Demokratie gegen den Staat (eBook)

Marx und das machiavellische Moment
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
269 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78010-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Demokratie gegen den Staat -  Miguel Abensour
Systemvoraussetzungen
21,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Miguel Abensours Demokratie gegen den Staat gehört zu den Klassikern der radikalen Demokratietheorie und der kritischen Theorie. Darin entwickelt er eine Theorie der aufständischen Demokratie, die politische Freiheit mit einer lebendigen Kritik von Herrschaft verbindet. Überraschenderweise nimmt dieser Versuch seinen Ausgang bei Karl Marx, der gemeinhin nicht als bedeutender Demokratietheoretiker gilt. Abensour gelingt es jedoch, in den Texten des frühen Marx eine Theorie der »wahren Demokratie« freizulegen, in der die Demokratie nicht mit dem Staat zusammenfällt. Es ist eine »Demokratie gegen den Staat«, welche sich jeder Unterordnung verweigert und gegen die Auflösung der Politik in Bürokratie und Repräsentation rebelliert.



Miguel Abensour (1939-2017) war Professor für politische Philosophie an der Universität Paris Diderot, Präsident des Collège international de philosophie und Herausgeber der einflussreichen Reihe Critique de la politique. Er war einer der maßgeblichen Denker des Wiederauflebens der politischen Philosophie in Frankreich.

Cover 1
Impressum 5
Inhalt 6
Vorwort zur zweiten Auflage: Die rebellierende Demokratie 8
Vorwort 30
Einleitung 40
I 40
II 54
1. Kapitel: Die Utopie des vernünftigen Staates 63
2. Kapitel: Die politische Intelligenz 81
3. Kapitel: Von der Krise von 1843 zur Kritik der Politik 93
4. Kapitel: Eine Lektüre-Hypothese 107
5. Kapitel: Die vier Merkmale wahrer Demokratie 124
I 126
II 134
III 145
IV 152
6. Kapitel: Wahre Demokratie und Moderne 172
Schluss 202
Nachtrag 226
Wilde Demokratie« und das »Prinzip der Anarchie« 228
I. Wilde Demokratie: Versuch einer Definition 230
II. »Das Prinzip der Anarchie« 243

29Vorwort


Seit einiger Zeit scheint sich die Tendenz, Marx als »alten Hut« zu betrachten, abzuschwächen. Die Rückkehr zu Marx, oder von Marx, kündigt sich an und ist hier und da ganz offensichtlich mit unterschiedlichen Absichten verbunden. Ist die Zeit des Abgesangs vorbei, beginnt nun die Zeit der »Erklärung mit«?

Nun, es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Arten der Rückkehr. Aber anstatt sie nach ihrem Gegenstand zu unterscheiden, ist es besser, den Schnitt gleich zwischen denjenigen anzusetzen, die auf der Seite des Marxismus stehen – oder eines gegebenen Marxismus –, und denjenigen, die eine Position einnehmen, die diesem entschieden fern- beziehungsweise entgegensteht; zwischen denjenigen, die aus Marx weiterhin den Stifter von Bewegungen, Parteien, Staaten machen, und denjenigen, die dieser Art der Verwendung den Rücken kehren und bereit sind, ihn in seiner Singularität und Alleinigkeit zu rezipieren.

Marx hatte die Gewohnheit, zu erklären: »Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin.« Man würde einen großen Fehler begehen, wenn man darin nur einen provokativen Scherz desjenigen sehen würde, den man fälschlicherweise zu einem Gründungsvater erhebt. Marx hat den »utopischen Substitutionalismus« – ein Utopist erhebt den Anspruch, an die Stelle einer sozialen Bewegung zu treten – zur Genüge gerügt und angegriffen, um sich nicht auch gegen den »theoretischen Substitutionalismus« zu wehren, der darin besteht, den Familiennamen eines »großen Theoretikers« gegen die anonyme Emanzipation, die Emanzipation der beherrschten Klasse, aus30zutauschen. Wäre der Marxismus in diesem Sinne nicht die Verkehrung des marxschen Denkens, das dem Projekt einer Arbeiterunion von Flora Tristan näher war als den parteibezogenen oder staatlichen Übersetzungen derer, die sich als seine Schüler bezeichnen? So gesehen, hat der Zusammenbruch der marxistischen Regime, die sich missbräuchlich als sozialistisch ausgaben, unter anderen positiven Effekten den, uns Marx »zurückzugeben«, einen Marx, der von ideologischen Konkretionen, die zwischen ihm und uns eine wahre Mauer errichtet haben, befreit ist. Doch streng genommen, hat diese Form der Rückkehr zu Marx oder vielmehr die Wiederentdeckung von Marx jenseits des Marxismus diesen Zusammenbruch nicht abgewartet. So haben Maximilien Rubel und Michel Henry auf ihre je eigene Weise Wege eröffnet, um uns die Stimme von Marx wieder zu Gehör zu bringen.

Im Falle von Michel Henry eine philosophische Stimme; sein Urteil könnte kaum klarer sein: »Der Marxismus ist die Gesamtheit der Verzerrungen, die man Marx angedeihen ließ.«11 Eine lange währende Verkennung, die dadurch begünstigt wurde, dass das philosophische Werk von Marx lange Zeit unbekannt war, denn, wie Michel Henry immer wieder betont, das Unglaubliche ist, dass der Marxismus sich ohne eine Bezugnahme auf das philosophische Denken von Marx konstituiert und definiert hat, in völliger Unkenntnis dessen. Tatsächlich wurden die philosophischen Hauptwerke von Marx erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts von Riazanov entdeckt. Ausgehend von dieser Feststellung schlägt Michel Henry eine revolutionäre Lektüre von Marx vor, die zum einen 31behauptet, dass die historisch-politischen Texte von Letzterem auf Begriffen aufbauen, die nicht grundlegend sind, zum anderen, dass die wesentlichen Begriffe des Marxismus in keiner Weise die für Marx grundlegenden sind, da sie für ihn weder Realitäten noch Erklärungsprinzipien darstellen. So wird uns der Weg zu einer Philosophie von Marx eröffnet, die auf der Suche nach einer Realität ist, die sowohl durch Hegel als auch durch Feuerbach verlorenging und die nichts anderes wäre als die Praxis, das heißt das reine Handeln als solches.

Im Falle Maximilien Rubels handelt es sich um eine unmittelbarere politische Stimme. Er weist den geringsten Versuch, Marx mit dem Marxismus zu identifizieren, so vehement zurück, dass er Marx geradezu zu einem Kritiker des Marxismus macht. Ist der Autor des Kapitals erst einmal vom Mythos des Gründervaters des Marxismus befreit, vom Mythos der Oktoberrevolution, das heißt von der Transformation seines kritischen Denkens in eine Partei- und Staatsideologie, dann wird er wieder zu dem, was er nie aufgehört hat zu sein: der Denker der Emanzipation der Arbeiter, der auf das zweifache ethische Gebot der Utopie und der Revolution antwortet.12

Wenn man die restaurative Form betrachtet, die das Wiederaufleben der politischen Philosophie in Frankreich annimmt, kann man sicher befürchten, dass diese Rückkehr zu Marx abseits des Marxismus auf eine Neutralisierung seines Denkens hinausläuft, auf seine Aufnahme in den akademischen Korpus, nunmehr abgeschnitten von der grundlegenden Verknüpfung mit der Revolte und dem Messianismus. So lautet jedenfalls eine berechtigte 32Furcht Jacques Derridas.13 Aber diese Neutralisierung ist nicht zwangsläufig, denn die Rückkehr zu Marx formuliert aufs Neue die Frage und den Imperativ der Emanzipation.

Das ist auch die Form der Rückkehr, die eigentlich eher eine Reaktivierung denn eine Rückkehr darstellt, die der vorliegende Essay verfolgt. Wir wenden uns in erster Linie einem herausragenden Text von Marx zu, der lange nach der Entstehung des Marxismus publiziert wurde, dem Manuskript Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, das wahrscheinlich im Sommer 1843 entstanden ist und 1927 von Riazanov veröffentlicht wurde. Marx unternimmt hier quasi Zeile für Zeile eine Kritik der Rechtsphilosophie Hegels, genauer gesagt des Dritten Abschnitts des Dritten Teils, §§ 261-313, der sich mit dem Staat befasst. Dabei geht es uns weniger darum, eine neue Interpretation des Gesamttextes vorzulegen, als vielmehr darum, eine Antwort auf zwei essenzielle Fragen zu finden: 1. Welchen Status erkennt Marx in diesem Text, in dem er in Absetzung von der hegelschen Logik die Eigenlogik des Politischen freizulegen versucht, dem Politischen zu? 2. Welche Form von politischer Gesellschaft verbindet Marx mit der »wahren Demokratie«, deren Einführung für ihn mit dem Untergang des Staates einhergeht? So als würde sich die wahre Demokratie das mit der Französischen Revolution aufgekommene Rätsel wieder aufladen und es auf seinen Höhepunkt treiben.

Es besteht eine Diskrepanz zwischen Marx und dem Marxismus, könnten wir noch immer sagen. Denn wir haben im Zuge einer Analyse des gegenwärtigen machi33avellischen Moments, dessen Aufkommen man als eine Kritik am Marxismus betrachten kann, die das Ziel verfolgt, das – sei es im Rahmen einer Geschichtsphilosophie, sei es im Rahmen eines Unternehmens der Verwissenschaftlichung – verlorengegangene Politische wiederzuentdecken, bemerkt, dass es schon bei Marx ein erstes machiavellistisches Moment gab. Ein Moment, das dem Abenteuer der junghegelianischen Bewegung, die eine der Quellen der politischen Moderne – oder eines ihrer Laboratorien – ist, nicht fremd war; denn diese Bewegung hat in nur wenigen Jahren einen radikalen politischen Liberalismus (Ruge, Marx), den Sozialismus und den Kommunismus (Moses Hess, Engels, Marx), den Anarchismus (Bakunin, Stirner?) und den Zionismus (Moses Hess) hervorgebracht.

Genauer gesagt, geht es hier nicht darum, Marx noch einmal im Licht einer externen Referenz zu lesen, sondern darum, eine interne Lektüre vorzuschlagen, eine Reaktivierung seiner Begriffe und Einsichten, die – berücksichtigt man die Verbindung mit Machiavelli und Spinoza – eine nachdrückliche Frage nach dem Politischen und einen praktischen Willen erkennen lassen, die res publica vom Theologisch-Politischen sowie von feudalen Überresten zu befreien.

Kurz, was passiert mit diesem Text, in dem das Denken des Politischen und das Denken der Demokratie so eng miteinander verknüpft erscheinen, wenn er mit so bedachten Kritikern konfrontiert wird wie Hannah Arendt, Claude Lefort und T. W. Adorno, die gegenüber Marx in demselben Sinne respektvoll waren, in dem Benjamin Constant Rousseau respektierte, auch wenn er ihn kritisierte? Ist es wahr, dass Marx, brevitatis causa, versucht hat, das Politische mit dem Sozialen zu überdecken, dass 34er das Politische aus dem Ökonomischen abgeleitet hat oder dass er sich in einen Quietismus geflüchtet hat, sobald es um das Ende der Herrschaft ging? In der Negativen Dialektik schreibt Adorno: »Ökonomie habe den Primat vor der Herrschaft, die nicht anders denn ökonomisch abgeleitet werden dürfe. […] Er [Engels] und Marx wollten die Revolution als eine der wirtschaftlichen Verhältnisse in der Gesellschaft als ganzer, […], nicht als Änderung der Spielregeln von Herrschaft, ihrer politischen Form.«14 Doch ist die wahre Demokratie nicht eher in den Begriffen von Unruhe und Infragestellung zu denken?

Demokratie gegen den Staat? Dieser Titel ist in einem wörtlichen Sinne bewusst paradoxal. Zunächst bricht er mit der doxa der Anhänger der Demokratie, für die Demokratie und Staat eine Einheit, ein Herz und eine Seele sind. Sie identifizieren das eine dermaßen mit dem anderen, dass sie, wie es scheint, ohne Probleme den Ausdruck »der demokratische Staat« prägen. Die Allianz dieser beiden Begriffe, die sich von selbst zu verstehen scheint, versteht sich jedoch keineswegs von selbst. Weshalb sollte zwingend eine vorgängige Übereinstimmung zwischen Staat und Demokratie bestehen, wenn Letztere mit der griechischen Stadt entstanden ist? So hat der Staat in seiner Souveränität den Umständen und den Eingebungen seiner Führer entsprechend die Wahl, entweder auf demokratische oder auf autoritäre Formen der Machtausübung zurückzugreifen.

Aber...

Erscheint lt. Verlag 16.4.2012
Übersetzer Andrea Hemminger
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel La démocratie contre l'état
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Schlagworte aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • Demokratie • Karl • La démocratie contre l'état deutsch • Marx • Marx Karl • Marx, Karl • Neuererscheinung • neues Buch • Politische Philosophie • Staat • STW 2447 • STW2447 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2447
ISBN-10 3-518-78010-7 / 3518780107
ISBN-13 978-3-518-78010-7 / 9783518780107
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,3 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Zusätzliches Feature: Online Lesen
Dieses eBook können Sie zusätzlich zum Download auch online im Webbrowser lesen.

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich

von Anke Schad-Spindler; Friederike Landau-Donnelly …

eBook Download (2023)
Springer Fachmedien Wiesbaden (Verlag)
59,99
12 Ermutigungen, die Welt mit den Mitteln des Rechts zu verändern

von Nora Markard; Ronen Steinke

eBook Download (2024)
Campus Verlag
22,99