Schülerjahre (eBook)

Wie Kinder besser lernen
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
336 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-95781-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schülerjahre -  Remo H. Largo,  Martin Beglinger
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Remo H. Largo, der Entwicklungsspezialist und »Anwalt der Kinder« (FAZ), stellt in der Bildungsdebatte endlich das Kind selbst in den Mittelpunkt und fragt, was für eine Schule unsere Kinder brauchen. Wie lernen sie lieber und deshalb besser? Wie kann die Schule der Vielfalt unter den Kindern gerecht werden? Was tun, damit die Jungen nicht ins Abseits geraten?

Remo H. Largo, geboren 1943 in Winterthur, gestorben 2020 in Uetliburg, war bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor für Kinderheilkunde. Fast drei Jahrzehnte lang leitete er die Abteilung für Wachstum und Entwicklung am Kinderspital in Zürich, wo er die bedeutendste Langzeitstudie über kindliche Entwicklung im deutschsprachigen Raum durchführte. Er war Vater dreier Töchter und Großvater von neun Enkeln. Seine Bücher »Babyjahre«, »Kinderjahre«, »Schülerjahre« und »Jugendjahre« (mit Monika Czernin) sind Klassiker, ebenso wie »Glückliche Scheidungskinder«.

Remo H. Largo, geboren 1943 in Winterthur, war bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor für Kinderheilkunde. Fast drei Jahrzehnte lang leitete er die Abteilung für Wachstum und Entwicklung am Kinderspital in Zürich, wo er die bedeutendste Langzeitstudie über kindliche Entwicklung im deutschsprachigen Raum durchführte. Er ist Vater dreier Töchter und Großvater von vier Enkeln. Seine Bücher "Babyjahre", "Kinderjahre", "Schülerjahre" und "Jugendjahre" (mit Monika Czernin) sind Klassiker, ebenso wie die zuletzt erschienene Neuausgabe von "Glückliche Scheidungskinder".

Wie sich Kinder entwickeln

Lernverhalten


Wie Kinder lernen


Eltern und Lehrkräfte haben oft sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sich Kinder entwickeln und wie sie lernen sollen. Lässt sich überhaupt entscheiden, welche Vorstellungen die richtigen sind?

Sobald wir uns mit Kindern beschäftigen, treffen wir gewisse Annahmen, die auch unsere Erwartungen und unseren Umgang mit dem Kind bestimmen. Ein Beispiel: Wir gehen davon aus, dass Patrick bereit ist, lesen zu lernen, denn er ist schließlich 7 Jahre alt und in der ersten Klasse. Er zeigt jedoch noch kein Interesse an Buchstaben und verweigert sich, sobald er Buchstaben lesen oder malen soll. Häufig werden Kinder, die nicht unseren Erwartungen entsprechen, als faul, ablenkbar, unkonzentriert oder unruhig beschrieben. Wir beklagen uns, dem Kind würden die sogenannten Sekundärtugenden wie Fleiß und Ausdauer sowie eine gute Arbeitshaltung fehlen. Wenn es nur wollte, dann könnte es schon! Je nach unseren Vorstellungen, die wir von der kindlichen Entwicklung haben, werden wir mit einem Kind wie Patrick unterschiedlich umgehen. Entweder wir akzeptieren, dass er noch nicht so weit ist in seiner Entwicklung und warten folglich ab. Oder aber wir meinen, dass seiner Entwicklung mit Förderung nachgeholfen werden müsse. Es lohnt sich also, die eigenen Vorstellungen über Entwicklung und kindliches Lernen kritisch zu hinterfragen.

Kann man denn ein Kind wie Patrick einfach sich selbst überlassen und darauf warten, dass es selbstständig lernt? Ist er nicht auf die Unterstützung der Erwachsenen angewiesen?

Beides trifft zu. Doch je nach Lernform braucht das Kind eine andere Art von Unterstützung. Kinder lernen auf unterschiedliche Weise.

  • Soziales Lernen (Lernen am Modell; Bandura 1976). Das Kind eignet sich soziales Verhalten durch Nachahmung an. Dazu benötigt es Erwachsene und Kinder als Vorbilder (siehe dazu Teil II Sozialverhalten).
  • Lernen durch Erfahrung mit der gegenständlichen Umwelt. Die gegenständliche Umwelt lernt das Kind mit seiner Motorik und seinen Sinnen kennen und verstehen, indem es sich intensiv mit Gegenständen beschäftigt. So entwickelt es beispielsweise ein Verständnis für Größe, Form oder Farben. Solche Kenntnisse muss das Kind eigenständig erwerben, wir können sie ihm nicht beibringen. Diese Form des Lernens ist bis in die Pubertät vorherrschend.
  • Lernen durch Unterweisung. Beim Unterweisen sollte das Lernangebot in Form und Inhalt den entwicklungsspezifischen Interessen des Kindes angepasst sein. Idealerweise werden dem Kind Erfahrungsmöglichkeiten angeboten, die es selbstständig nutzen und so eigenständig zu neuen Einsichten kommen kann. Eine Form der Unterweisung besteht zum Beispiel darin, dem Kind ein Angebot zu machen. Ein 15 Monate altes Kind schüttelt heftig eine Flasche, um so an den Inhalt heranzukommen. Wenn man ihm zeigt, dass die Flasche durch Kippen entleert werden kann, wird das Kind dieses Verhalten übernehmen, aber nur dann, wenn sein Verständnis dafür bereits so weit entwickelt ist. Genauso ist es mit dem Verständnis für den 10-er-Schritt beim Rechnen. Die meisten 8-jährigen Kinder verstehen problemlos den 10-er-Schritt, einige noch nicht. Wenn ein Kind noch keine innere Vorstellung von dem Zahlenraum jenseits von 10 hat, wird alles Unterweisen nichts fruchten (siehe Üben). Das Interesse lässt sich bei einem Kind nur dann durch Unterweisung wecken, wenn es in seiner Entwicklung so weit ist, dass es verstehen kann, worum es dabei geht.

Räumliches und soziales Spiel. [2]

Und diese Entwicklung lässt sich nicht vorantreiben?

Ich habe in einem Forschungsprojekt über 2 Jahre hinweg auf verschiedene Weise versucht, Kinder zu fördern, und seither weiß ich: Wir können ein Kind noch so lange antreiben und üben lassen, eine Fähigkeit oder ein Verständnis stellt sich erst dann ein, wenn das Kind in seiner Entwicklung so weit ist. Diese Feststellung gilt nicht nur für die ersten Lebensjahre, sondern für das gesamte Schulalter. Spielt und lernt das Kind selbstständig, sollten Erwachsene nicht eingreifen und das Kind anleiten, es sei denn, es bittet darum. Unterstützung sollte nicht darin bestehen, dass ein Lehrer, der permanente Überlegenheit ausstrahlt, Kindern Fähigkeiten und Wissen beibringt. Die ideale Unterstützung besteht darin, dass der Lehrer das Umfeld der Kinder so gestaltet und sie in ihren Aktivitäten so unterstützt, dass sie selbstständig zu Erfahrungen und neuen Einsichten kommen können. Das Kind sollte das Gefühl haben: Ich habe es allein geschafft. Eltern und Lehrer sollten sich so weit wie möglich zurücknehmen. Die Bereitschaft mancher Kinder, sich unterweisen zu lassen, ist erstaunlich groß, und damit besteht auch die Gefahr, dass diese missbraucht wird und die Lust am Lernen dabei verloren geht.

Warum individuelles Lernen notwendig ist


Wie erlebt ein Lehrer die Vielfalt unter seinen Schülern?

Die Abbildung 16 beschreibt die individuelle Entwicklung der Lesekompetenz bei 3 Jungen. Eldar zeigt eine durchschnittliche Entwicklung, er beginnt sich für Buchstaben mit ungefähr­ 7 Jahren zu interessieren. Mit 16 Jahren ist seine Lesekompetenz vollständig ausgebildet. Lars fängt bereits mit 3 bis 4 Jahren an zu lesen. Er verfügt mit 16 Jahren über eine Lesekompetenz, die deutlich höher ausfällt als diejenige von Eldar. Patrick schließlich begreift das Lesen nicht vor dem 10.Lebensjahr, seine Lesekompetenz bleibt auch mit 16 Jahren niedrig. Wie unterschiedlich die Entwicklung bei diesen 3 Kindern verläuft, zeigen folgende Vergleiche: Lars kann mit 10 Jahren gleich gut lesen wie Eldar mit 16 Jahren und ist bereits mit 8 Jahren so kompetent wie Patrick mit 16 Jahren. Lars und Patrick stellen gewissermaßen die Extrem­verläufe in der Bevölkerung dar. Die blaue Säule beschreibt die Lese­kompetenz bei deutschen Schülern im Alter von 15 Jahren (PISA-Studie 2006). Während etwa 20 Prozent der Schüler einen komplexen Text verstehen, verfügen etwa 20 Prozent über eine Lesekompetenz, die sich auf das Lesen eines sehr einfachen Textes beschränkt. Die Mehrheit der Kinder liegt zwischen diesen beiden Extremen. Die Grafik zeigt: Je älter die Kinder werden, desto mehr unterscheiden sie sich in ihrer Lesekompetenz. Die meisten Kinder, die früh zu lesen beginnen, weisen später eine hohe Lesekompetenz auf. Kinder, die spät mit dem Lesen anfangen, können aufholen und noch eine gute Lesekompetenz erreichen.

 

16) Unterschiedliche Entwicklung der Lesekompetenz bei 3 Jungen. Grüne Säule: Lesekompetenz im Alter von 15 Jahren (PISA-Studie 2006). 1 entspricht einer sehr niedrigen, 3 einer mittleren und 5 einer sehr hohen Lese­kompetenz.

Das kindliche Interesse an Buchstaben nehmen wir als Neugier wahr. Irgendwann will es lesen und schreiben lernen. Im Allgemeinen halten wir Neugier für eine Charaktereigenschaft, die mehr oder weniger unveränderbar ist. Trifft diese Vorstellung zu? Und lässt sich Neugier auch wecken?

Als Entwicklungsspezialist würde ich Neugier nicht als Charakter­eigenschaft bezeichnen, sondern vielmehr als eine Form von Spannung. Abbildung 17 zeigt die Lernkurve von Lars. Die rote Kurve, die sein Entwicklungspotenzial beschreibt, gibt in etwa die neurobiologische Reifung in Bezug auf die Lesefähigkeit wieder. Für jeden Entwicklungsschritt, zu dem sein Gehirn heranreift, braucht Lars die entsprechenden Erfahrungen, damit er seine Lesekom­petenz weiterentwickeln kann. Bei Patrick verläuft die Kurve des Entwicklungspotenzials (blau) viel flacher als bei Lars. Dementsprechend fällt bei ihm auch die Spannung geringer aus. Diese Spannung zwischen dem aktuellen Entwicklungsstand der Lesekompetenz und dem neurobiologischen Entwicklungsstand nehmen wir als Neugierde war. Das Kind erlebt den Abbau der Spannung als sogenannte Flow-Erfahrung: Es geht vollkommen in seiner Tätigkeit auf und erlebt dabei eine tiefe Befriedigung (Csikszentmihalyi 1990). Lars und Patrick suchen, jeder auf seine Weise, immer wieder neue Erfahrungen, um die Spannung abzubauen. Dabei sind es nicht beliebige Erfahrungen, sondern solche, die bezüglich Wortwahl und Wortschatz, Komplexität der Satzkonstruktion sowie inhaltlicher Aussagen leicht über ihrer aktuellen Lesekompetenz liegen. Idealerweise stimmen der Entwicklungsstand und das Leseangebot diesbezüglich möglichst gut und oft überein. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Neugierde können wir bei einem Kind wecken, wenn wir ihm ein Angebot machen, das im Bereich seiner Lesekompetenz oder – noch besser – leicht darüber liegt. Je besser ein Kind lesen kann, desto weniger wichtig ist der Lesevorgang an sich und desto wichtiger wird die inhaltliche Aussage des Textes. Bei Lars ist es schon bald der Inhalt, der den Reiz des Lesens ausmacht, bei Patrick hingegen bleiben es noch für lange Zeit die formalen Herausforderungen des Lesens.

 

17) Neugierde (Pfeil) entsteht aus der Spannung zwischen aktuellem Entwick­lungsstand (o) und neurobiologischer Reifung (rot). Die Neu­gierde wird durch Erfahrung immer wieder aufs Neue abgebaut. Beachte den großen Unterschied im Ausmaß der Neugierde zwischen Lars und Patrick.

Und wenn die Neugierde ausbleibt? Was geschieht mit einem Kind wie Patrick, das desinteressiert und widerwillig in der Schulbank sitzt, während Eldar nebenan bereits...

Erscheint lt. Verlag 10.2.2017
Zusatzinfo Mit 100 Farbfotos und Grafiken
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Entwicklungspsychologie
Sozialwissenschaften Pädagogik
Schlagworte Angehende Lehrer • Babyjahre • Bildung • Bildungssystem • Buch • Bücher • Das passende Leben • Entwicklung vom Kind • Erziehung • erziehungsexperte • Erziehungsratgeber • Jugendjahre • Kinderjahre • Lernen • Pädagogik • Ratgeber • Scheidungskinder • Schule • Schülerjahre • spiegel bestseller
ISBN-10 3-492-95781-1 / 3492957811
ISBN-13 978-3-492-95781-6 / 9783492957816
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