Israel (eBook)

Soziologische Essays

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1., Originalausgabe
150 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73802-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Israel - Eva Illouz
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Was geht in einem Land vor, in dem Sicherheit von so überragender Bedeutung ist, dass sich eine Ärztin bereitwillig an einem Mordkomplott beteiligt, weil sie davon überzeugt ist, damit ihre Heimat zu verteidigen? Würden hochrangige israelische Politiker oder Militärs ein Mitglied einer Minderheit gegen den bloßen Verdacht des Hochverrats in Schutz nehmen? Fragen wie diesen spürt Eva Illouz in ihren Essays über Israel nach. Anhand aktueller politischer Entwicklungen und persönlicher Erfahrungen zeichnet sie ein drastisches Bild der israelischen Gesellschaft: Die zunehmende Identifikation mit Ethnie und Religion, so ihre These, droht deren liberalen Charakter zu unterwandern. Illouz' in Israel viel beachteten und kontrovers diskutieren Texte kombinieren scharfsinnige Analysen mit einem kompromisslosen Plädoyer für eine offene Gesellschaft - eine dringend benötigte Stimme aus einer von Extremismus gezeichneten Region.

Eva Illouz, geboren 1961, ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique, CSE-EHESS in Paris. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Anneliese-Maier-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung und den EMET-Preis für Sozialwissenschaften. Ihre Bücher werden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

1. Kann man eine jüdische Intellektuelle, ein jüdischer Intellektueller sein?


Wie vertragen sich Vorstellungen wie die von »Ahabath Israel« oder der »Solidarität mit dem jüdischen Volk« mit dem Grundbedürfnis der Intellektuellen, Distanz zu ihrer nationalen oder religiösen Herkunftsgruppe zu halten, um sich ihre moralische Integrität zu bewahren?

 

In einem berühmt gewordenen Briefwechsel zwischen Gershom Scholem und Hannah Arendt beschied der Erforscher der jüdischen Mystik der politischen Theoretikerin einen Mangel an »Ahabath Israel«, an Liebe zur jüdischen Nation und zum jüdischen Volk. Was hatte Arendt getan, um sich eine derartige Injurie einzuhandeln? Sie hatte für das renommierte US-amerikanische Magazin The New Yorker eine Reihe von Artikeln über den Eichmann-Prozess verfasst, die 1963 auf Englisch, 1964 auf Deutsch unter dem Titel Eichmann in Jerusalem als Buch erschienen.

In ihren Reportagen, die zu den bekanntesten werden sollten, die je über eine Gerichtsverhandlung geschrieben wurden, beschuldigte Arendt die »Judenräte«, die den Nationalsozialisten geholfen hatten, und behauptete, es hätte weniger Todesopfer gegeben, wenn sich die jüdischen Gemeindevorsteher nicht zu Erfüllungsgehilfen der Nazis gemacht hätten. Dem Staat Israel wiederum warf sie vor, die Verhandlung wie einen Schauprozess zu inszenieren und die neue rechtliche Dimension zu verkennen, die Eichmanns Verbrechen darstellten. Vor allem aber schien sie Eichmann vorschnell vom »radikal Bösen« auszunehmen, da sie seine Taten als die in gewisser Weise arglose Folge seiner Unfähigkeit betrachtete, selbständig zu denken und den Charakter seiner eigenen Worte und Taten zu verstehen. (Ihre berühmte Formel von der »Banalität des Bösen« suggerierte, dass das Böse unsichtbar und allgegenwärtig sein und anstatt aus einer diabolischen psychischen Veranlagung aus gewöhnlichen Denkfehlern resultieren konnte, der Unfähigkeit, unabhängig darüber zu reflektieren, was moralisches Handeln ist, sowie der Gewohnheit, Befehle zu befolgen.) Mit anderen Worten: Statt an den Tag zu legen, was wir bei einem solchen Anlass von einer Jüdin erwartet hätten – schieres Entsetzen über Eichmanns Taten, uneingeschränktes Mitgefühl angesichts der moralischen Dilemmata der jüdischen Gemeindeführer, die es mit den Nazis zu tun hatten, Solidarität mit dem Staate Israel –, analysierte Arendt all diese Aspekte mit einem kühlen Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit und ließ die moralischen Kategorien, mit denen die Öffentlichkeit sie beurteilt hatte, unscharf werden.

Dies, so Scholem in einem Brief an Arendt vom 23. Juni 1963, zeige, dass sie es in ihrer intellektuellen Position an Liebe zu Israel mangeln lasse. Warum, fragte er sie,

 

»hinterlaesst Ihr Buch dennoch solch Gefuehl der Bitterkeit und Scham, und zwar nicht ueber das Referierte, sondern ueber die Referentin? Warum ueberdeckt Ihr Referat so weithin das darin vorgebrachte, das Sie doch mit Recht dem Nachdenken empfehlen wollten? Die Antwort, soweit ich eine habe, und die ich Ihnen gerade weil ich Sie so hoch achte, nicht unterdruecken kann, muss Ihnen sagen, was in dieser Sache zwischen uns steht. Es ist der herzlose, ja oft geradezu haemische Ton, in dem diese, uns im wirklichen Herzen unseres Lebens angehende Sache [der Holocaust], bei Ihnen abgehandelt wird. Es gibt in der juedischen Sprache etwas durchaus nicht zu definierendes und voellig konkretes, was die Juden Ahabath Israel nennen, Liebe zu den Juden. Davon ist bei Ihnen, liebe Hannah, wie bei so manchen Intellektuellen, die aus der deutschen Linken hervorgegangen sind, nichts zu merken. […] Mit dem Stil der Leichtherzigkeit, ich meine das englische flippancy, den Sie nur allzu oft in Ihrem Buche […] aufbringen, habe ich keine Sympathie. Er ist auf unvorstellbare Weise der Sache, ueber die Sie sprechen, unangemessen. Gaebe es wirklich bei solchem Anlass nicht Platz fuer das, was man mit dem bescheidenen deutschen Wort Herzenstakt nennen duerfte?« 1

 

Scholems Reaktion berührt den Kern dessen, was wir als das Problem der jüdischen Kritik in der Gegenwart bezeichnen können. Wie Arendt hatte auch Scholem die Idee eines binationalen Staates unterstützt; hier aber reagierte er wie andere zionistische Juden mit Entrüstung und Wut. Arendts Anklage gegen die Judenräte und Israel verstand er als Ausdruck einer unangebrachten, empörenden Distanziertheit, ja sogar als »bitterböse« und »herzlos«, wie seine Worte lauteten. Einen schlimmeren Vorwurf hätte er ihr kaum machen können. Der Ton ist also keine Frage der Meinungen (in vielem waren sich beide einig). Er ist vielmehr das, worauf wir an jenen achten, von denen wir Liebe und Hingabe erwarten.

Arendts Ton, so Scholems Auffassung, fehle eine apriorische Nähe zum jüdischen Volk. Ein derartiger Ton sei unangemessen bei Gelegenheiten, bei denen es das einzig Richtige ist, nicht die ganze Wahrheit zu sagen, weil es Momente gibt, in denen die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, hinter einer Pflicht des Herzens, dem Herzenstakt, zurückstehen müsse. Scholem forderte keine Selbstzensur, sondern lediglich jenen Sinn für Angemessenheit, der uns auf einer Beerdigung davon abhält, über die Fehler der verstorbenen Person zu sprechen. Wo so viele noch trauern, ist sture Wahrhaftigkeit der reine Hohn.

Arendt ließ sich durch diesen Vorwurf nicht verunsichern und fand in ihrer Antwort an Scholem deutliche Worte.

 

»Sie haben vollkommen recht, dass ich eine solche ›Liebe‹ nicht habe, und dies aus zwei Gründen: Erstens habe ich nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv ›geliebt‹, weder das deutsche, noch das französische, noch das amerikanische, noch etwa die Arbeiterklasse oder sonst was in dieser Preislage. Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig. Zweitens aber wäre mir diese Liebe zu den Juden, da ich selbst jüdisch bin, suspekt. Ich liebe nicht mich selbst und nicht dasjenige, wovon ich weiss, dass es irgendwie zu meiner Substanz gehört. […] Das Grossartige dieses Volkes ist es einmal gewesen, an Gott zu glauben, und zwar in einer Weise, in der Gottvertrauen und Liebe zu Gott die Gottesfurcht bei weitem überwog. Und jetzt glaubt dieses Volk nur noch an sich? Was soll daraus werden? – – Also, in diesem Sinne ›liebe‹ ich die Juden nicht und ›glaube‹ nicht an sie.« 2

 

Für Arendt klang Scholems Liebe zum jüdischen Volk nach einem Aufruf zu kollektivem Narzissmus. Wir wissen, dass sie bezüglich vieler wichtiger, für ihre These über Eichmann zentraler Tatsachen falschlag; Tatsachen aber hätten an ihrem grundlegenden und tiefen Misstrauen gegen den »nichtreflexiven, sich selbst glorifizierenden Charakter von Gruppenzugehörigkeiten« nichts geändert, um eine Formulierung des Historikers Steven A. Aschheim von der Hebräischen Universität in Jerusalem zu zitieren. Obwohl beide, Scholem und Arendt, die Gruppe Brit Schalom unterstützt hatten, die sich in den zwanziger und dreißiger Jahren für eine arabisch-jüdische Koexistenz in Palästina eingesetzt hatte, waren sie uneins in der Frage, wie viel Nähe zum jüdischen Volk Arendts Tonfall verraten musste.

Um genauer zu begreifen, was uns hier nachdenklich stimmen sollte, möchte ich an eine andere Debatte erinnern, die wenige Jahre zuvor in Frankreich stattgefunden hatte und bei der ebenfalls die Position eines Intellektuellen einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hatte. Als Albert Camus 1957 in Stockholm mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, fragte ihn ein arabischer Student nach seiner Haltung zum Algerienkrieg. Camus' Antwort wurde berühmt: »In diesem Moment wirft man Bomben auf die Straßenbahnen von Algier. Meine Mutter könnte sich in einer dieser Straßenbahnen befinden. Wenn genau das Gerechtigkeit ist, dann ziehe ich meine Mutter vor.« 3

Diese Stellungnahme führte zu heftigen Reaktionen in französischen und ausländischen Intellektuellenkreisen. Norman Podhoretz, von 1960 bis 1995 Chefredakteur des US-amerikanischen Magazins Commentary, schrieb dazu später: »Als er verkündete, er zöge seine Mutter der Gerechtigkeit vor, entschied er sich, in O'Briens 4 Worten, für ›seinen eigenen Stamm‹ und gegen ein abstraktes Ideal universeller Gerechtigkeit. Eine größere Häresie gegen die Dogmen der Linken ist kaum vorstellbar.« 5

In der Tat hatten sich die öffentlichen Einmischungen von Intellektuellen seit der Dreyfus-Affäre Ende des 19. Jahrhunderts durch ihren Universalitätsanspruch definiert. Das änderte sich auch im 20. Jahrhundert nicht. Rückblickend betonte der britische Kulturhistoriker Andrew Hussey diesen Aspekt in einem Aufsatz in der britischen Literaturzeitschrift Literary Review: Camus' »leidenschaftliche Feststellung galt Generationen von Antikolonialisten und Theoretikern des Postkolonialismus – darunter Leuten wie Edward Said – als Beweis für seine Charakterschwäche und Wankelmütigkeit und damit indirekt auch für seine koloniale Arroganz gegenüber Algerien.« 6

Ich erinnere hier ausschließlich deshalb an den Fall Camus, weil sich so die Lage des heutigen jüdischen Intellektuellen im Unterschied zu der des, ich nenne ihn einmal europäischen Intellektuellen besser verstehen lässt. Was europäischen Intellektuellen immer ein Gräuel war – die eigene Gruppe und Familie gegen universelle Ansprüche zu verteidigen –,...

Erscheint lt. Verlag 9.5.2015
Übersetzer Michael Adrian
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Aby Warburg Preis 2024 • Anneliese Maier-Forschungspreis 2013 • Benjamin Netanjahu • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • edition suhrkamp 2683 • EMET-Preis 2018 • ES 2683 • ES2683 • Frank-Schirrmacher-Preis 2024 • Gaza • Gazastreifen • Gesellschaft • HAMAS • Hannah Arendt • Israel • Nahostkonflikt • Palästinenser • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • Soziologie
ISBN-10 3-518-73802-X / 351873802X
ISBN-13 978-3-518-73802-3 / 9783518738023
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