Das neue Lernen (eBook)

heißt Verstehen

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
272 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2258-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das neue Lernen -  Henning Beck
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Henning Beck zeigt, wie zeitgemäßes Lernen funktioniert   »Intellektuell und rhetorisch der bestmögliche Mann zum Thema Lernen.« Richard David Precht   In der Nacht vor der Klausur noch schnell den Lernstoff in den Kopf bekommen, das versuchen viele. Doch schon zwei Wochen später ist alles wieder vergessen. Wie aber gelingt es, Wissen langfristig zu behalten? Noch dazu in einer Welt, in der Wissen Vorsprung schafft? Verstehen ist die Zauberformel - und die wahre Stärke menschlichen Denkens. Hirnforscher Henning Beck zeigt, wie es geht.   Ob in der Schule, in Unternehmen oder im täglichen Leben: Um der heutigen Informationsflut gerecht zu werden, müssen wir lebenslang lernen. Lernen ist aber nur die halbe Miete. Denn das, was man gelernt hat, kann man auch wieder ver-lernen. Erst wenn wir Zusammenhänge verstanden haben, können wir Wissen dauerhaft abspeichern. Der Hirnforscher und Neurobiologe Henning Beck kennt die neuesten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse. Anschaulich erklärt er, wie echtes Verstehen unser Denken auf den Kopf stellt. Er hinterfragt Lernmethoden kritisch und zeigt darüber hinaus konkrete Wege für Problemlösungen auf.   Die neue Lernmethode von Bestsellerautor und Neurowissenschaftler Henning Beck

Henning Beck, geboren 1983, studierte Biochemie in Tübingen und wurde im Fach Neurowissenschaften promoviert. Er arbeitete an der University of California in Berkeley, publiziert regelmäßig in der WirtschaftsWoche und für Deutschlandfunk Nova, hält Vorträge zu Themen wie Hirnforschung und Kreativität und ist Autor von Irren ist nützlich, Das neue Lernen und 12 Gesetze der Dummheit. Henning Beck lebt in Frankfurt am Main.

Henning Beck studierte Biochemie in Tübingen. Anschließend forschte er am Hertie Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen und am Institut für Physiologische Chemie in Ulm. Promoviert wurde er 2012 an der Graduate School of Cellular & Molecular Neuroscience in Tübingen, bevor er 2013 in Berkeley / Kalifornien arbeitete.

1.2 Das Lernsystem des Gehirns

Es war ein trüber Septembernachmittag im Jahre 1987. Ich setzte mich vor einen brandaktuellen Atari 1040 STF, der, meiner Meinung nach, beste Heimcomputer seiner Generation. Alles dabei, was später erst mit Microsoft Windows den PC-Markt erobern sollte: Maus, Festplatte mit 1-Megabyte-Speicherplatz, Tastatur, Bildschirm, Textverarbeitungs- und Grafikprogramme und: Spiele. Haufenweise Spiele, die ich als kleiner Junge im Vorschulalter natürlich super fand, Pac-Man, Bumerang, Schach … Besonders Pac-Man hatte es mir angetan, das Spiel, bei dem man ein Gesicht punktemampfend durch ein Labyrinth steuern muss. Ein Heidenspaß.

Ohne es darauf abgesehen zu haben, lernte ich, wie man das Spiel am besten spielen muss. Die Herausforderung mag vergleichsweise banal erscheinen, doch bei genauerem Betrachten ist die Sache gar nicht so einfach. Man muss zunächst die Spielregeln lernen. Da ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausreichend lesen konnte und keiner mir die Regeln erklärt hatte, brachte ich sie mir selbst bei – und zwar je öfter ich spielte. Zum anderen musste ich erkennen, welche Spielstrategie besonders zielführend ist. Schließlich sollte man die Spielfigur nicht planlos über den Bildschirm scheuchen, sondern dafür sorgen, dass sie möglichst effizient und auf kürzestem Weg die Belohnungspunkte einsammelt, ohne von den Gespenstern erwischt zu werden. Und zu guter Letzt musste auch noch meine Augen-Hand-Koordination geschult werden. Sprich, ich lernte unterbewusst eine Bewegungsstrategie. Innerhalb kürzester Zeit wurde ich immer besser im Pac-Man-Spielen. Waren mir die ersten Level zunächst noch unglaublich schwergefallen, erschienen sie mir nach ein paar Tagen, in denen ich in immer höhere und schwierigere Spielstufen vorgedrungen war, kinderleicht.

Lernen passiert offenbar ständig, auch dann, wenn wir es gar nicht beabsichtigen. Viele stellen sich vor, dass man für das Lernen ein geschütztes Umfeld schaffen muss, in dem man den Wissenserwerb besonders effizient gestaltet. Gelernt wird in einem Klassenzimmer oder einem Schulungsraum, man setzt sich an einen Schreibtisch, um zu lernen, oder man nimmt sich abends noch ein paar Stunden, um den Lernstoff durchzugehen. Dabei unterteilt unser Gehirn seine Zeit nicht in Phasen des Lernens und Nichtlernens. Im Gegenteil, wir sind permanent darauf ausgerichtet, Neues zu erfahren und die eintreffenden Sinnesreize so zu sortieren, dass wir sie das nächste Mal leichter und besser verarbeiten können. Das Gehirn passt sich permanent an. Wie gelingt ihm das genau?

Ein Empfangsbereich im Gehirn

Das Gehirn arbeitet mit Nervennetzwerken. Um die gewaltigen Nachteile (zum Beispiel das katastrophale Vergessen oder die Inflexibilität), die ein solches System mit sich bringt, zu umgehen, wendet es beim Lernen einen Kniff an: Informationen werden nicht sofort, sondern über eine Zwischenstation verarbeitet. Denn damit neue Informationen auch dauerhaft im Gehirn verfestigt werden können, müssen sie sich als würdig erweisen und durch diese Empfangshalle hindurch. Natürlich sagt kein Neuroanatom »Empfangshalle«, sondern Hippocampus, das klingt wissenschaftlicher und erinnert obendrein daran, dass diese Hirnstruktur entfernt einem Seepferdchen (lat. hippocampus) mit eingekringeltem Schwanz ähnelt. In jeder Hirnhälfte haben wir einen Hippocampus, jeder in etwa so groß wie zwei Fingerkuppen, mit grob gerundeten vierzig Millionen Nervenzellen.4 Im Vergleich zu den etwas mehr als achtzig Milliarden Nervenzellen, die wir insgesamt im Gehirn haben, ist das nicht besonders viel (weniger als ein Tausendstel). Diese Nervenzellen sitzen allerdings an einer wichtigen Stelle – nämlich dort, wo sich entscheidet, ob wir uns später an die eintreffenden Informationen erinnern.

In Frankfurt, wo ich wohne, gibt es einige sehr hohe Geschäftsgebäude, in deren oberen Etagen Büros und Besprechungsräume sind. Wenn man dort hinwill, muss man sich im Eingangsbereich anmelden. Von hier aus wird eine Kontaktperson im Büroturm angeklingelt, damit sie einen in Empfang nimmt. Wenn ich einfach so ins Gebäude laufen würde, bestünde schließlich die Gefahr, dass ich in irgendeine Besprechung reinplatze, in der ich nichts verloren habe. Natürlich ist die räumliche Trennung im Gehirn nicht ganz so streng wie in einem Bürogebäude, doch die Funktion des Hippocampus ist ähnlich wie die einer Rezeption: Eine Information trifft zunächst auf den Hippocampus und löst dort ein entsprechendes Aktivitätsmuster der Nervenzellen aus. Dieses Erregungsmuster kann anschließend ins Großhirn weitergeleitet werden.

Die Rezeption eines Büroturms kann natürlich nicht unendlich viele Gäste gleichzeitig abfertigen. Andererseits muss es im Empfangsbereich auch besonders schnell gehen, damit nicht schon am Eingang ein Stau entsteht. Ähnlich geht der Hippocampus vor. Er arbeitet schnell, aber nicht besonders dauerhaft. Schließlich ist er nicht der Ort unseres Gedächtnisses, sondern sorgt dafür, dass die Informationsmuster schnell in die Großhirnrinde weitergeleitet werden, in der sie dann dauerhaft verankert werden können. Nachdem er die wichtigsten Infos aufgenommen hat, geht die eigentliche Arbeit erst richtig los. Er muss Teile der Großhirnrinde trainieren, damit die dortigen Netzwerke auch ausreichend Möglichkeit haben, ihre Kontaktstellen anzupassen. So schnell und kurzfristig der Hippocampus arbeitet, so langsam und langfristig tickt das Großhirn. So geht nicht verloren, was einmal im Langzeitgedächtnis angekommen ist.

Lernen im Schlaf

Der Hippocampus ist also gewissermaßen der Gedächtnistrainer des Großhirns – gleichzeitig ist er auch der Flaschenhals für neue Informationen. Seine Aufnahmekapazität ist dabei begrenzt, also muss sichergestellt werden, dass er nicht überlastet wird. Ansonsten würde es zu einem Informationsstau kommen. Ganz ähnlich, wie wenn sich viele Menschen in einem Eingangsbereich drängeln. In einer Empfangshalle könnte man mit Drehkreuzen arbeiten, im Straßenverkehr mit Blockabfertigung, und das Gehirn … schläft.

Der Schlaf stellt eine prima reizarme Umgebung dar, in der der Hippocampus nicht mit neuen Informationen konfrontiert wird. Diese Gelegenheit lässt sich der Hippocampus nicht entgehen und spult die wichtigsten Infos des Tages wieder ab,5 präsentiert sie in Form von Aktivitätsmustern immer und immer wieder dem Großhirn, bis auch die dortigen Nervenzellen feststellen: »Junge, Junge – das scheint ein wichtiges Muster zu sein. Am besten justieren wir unsere Verbindungen so, dass das Muster das nächste Mal leichter ausgelöst werden kann.« Und schon lernt selbst das vergleichsweise träge Großhirn etwas Neues. Irgendwann wird der Hippocampus gar nicht mehr gebraucht, und das Großhirn kann völlig selbstständig ein Informationsmuster erzeugen. Fertig ist das Langzeitgedächtnis.

Dies ist der Grund dafür, dass Gelerntes nach einer durchgeschlafenen Nacht besser präsent ist, als wenn man die ganze Zeit wach geblieben wäre. Anders gesagt: Wer direkt nach dem Vokabellernen ein kurzes Nickerchen hält, kann sich anschließend besser an die Vokabeln erinnern. Dafür muss man auch kein Hirnforscher sein, denn das ist schon seit über neunzig Jahren bekannt, also lange bevor man anfing, die Hirnaktivität beim Schlafen zu untersuchen.6

Aktuell geht man davon aus, dass das austarierte Wechselspiel zwischen Hippocampus und Großhirn in den verschiedenen Schlafphasen fürs Lernen besonders wichtig ist. Im Tiefschlaf könnte der Hippocampus besonders intensiv auf das Großhirn einwirken und die Infos des Tages wiederholen. Im Traumschlaf spielt hingegen das Großhirn seine Stärke aus und verknüpft die neuen Aktivitätsmuster mit älteren – und kommt so auf neue Ideen.7 Das kann man leicht bei sich beobachten, wenn man versucht, sich an seine Träume zu erinnern. Diese sind häufig eine Mischung aus Aktuellem und länger Zurückliegendem.

Dass der Schlaf besonders wichtig fürs Lernen ist, bedeutet jedoch nicht, dass der Hippocampus während des Wachseins untätig wäre. Im Gegenteil, neuere Untersuchungen sprechen eher dafür, dass der Hippocampus sofort loslegt und seine Aktivitätsmuster dem Großhirn präsentiert und nicht erst Stunden später.8 Die Frage ist nur: Wie entscheidet der Hippocampus, welche Information lernwürdig ist und welche so banal, dass er nicht schon wieder das Großhirn dafür aktivieren muss? Wenn der Hippocampus bei jeder Information das ganze Aktivierungsprogramm anwerfen würde, würden wir zwar permanent lernen – aber zu viel Energie verschwenden. Wenn ich immer wieder in dasselbe Bürogebäude gehe, um dort meine Kontaktperson zu treffen, muss ich mich schließlich auch nicht mehr ausführlich am Empfang anmelden, weil man mich schon kennt. Dann werde ich irgendwann einfach durchgewunken und kenne meinen Weg in den sechzigsten Stock.

Der Passierschein neuer Informationen

Im Empfangsbereich eines Wolkenkratzers wird ein Besucher nach dem anderen »abgearbeitet«, also begrüßt, vermerkt und weitergeleitet. Ganz Ähnliches macht der Hippocampus auch. Er arbeitet Informationen nacheinander ab – und das Kriterium dafür, ob eine Information anschließend dem Großhirn präsentiert wird, hängt von zwei Dingen ab: Erstens, unterscheidet sich die Information von der vorherigen? Zweitens, ist die Information neuartig und überraschend?

Unterscheidet sich ein Reiz vom vorherigen, ist dies ein Signal dafür, dass ein neuer Lerninhalt beginnt. Das ist sogar direkt in der Aktivität des Hippocampus sichtbar. Man fand dies...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2020
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
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ISBN-10 3-8437-2258-7 / 3843722587
ISBN-13 978-3-8437-2258-2 / 9783843722582
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