wollte. Wir sind in Rekordzeit vom Flughafen mitten im Zentrum von Tel Aviv und finden sofort einen Parkplatz. Jeder, der mal hier war, weiß: Schon allein das ist Ausnahmezustand.

Unser Hotel beherbergt eine Reihe von Familien, die ihre Häuser im Süden verlassen mussten: zu gefährlich ist der Raketenbeschuss, und noch immer ist nicht klar, ob sich weitere Terrorkommandos in der Nähe ihrer Heimatorte befinden. Die verstörten Menschen mit ein paar Plastiktüten als Gepäck müssen für ihre Zimmer nichts bezahlen. An der Rezeption steht ein Schild: «Liebe Gäste, wenn die Alarm-Sirene ertönt, haben Sie 1½ Minuten, um in einen gesicherten Raum zu gehen. Wenn Sie das nicht schaffen, können Sie auch im Treppenhaus warten.»

Überall bleiben die Geschäfte erst mal zu. Einige Polizeistreifen sind unterwegs, ein paar Hundebesitzer, die Gassi gehen. Ein Vater begleitet seine kleine Tochter zur Rutsche auf dem Kinderspielplatz, über seiner Schulter hängt ein Maschinengewehr. In der Luft liegt das dauernde Brummen der Aufklärungsdrohnen. Nur ein Weinladen hat geöffnet. Hier verkaufen sie Ablenkung. «Um ehrlich zu sein», sagt der Inhaber, «eine Menge Leute kaufen gerade Alkohol. Wodka, Bier, die ganze Woche schon.»

Wir bereiten unsere Berichte vor und eine ganze Sendung, das «heute-journal» live aus Tel Aviv. In der deutschen Botschaft findet eine Pressekonferenz statt, die ich nicht mehr vergessen werde. Anders als sonst, wenn auf solchen Veranstaltungen redselige Politiker ihre Botschaften verbreiten wollen, sitzen hier Menschen auf dem Podium, die alles dafür geben würden, wenn sie das nicht tun müssten.

Es sind die Angehörigen von Geiseln mit deutschem Pass, die von Hamas-Terrortrupps nach Gaza verschleppt wurden. Sie haben ausgedruckte Fotos dabei von ihren Töchtern und Söhnen, Müttern und Vätern, Omis und Opas. Lachende Gesichter. Glückliche Familien. Und jetzt? Der Schmerz, die Ungewissheit, diese lähmende Machtlosigkeit füllen den Raum. Im Publikum sitzen lauter hartgesottene Kriegsberichterstatter und ringen selbst um Fassung.

Dan Romann bangt um drei Mitglieder seiner Familie. Ich treffe ihn am nächsten Tag zufällig auf der Straße wieder. Man sieht ihm an, dass er kaum noch schläft. Kein Wort von Vergeltung oder Hass kommt aus seinem Mund, nur die stille Hoffnung, dass er seine Liebsten zurückbekommt. Woher nimmt dieser Mann seine Kraft?

«Nein! Nicht hier! Nicht in Israel», so fasst Dan Romann diesen Schock für das Land zusammen. Israel hat seinen Bürgerinnen und Bürgern immer ein großes Versprechen gemacht: dass sie hier sicher sind. Dieses Versprechen ist jetzt gebrochen. «Wir sind nicht so stark, wie wir dachten», sagt uns in Jerusalem der Historiker Tom Segev. Und dann wird er grundsätzlich: «Wir werden unsere Identität neu formulieren müssen.»

 

Am Abend ist Ehud Barak zu Gast in unserer Sendung. Der Mann polarisiert und ist gleichzeitig eine lebende Legende in Israel. Bis heute der höchstdekorierte Soldat seines Landes. Elitekämpfer. Teil von Geheimoperationen des Mossad. Ex-Generalstabschef. Ex-Verteidigungsminister. Ex-Regierungschef. Barak kommt ganz allein aus dem Fahrstuhl, ohne die hier sonst allgegenwärtigen Personenschützer. Ich wundere mich. Ein israelischer Kollege meint: «Er ist sein eigener Bodyguard.» Auch noch mit 81.

Barak ist kein Freund von Premierminister Benjamin Netanjahu, um es vorsichtig zu formulieren. Was er nach unserem Interview sagt, bleibt mir im Gedächtnis. Um selbst politisch zu überleben, werde Netanjahu einen langen Krieg brauchen, damit die Leute irgendwann vergessen, wie es dazu kam. Barak spricht von Komplettversagen bis in die höchsten Ränge von Armee, Geheimdiensten und Regierung. «Wenn Netanjahu künftig entscheiden muss zwischen zwei Optionen, wird er – vielleicht auch nur unbewusst – immer diejenige wählen, die den Krieg ausdehnt.»

Ob und wie Israel seine selbst erklärten Kriegsziele erreichen kann, scheint auch den Verantwortlichen nicht wirklich klar zu sein: Die Geiseln lebend befreien und gleichzeitig Hamas für immer vernichtend schlagen. Soldaten können gegen Terrortrupps vorgehen, gegen eine Ideologie im Kopf helfen sie nicht. Im Gegenteil. Es gibt Beobachter, die warnen: Für jeden getöteten Hamas-Anführer wachsen fünf neue nach.

Der Druck, unter dem Israels aktuelle Regierung steht, ist jedenfalls kaum zu ermessen. Und eines ist bereits klar: Die Israelis werden die Frage stellen, wie es so weit kommen konnte.

Eine Frage, die sich im Nahen Osten seit gefühlten Ewigkeiten stellt. Sie beschäftigt auch dieses Buch.

 

In unseren Tagen vor Ort nach dem 7. Oktober 2023, der sich in Seelen und Geschichtsbücher der Region eingebrannt hat, ist vieles noch unklar: Wie es den Geiseln geht. Wie viele Menschen genau die Hamas in ihre dunklen Tunnel-Gefängnisse verschleppt hat. Wie Israels Militäroffensive im Gazastreifen enden wird. Und wann. Und was die dortige Zivilbevölkerung bis dahin noch erleiden muss. Schon jetzt sehen weite Teile von Nord-Gaza aus wie eine apokalyptische Trümmerwüste, in der menschliches Leben unmöglich scheint. Schon jetzt ist die Lage für über zwei Millionen...

Erscheint lt. Verlag 15.12.2017
Zusatzinfo Zahlr. 4-farb. Fotos
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte antisemitisch • Antisemitismus • Araber • Benjamin Netanjahu • Gaza • Gaza-Israel-Konflikt • Gaza-Krieg • HAMAS • Heiliges Land • heute journal • Intifada • Israel • Journalismus • Judentum • Konflikte • Krise • Lügenpresse • Medien • Medienkrise • Moderator • Nachrichten • Nahostkonflikt • Palästina • Reportage • Richard David Precht • Vierte Gewalt • Westbank • ZDF
ISBN-10 3-644-40302-3 / 3644403023
ISBN-13 978-3-644-40302-4 / 9783644403024
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