Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt (eBook)

Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
350 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561706-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt -  Natalie Zemon Davis
Systemvoraussetzungen
14,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Die in diesem Band versammelten Essays der berühmten amerikanischen Historikerin Natalie Zemon Davis geben eine subtile und faszinierend konkrete Darstellung des gesellschaftlichen Umbruchs am Beginn der Neuzeit, der nicht nur die Lebensweise der Eliten, sondern auch der unteren Bevölkerungsschichten verändert hat. Die populäre Kultur erscheint selbst als dynamisches Moment dieses Umbruchs. Mit ihrer »dichten Beschreibung« der städtischen Kultur des 16. Jahrhunderts eröffnete die Autorin neue historische Sichtweisen und setzte einen Meilenstein auf dem Weg zu einer neuen Geschichtsschreibung. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Natalie Zemon Davis wurde 1928 in Detroit geboren. Sie lehrte Geschichte an den Universitäten von Toronto, von Kalifornien (Berkeley), an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales und an der Universität Princeton. Sie hat ein umfangreiches Werk veröffentlicht, ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Gesellschaften, Beratungs- und Herausgebergremien. Für ihre Forschungsarbeiten ist sie mit zahlreichen Preisen ausgestattet worden.

Natalie Zemon Davis wurde 1928 in Detroit geboren. Sie lehrte Geschichte an den Universitäten von Toronto, von Kalifornien (Berkeley), an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales und an der Universität Princeton. Sie hat ein umfangreiches Werk veröffentlicht, ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Gesellschaften, Beratungs- und Herausgebergremien. Für ihre Forschungsarbeiten ist sie mit zahlreichen Preisen ausgestattet worden. Norbert Schindler, geb. 1950 in Chieming/Chiemsee; Studium der Politischen Wissenschaft, Germanistik, Philosophie und Geschichte in München; 1985–87 Wiss. Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin/Arbeitsschwerpunkt »Kultur und Interaktion«; 1991 Promotion an der Universität Konstanz; 2001 Habilitation an der Universität Salzburg.

1. Kapitel
Streiks und Erlösung in Lyon


Lyon war groß und wohlhabend. Zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts wuchs seine Bevölkerung auf 60000 Einwohner an; sein Handelsgewerbe dehnte sich aus, seine jährlichen Messen wurden ein Zentrum des europäischen Geldmarktes. Nicht unerwartet hatten diese raschen Veränderungen auch Unzufriedenheit in ihrem Gefolge, und die Einwohner machten kein Geheimnis aus ihrem Mißvergnügen. Der Protest reichte von den gewalttätigen Korn-Aufständen der ungelernten Arbeiter und ihrer Frauen bis hin zum wohlorganisierten Kampf der Handwerksmeister und Kaufleute um eine Steuerreform und eine weniger exklusiv besetzte städtische Ratsversammlung. Im gleichen Zeitraum verbreitete sich der Protestantismus in der Stadt. Ungefähr ein Drittel der Einwohner bekehrten sich zu seiner Lehre, und nach einem erfolgreichen calvinistischen Aufstand wurden die übrigen gezwungen, seine Gottesdienste zu besuchen. Ein Jahr später kamen die Katholiken zurück, und der Niedergang der Protestanten begann – zuerst schrittweise, dann in den späten sechziger Jahren immer schneller, besiegelt schließlich durch das Blut der Massaker in der Bartholomäusnacht von 1572.[1]

Das Lyoner Druckgewerbe stellt einen außerordentlich günstigen Fall dar, an dem man die Wechselbeziehungen zwischen »sozialen Kräften« und Reformation in der Stadt untersuchen kann. Die etwa 600 Personen, die darin arbeiteten, waren Männer aus fast allen gesellschaftlichen Schichten: die großen Handelsverleger, die der städtischen Ratsversammlung angehörten, unabhängige Verlagsdrucker, die zu den »Notabeln« der Stadt gehörten, die kleinen Handwerksmeister und Drukkergesellen, die mit den anderen Handwerkern als die menu peuple – die kleinen Leute – zusammengefaßt wurden. Nur der ungelernte Tagelöhner fehlte. Es gab in diesem Gewerbe viel ökonomische Unzufriedenheit, wobei die Meister in der Zeit bis 1572 auf der gleichen Seite wie die Verleger gegen die Gesellen standen. Es gab Koalitionen, Verschwörungen, gerichtliche Auseinandersetzungen, Streiks.[2] Bekanntlich stellte das Druckgewerbe aber auch viele Anhänger der protestantischen Sache, in Lyon wie in anderen Druckzentren.

Es liegt nahe, im Vorgriff auf die Untersuchungsergebnisse zu vermuten, daß sich die meisten Lyoner Protestanten aus dem Druckgewerbe im ökonomischen Kampf auf der gleichen Seite befanden. Aber dies stellt sich als unzutreffend heraus. Ich habe das Beweismaterial untersucht – das Gruppenverhalten und die gedruckten Bücher ebenso wie die Lebensgeschichten von ein paar hundert einzelnen Verlegern, Meistern und Gesellen, und habe festgestellt, daß der Protestantismus frühzeitig alle Schichten ergriff, und in der Mitte der fünfziger Jahre des sechzehnten Jahrhunderts hatte sich die große Mehrheit der im Druckgewerbe Beschäftigten an ihn gebunden.[3] Es war durchaus üblich, daß ökonomische Gegner religiöse Verbündete waren, sogar innerhalb ein und derselben Druckerei. Nur um 1565 scheint es eine Beziehung zwischen ökonomischer und religiöser Stellung zu geben, nämlich die, daß Verleger und Meister eher in der Reformierten Kirche blieben als Gesellen.

Konzentrieren wir uns auf die Druckergesellen. Es waren schließlich Gruppen wie diese, über die Henri Hauser vor Jahrzehnten sagte, die Reformation sei sowohl eine soziale als auch eine religiöse Revolution gewesen; die unteren Klassen hätten sich nicht nur gegen die verfälschte Lehre und den Klerus erhoben, sondern zugleich auch gegen Armut und Ungerechtigkeit, und sie hätten in der Bibel nicht nur die Erlösung durch den Glauben gesucht, sondern auch die ursprüngliche Gleichheit der Menschen.[4] In solchen städtischen Gruppen – mit Männern, die neu in der Stadt waren und nicht in den Rang von Meistern aufsteigen konnten – fanden einige Historiker eine gesellschaftliche Matrix für den radikalen Protestantismus und den revolutionären Chiliasmus.[5] Stimmen diese Behauptungen für die Druckergesellen? Wie waren sie wirklich? Wie können wir uns ihr Interesse am Protestantismus erklären und ihre Fähigkeit, zwischen religiösen und ökonomischen Überlegungen zu unterscheiden? Was geschah schließlich in den sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts und ließ ihre ökonomischen und ihre religiösen Präferenzen aufeinanderstoßen? Wenn wir diese Fragen beantworten, werden wir sehen, daß »soziale Kräfte« ein weitläufiger und schwer zu erfassender Terminus ist. Er kann sich auf Umstände oder Ereignisse beziehen, die die Einstellung eines Menschen zu vielen Dingen formen – zu seiner Frau, zu seinem Besitz, zu seinen Bildungschancen. Aber er kann sich auch auf bestimmte spezifische Ziele beziehen, die jemand in Hinsicht auf seine Arbeit oder seine Vorgesetzten ins Auge faßt, und auf spezifische Schritte, die er unternimmt, um diese Ziele zu erreichen.

Die Druckergesellen waren Männer, die eine Reihe von Jahren und oft ihr ganzes Erwachsenenleben damit zubrachten, gegen Lohn als Drukker, Schriftsetzer und Korrektoren zu arbeiten. Sie kamen von überall her nach Lyon – aus Bauerndörfern, aus anderen Städten, sogar von außerhalb Frankreichs. Fast alle verrichteten eine andere Arbeit als ihre Väter vor ihnen, und sie verrichteten sie in einem Handwerk, das relativ neu war und keine Traditionen besaß.

Es ist nicht erstaunlich, daß sie versuchten, Traditionen für sich zu schaffen, und daß sie taten, was in ihren Kräften stand, um sich weniger verloren und einsam zu fühlen. Ein wenig half das Leben im Betrieb. Sie arbeiteten gemeinsam, drei oder vier an einer Presse, und die Drukker koordinierten ihre Arbeit mit dem Schriftsetzer und dem Korrektor. Wie die Gesellen selbst sagten, konnte man sie nicht »mit den anderen Handwerkern vergleichen, die ihre Arbeit als einzelne leisten.«[6] Unverheiratete Arbeiter wohnten oft zusammen. Sie alle aßen gemeinsam am Tisch des Meisters. Sie verbrachten ihre freie Zeit zusammen, tranken und redeten in den Schenken, zogen durch die Straßen, planten Vergnügungen der einen oder anderen Art. Aber ihr Hunger danach, einer bedeutungsvollen Gemeinschaft anzugehören und an ihr teilzuhaben, war nicht gestillt. Die Kluft zwischen ihnen und ihren Meistern belastete sie. Es bestand nicht nur eine ökonomische Kluft, sondern sie waren auch von administrativer Verantwortung abgeschnitten. Man drohte sogar mit Kündigung und Auszug, als die Meister, um Geld zu sparen, die Gesellen zwingen wollten, außerhalb zu essen. Die Gesellen kämpften dagegen und begannen ihre Meister zu verdächtigen, »bösartige Pläne und geheime Fallen« gegen sie zu schmieden. Und die Arbeiter sagten, wie schlimm das doch gerade im Druckgewerbe wäre, wo »mehr als in allen anderen Künsten Meister und Gesellen eins sind oder sein sollten, wie eine Familie und Bruderschaft.«[7]

Aber die Kluft war da, und keine Nostalgie konnte die Tatsache verdecken, daß der Konflikt der ökonomischen Interessen sie noch erweiterte. So verloren die Gesellen ihren Enthusiasmus für die Bruderschaft der Drucker, der sie zu Anfang des 16. Jahrhunderts zusammen mit ihren Meistern im Karmeliterkloster angehört hatten. Statt dessen bildeten sie eine eigene weltliche Bruderschaft und nannten sie Zunft[8] – die Zunft der Griffarins.[2]

Ähnlich war ihre Lage gegenüber dem katholischen Klerus in Lyon. Die Pfarrkirchen, die das Druckerviertel betreuten, waren entweder den »nonchalanten« Söhnen adliger Familien aus der Umgebung unterstellt oder Chorherren, die den Ratsfamilien Lyons angehörten. Das hätte vielleicht weniger ausgemacht, wenn es mehr Männer wie den Dominikaner Santo Pagnini gegeben hätte (siehe S. 42). Er predigte wortgewaltig im Sinne der katholischen Orthodoxie und für ein neues System der städtischen Armenpflege. Er holte aus seinen reichen Freunden und Verwandten Geld für ein neues Hospital heraus, war aber auch mit Männern in verschiedenen Druckereibetrieben verbunden. Aber leider folgte kaum ein Mitglied des Lyoner Klerus seinem Beispiel, bis es schließlich zu spät war.[9]

Es ist kaum verwunderlich, daß die sich abzeichnende neue Form des Gottesdienstes, an dem die Gemeinde teilnehmen konnte und der in der Umgangssprache abgehalten wurde, bei den Druckergesellen eine positive Resonanz fand. Ein armer Waffenschmied, der sein Leben riskierte, um in den dreißiger Jahren unter ihnen Proselyten zu machen, erschien nicht im geringsten »nonchalant«. Er sagte ihnen, er sei ebensosehr ein Priester wie jedermann, der Himmel sei Gottes Kirche und die Erde sein Teppich, und man könne die Worte des Sakraments überall sagen.[10] Die Art religiöser Erfahrung, die die Druckereiarbeiter später suchten, drückt sich in den öffentlichen Prozessionen aus, die sie 1551 organisierten. Sie handelten unabhängig von den geheimen Pastoren, die sich mit weniger widerspenstigen Protestanten in kleinen Konventikeln trafen. Ein paar hundert bewaffnete Gesellen führten andere Handwerker und deren Frauen durch die Straßen, sangen die Psalmen auf französisch und durchmischten ihre Psalmen sogar mit Schmähungen gegen die adligen Chorherren der Kathedrale von Saint Jean.[11] Ihre Anzahl und ihre aktivistische Sängergemeinschaft halfen ihnen nicht nur, der Festnahme zu trotzen, sondern linderten auch die tieferliegenden Ängste vor Tod und menschlicher Isolierung.

Die...

Erscheint lt. Verlag 31.3.2017
Nachwort Norbert Schindler
Übersetzer Nele Löw Beer
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Essay • Frankreich • Gesellschaft • Gewalt • Humanismus • Sachbuch
ISBN-10 3-10-561706-X / 310561706X
ISBN-13 978-3-10-561706-9 / 9783105617069
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 5,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Praktische Ansätze zur Gestaltung eigener KI-Lösungen

von Jakob J. Degen

eBook Download (2024)
tredition (Verlag)
24,99