Der Historiker ohne Eigenschaften

Eine Problemgeschichte des Mediävisten Friedrich Baethgen

(Autor)

Buch | Softcover
518 Seiten
2015
Campus (Verlag)
978-3-593-50479-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Historiker ohne Eigenschaften - Joseph Lemberg
56,00 inkl. MwSt
Campus Historische Studien
Herausgegeben von Rebekka Habermas, Heinz-Gerhard Haupt, Stefan Rebenich, Frank Rexroth und Michael Wildt
Der Mittelalterhistoriker Friedrich Baethgen absolvierte eine glänzende Hochschulkarriere in drei politischen Systemen. In der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik kam er zu höchsten Ehren, so zuletzt als Präsident der Monumenta Germaniae Historica. Joseph Lemberg deutet Baethgens Erfolg als Resultat der Anschlussfähigkeit eines konservativen Geschichtsdenkens, das die politischen Brüche des 20.Jahrhunderts fast unbeschadet überdauerte. Durch das Prisma seines "Historikers ohne Eigenschaften" lässt diese Problemgeschichte eine "Welt von Eigenschaften ohne Mann" (Robert Musil) entstehen, einen unheroischen Ausschnitt der deutschen Mittelalterhistorie zwischen 1920 und 1960.Für diese Dissertation erhielt Joseph Lemberg den Humboldt-Preis der HU Berlin (2015) und den Hedwig-Hintze-Preis des Verbands der Historikerinnen und Historiker Deutschlands (2016).

Joseph Lemberg, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HU Berlin.

Inhalt

Vorwort 9
I. Einleitung11
1. Fragestellung, Forschungsstand, Quellen 13
2. Konzipierung der Arbeit 22

II. Wissenschaftliche Profilierung und politisches Profil: Heidelberg - Rom (1914-1929) 30
1. An der Demarkationslinie des historischen Wissens: Weltkrieg und Wissenschaft30
1.1 Vorkriegserbe 30
1.2 Nachricht und Wirklichkeit: Die Stunde der Propagandisten36
1.3 Umkämpfte Bastionen: Wahrheit und Nation 39
1.4 Tatsachen und Legenden: Die Stunde der Historiographen 46
2. Der Staat und seine 'Feinde': Papsttumshistoriographie und Parteienkritik 53
2.1 Kirche und Staat 53
2.2 Wissenschaft als Staatsdienst 57
2.3 Kirche im Gehäuse: Cölestin V. - Bonifaz VIII .65

III. Ostforschung und Aufstieg: Königsberg (1929-1939)80
1. Wahrheit und Nation: Deutsche Ostforscher diskutieren Ernst Kantorowicz' Kaiser Friedrich der Zweite 80
1.1 Historiker im national-internationalen Widerspruch80
1.2 Kaiser Friedrich der Zweite88
1.3 Halle 1930 102
1.4 Warschau 1933115
1.5 Königsberg: Die »polnische Professur«120
2. Rothfels - Westphal - Glum: Konservative Netzwerke an der Schwelle zum Nationalsozialismus123
2.1 Freiherr vom Stein-Bund123
2.2 Hans Rothfels135
3. Reichsmythos versus Rassenideologie: Karl der Große im Widerstreit politischer Sinnstiftungen145
3.1 Rasse versus Reich145
3.2 Widerspruch der Zunft153
3.3 Romanisierung - Germanisierung157
3.4 Was heißt Romanisierung? 164
4. Prekäre Internationalität: Die Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft173
4.1 Transnationale Wissenschaft in nationaler Mission173
4.2 Das Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums187
4.3 Brackmann gegen Jedlicki192
4.4 Volkserziehung 200
4.5 Ostforscher Baethgen 211
4.6 Die Besetzung Polens 221

IV. Von der Peripherie ins Zentrum: Berlin (1939-1947)232
1. Berufung an die »Endstationsuniversität«232
1.1 Die Kandidaten232
1.2 Einspruch des NS-Dozentenbunds239
2. Weltgeschichte im Weltkrieg: Baethgens Spätmittelalter255
2.1 »Staat, Geist und große Persönlichkeit«255
2.2 Universales Kaisertum und Weltgeschichte267
2.3 Volk - Staat - Gemeinde 272
2.4 Staat und Stände283
2.5 Politik als Staatskunst 291
2.6 Konservativer Spagat: Rankes Konsenspotential im Nationalsozialismus 294
3. Der sichtbare und der unsichtbare Baethgen: Berliner Jahre 1940-1944299
3.1 Präsenz zeigen: Reichs- und Papsttumsgeschichte während des Vernichtungskriegs299
3.2 Die unsichtbare Frontgemeinschaft: Gerhard Ritter 311
3.3 Der Welt entsagen oder sie beherrschen? Der Engelpapst320
3.4 Dämonisierung des Politischen328
4. Berliner Netzwerke: Die Reorganisation der Monumenta Germaniae Historica333
4.1 Alte Eliten - neue Freunde: Die Mittwochs-Gesellschaft 333
4.2 Theodor Mayer341
4.3 Stunde Null 351
4.4 Reden und schweigen: Der feine Unterschied356

V. Auf dem Gipfel: München (1947-1972)367
1. Nationalgeschichte ohne Nationalstaat: Nachkriegshistoriographie 367
1.1 Zweimal Dante: Auschwitz - Bremen367
1.2 Friedrich Meinecke372
1.3 Deutsche »Katastrophen«: 1945 und 1250 377
1.4 Britannia docet: Geoffrey Barraclough384
1.5 Revision, Rehabilitation, Restauration 394
2. Wissenschaft als Ehrdiskurs: Wahrheit und Gedächtnis 404
2.1 Erdmann - Brackmann: Zwei Biographien, ein Erzähler 404
2.2 Wahrheit und Nation: Nachkriegskarriere eines Dilemmas414
2.3 Was bleibt? 426

VI. Wissenschaft als Staatsdienst im Wechsel der politischen Systeme: Fazit437

VII. Quellen und Literatur449

Personenregister 513

»What, then, do we find in this highly impressive book? It is a monograph centered on a problem: how did a historian of middling scholarly accomplishments - one who never wrote a major work, advanced a stimulating thesis, discovered important new sources, or devised any new methods - rise to academic heights during three successive governmental systems: the Weimar Republic, the Third Reich, and the postwar Federal Republic?« Robert Lerner, Central European History, 26.06.2018»In seiner mehrfach, auch mit dem Hedwig-Hintze-Preis des Verbandes der Historiker und Historikerinnen prämierten Dissertation nimmt Joseph Lemberg mit dem Mediävisten Friedrich Baethgen einen jener deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts in den Blick, dessen zeitgenössischer Einfluss keine Entsprechung in seiner Nachwirkung gefunden hat.« Matthias Berg, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 21.11.2017

»What, then, do we find in this highly impressive book? It is a monograph centered on a problem: how did a historian of middling scholarly accomplishments - one who never wrote a major work, advanced a stimulating thesis, discovered important new sources, or devised any new methods - rise to academic heights during three successive governmental systems: the Weimar Republic, the Third Reich, and the postwar Federal Republic?« Robert Lerner, Central European History, 26.06.2018

»In seiner mehrfach, auch mit dem Hedwig-Hintze-Preis des Verbandes der Historiker und Historikerinnen prämierten Dissertation nimmt Joseph Lemberg mit dem Mediävisten Friedrich Baethgen einen jener deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts in den Blick, dessen zeitgenössischer Einfluss keine Entsprechung in seiner Nachwirkung gefunden hat.« Matthias Berg, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 21.11.2017

I.Einleitung

Aus New York, wohin sie 1941 emigriert war, schrieb Hannah Arendt am 9. Juli 1946 an Karl Jaspers in Heidelberg:

"Gerade deshalb ist es ja so schlimm, daß die Universitäten 1933 'ihre Würde verloren haben'. Ich weiß nicht, wie man es anstellen soll, ihre Reputation wiederherzustellen. Denn sie haben sich lächerlich gemacht. Denazifizierung, sicher recht wichtig, ist da ja auch nur ein Wort; denn die Institution selbst, schlimmer der Stand der Gelehrten, sind lächerlich geworden. Dabei ist nicht entscheidend, daß Professoren nicht zu Helden geworden sind; sondern ihre Humorlosigkeit, ihre Beflissenheit, ihre Angst den Anschluß zu verpassen. [...] Nun weiß ich, daß viele, vermutlich sogar eine Majorität, niemals im Ernst Nazis waren. Nur wird einem auch dies leider fragwürdig [...]".

Der Reputationsverlust der deutschen Universitäten, den Hannah Arendt im Jahr 1946 beschwor, trat in Deutschland - wenn überhaupt - nur sehr vorübergehend ein. So sehr deutsche Professoren durch ihre Allianzen mit dem Nationalsozialismus gegenüber der kritischen Beobachterin Arendt "ihre Würde verloren" und sich vor der internationalen Gelehrtenrepublik selbst diskreditiert hatten, so wenig litt darunter im Deutschland der frühen Nachkriegszeit ihr Ansehen. Getragen von einer ungebrochenen Kontinuität gesellschaftlicher Anerkennung setzte der überwiegende Teil deutscher Lehrstuhlinhaber seine Karrieren nach 1945 fort. Für Hannah Arendt mochte der "Stand der Gelehrten [...] lächerlich" geworden sein. In Deutschland aber lachte über diesen kein Mensch, weder vor 1945 noch danach.
Mit "verantwortlichem Ernste", so mahnte Friedrich Baethgen im Jahr 1935, solle man der "Schicksalhaftigkeit" unseres "nationale[n] Dasein[s]" und "den bleibenden Notwendigkeiten und Aufgaben unseres völkischen Lebens" begegnen. Und mit "gesteigertem Ernst", so behauptete Friedrich Baethgen 1937, widme man sich, seitdem "das völkische Leben" durch die "Begründung unseres nationalsozialistischen Staates" eine "neue Stufe erreicht habe", den Kernfragen der "mittelalterlichen Periode unserer Geschichte". Mit weihevollem Ernst aber begegnete man Zeit seines Lebens auch ihm, Baethgen (1890-1972), der sich die Zeichen seiner gesellschaftlichen Anerkennung in jedem der von ihm durchlebten politischen Systeme ans Revers heften durfte: 1920 das "Verdienstkreuz für Kriegshilfe" im Ersten Weltkrieg, 1939 das von Adolf Hitler verliehene "silberne Treudienst-Ehrenzeichen", 1964 das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband. Erstaunlich, doch keineswegs außergewöhnlich ist diese Sammlung politischer Ehrenzeichen, die das Kontinuum gleich vierer politischer Systeme im Deutschland des 20. Jahrhunderts versinnbildlichen. Sie sind die Frucht einer beachtlichen Wissenschaftskarriere, die den noch im Kaiserreich promovierten Baethgen (1913) über seine erste Professur in Königsberg (seit 1929) und seinen Ruf auf einen Lehrstuhl an der Berliner Universität (1939) schließlich nach München führte, wo er nach dem Krieg als Präsident der Monumenta Germaniae Historica (1947-1958) und als Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (1956-1964) führende Wissenschaftsinstitutionen des Landes repräsentierte.
Friedrich Baethgen hat, um mit Hannah Arendt zu reden, den "Anschluß" an die Institutionen seines Faches nie verpasst, auch und gerade zwischen 1933 und 1945 nicht: Das zeigt seine prestigereiche Berufung nach Berlin, ins wissenschaftliche und politische Zentrum des nationalsozialistischen Deutschland, der er 1939 folgte; das verdeutlicht gleichfalls seine Wahl in die Preußische Akademie der Wissenschaften im November 1944. Baethgens fulminante Nachkriegskarriere ist ohne seine Bewährungsgeschichte im nationalsozialistischen Staat nicht denkbar. Und doch ist auch für Baethgen Hannah Arendts Hoffnung in Rechnung zu stellen, dass viele Professoren "niemals im Ernst Nazis waren". Baethgen war nie Mitglied der NSDAP. Seine Tätigke

Erscheint lt. Verlag 8.10.2015
Reihe/Serie Campus Historische Studien ; 71
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 141 x 214 mm
Gewicht 640 g
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Sozialwissenschaften Pädagogik Allgemeines / Lexika
Schlagworte Biografie • Biographie • Friedrich Baethgen • Geschichte • Mediävistik • MGH • Mittelalter • Monumenta Germaniae Historica • Wissenschaftsgeschichte
ISBN-10 3-593-50479-0 / 3593504790
ISBN-13 978-3-593-50479-7 / 9783593504797
Zustand Neuware
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