Grenzsituationen (eBook)

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2015 | 1. Auflage
188 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560637-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Grenzsituationen -  Raymond Battegay
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Menschen mit seelischen und anderen Problemen befinden sich häufig in Grenzsituationen, die ihr Leben bedrohen. Solche Grenzsituationen können Depressionen, Süchte, neurotische und psychotische Erkrankungen, aber auch kollektiv erklärbare Verhaltensweisen sein. Raymond Battegay stellt solche möglichen Grenzsituationen dar und zeigt therapeutische Wege aus der Bedrohung. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Prof. Dr. med. Raymond Battegay war Ordinarius für Psychiatrie und Leiter der pychiatrischen Universitätspoliklinik in Basel. Er ist Autor zahlreicher Bücher zu psychotherapeutischen Themen und Dozent an der Akedemie für Positive Psychotherapie in Wiesbaden.

Prof. Dr. med. Raymond Battegay war Ordinarius für Psychiatrie und Leiter der pychiatrischen Universitätspoliklinik in Basel. Er ist Autor zahlreicher Bücher zu psychotherapeutischen Themen und Dozent an der Akedemie für Positive Psychotherapie in Wiesbaden.

2. Die depressive Grenzsituation


Verfällt ein Individuum dem Dunkel einer endogenen oder anderweitigen Depression, so erfährt es zutiefst den Einzug der ihn ängstigenden Leblosigkeit oder aber der sinnlosen Angetriebenheit (Agitiertheit) an seinem eigenen Leib wie in seinem Erleben. Wenn auch in den letzten Jahren mehr und mehr Befunde dafür sprechen, daß den schweren, »endogenen« (= Melancholien) und wohl auch den anderen Depressionen eine Störung zentraler Überträgersubstanzen aus der Gruppe der Katecholamine, des Serotonins sowie der Endorphine und vielleicht noch anderer Transmitter zugrunde liegt, so stellt diese leibliche Befindlichkeit der Schwermut immer ein Erleben dar, das den Menschen an die Grenzen seiner Leidensfähigkeit bringt.

Die depressive Grenzsituation mit ihrer Stoffwechsellage kann auch erlebnisbedingt eintreten, so daß die Depression dafür zeugt, daß der Betroffene an die Grenzen seiner Verarbeitungsfähigkeit gelangt ist. Die schmerzlichen und bis ins Körperliche sich erstreckenden Oppressionsgefühle führen die Beteiligten in eine Daseinsenge, die sie höchstens deshalb aushalten, weil sie nicht einmal mehr die notwendige Energetik zur Verfügung haben, sich – aktiv – das Leben zu nehmen. Dennoch kommen die Depressiven, besonders die schwer Betroffenen, nicht selten an die Grenzen ihrer Fähigkeit, das Dasein zu ertragen. Sie geraten in eine absolute Daseinsverengung, über die sie nicht hinaussehen und aus der sie nur noch eine (vermeintliche) Befreiung sehen: den »Frei«-tod. Daß ihr Entschluß in diesem Zustand tiefster Bedrückung im Grunde aber kein freier sein kann, wird ihnen nicht bewußt. Ihre Bedrücktheit und die Existenzverfinsterung sind derart, daß sie zu einer wahren Bilanz nicht imstande sind. Ihre Flucht in den Suizid geschieht aus innerer Not, einer Pein, in der sie keineswegs frei zwischen Möglichkeiten wählen können, sondern sich zur Beendigung ihres Daseins gezwungen fühlen. Sie stehen in diesem Moment der Welt so gegenüber, daß sie sie nur als bedrückend erleben können. »Berge« stellen sich ihnen und ihrem Lebensvollzug entgegen, und sie erleben die Welt als unbegehbar, als für sie überdimensioniert, unwirtlich, grau, erdrückend, kalt, beängstigend. Das Nicht-mehr-leben-müssen bringt ihnen in ihrer Vorstellung Erleichterung. Vage mögen sie hoffen, daß ihr Freitod ihnen andere Dimensionen eröffne, in denen sie nicht mehr beengt sein werden durch eine für sie nicht zu bewältigende, erdrückende, frostige, äußere Realität. Diese hintergründig in Äußerungen von Depressiven sich zu erkennengebende Hoffnung läßt vermuten, daß mit dem Suizid eine Überwindung der beengenden Zeitlichkeit gesucht wird, eine Vorwegnahme des Jenseits, in den diesseitigen, sozialen Bezügen. Es sind jene Menschen, die, wie Henseler (1974) feststellt, ein hochgespanntes Ich-Ideal aufweisen, dem sie, bei strengen Über-Ich-Anforderungen, nicht zu genügen vermögen.

Der Depressive versucht, wie Tellenbach (1961) dargelegt hat, korrekt, geordnet und ordentlich zu leben, wobei er zutiefst immer hofft, daß er ein totales Objekt (Melanie Klein, 1935) finde, eine nur gute, alles spendende Mutterbrust, die ihn in der strengen Gewissenswelt, in der er lebt, bedingungslos mit Liebe ernährte. Fenichel (1945) spricht davon, daß Depressive im Grunde »Liebessüchtige« (»love addicts«) seien. Da seine überdimensionierte, nicht verarbeitete Gewissenszentrierung aber nicht einmal den Zugang zu – zumindest partiell befriedigenden – Teilobjekten gestattet, bleibt der Schwermütige aber leer, ohne wärmendes Selbstgefühl, unerfüllt, depressiv. In den Tiefen der Depression steht den Betroffenen, wie wir andernorts dargelegt haben (Battegay, 1977), keine narzißtische Libido bzw. Aufmerksamkeit mehr zur Verfügung, um das Ich mit seinen Funktionen zu besetzen. Bei den endogenen Depressionen vorwiegend aus biochemischen Gründen, bei anders verursachten depressiven Zustandsbildern aus psychologischen oder somatischen Krankheitsgründen, wohl auch auf dem Umweg über die erwähnte Stoffwechselbeeinflussung, ist es den Betroffenen nicht mehr möglich, ihren Narzißmus auf das Ich, aber auch nicht auf das Über-Ich, ihr Gewissen, zu verlegen. Es tritt die Grenzsituation ein, bei der das Ich als fremd und das Über-Ich als archaisch-grausam, streng und fordernd erlebt werden. Ein Suizid kann auch deshalb eher vollzogen werden, weil das Ich nicht mehr mit Eigenliebe versehen und das Über-Ich als nur noch mitleidslos-bestrafend erfahren wird.

Es ist nicht so, wie Freud (1916) und Abraham (1916) annahmen, daß in der Melancholie ein Rückzug der Libido auf den Narzißmus erfolgte. Vielmehr treffen wir bei den Depressiven auf den Umstand, daß sie überhaupt keinen Narzißmus mehr zur Verfügung haben. Sie behandeln deshalb, wie Freud und Abraham richtig beobachteten, das Ich so, wie wenn es ein fremdes wäre, nicht aber so sehr, weil sie eine nahe Bezugsperson, von der sie vergeblich vieles erwartet hätten, introjiziert haben, sondern eher weil, wie gesagt, die narzißtische Libido oder Aufmerksamkeit vollkommen versiegt und sie weder ihr Ich noch ihr Über-Ich, noch ein Objekt, eine Bezugsperson, narzißtisch zu besetzen vermögen. Es ist diese zentrale Erkrankung des Narzißmus – die wohl mit der erwähnten Störung zentraler Transmittersubstanzen zusammenhängt –, die es den Depressiven verunmöglicht, ihr eigenes Ich und ihr Über-Ich mit Liebe zu versehen. Es wird so nicht nur ihre erlebensmäßige Ich-Repräsentanz zu einer Last, sondern auch ihr Körper-Ich, ihre Körperlichkeit. Die sie oft – zusätzlich oder scheinbar ausschließlich – belastenden vegetativen Störungen und Schmerzempfindungen sind Zeichen dafür, wie sehr ihr Körper der narzißtischen Wärme entbehrt. Nur bei einer entsprechenden narzißtischen Besetzung des Körpers vermag ein Mensch beschwerdefrei zu leben. Den Depressiven gelingt es nicht mehr, narzißtische Aufmerksamkeit aufzubringen und somit dem Körper zu einem einwandfreien und deshalb unbeachteten, unbewußt lustvoll erlebten Funktionieren zu verhelfen. Bei diesem Versiegen des narzißtischen Lebensflusses, des narzißtischen Erkennens, kommt es dazu, daß die Depressiven nicht mehr Schritt zu halten vermögen mit ihrer mitmenschlichen Umwelt, da sie aus dem interaktionellen System mehr oder weniger herausgestellt sind. Damit befinden sich die Menschen, die sich in einer Depression befinden, in einem Zustand, in dem sie die sozialen Regeln nicht mehr zu befolgen vermögen, in einem Zustand der Anomie (Durkheim, 1893, Merton 1957). Dabei spielt es keine Rolle, welche Art der Depression vorliegt. Immer ist der Betroffene im Status der schweren depressiven Befindlichkeit, zumindest subjektiv, herausgestellt aus dem Lebensgeschehen. Wir müssen aus der Ähnlichkeit des klinischen Bildes annehmen, daß psychogene, endogene, symptomatische und organische Depressionen (Kielholz, 1965) die erwähnte Tatsache zur Grundlage haben, daß sie ihr Ich nicht mehr narzißtisch zu besetzen vermögen. Wir haben, wie angeführt, allen Anlaß zur Annahme, daß das depressive Syndrom, unabhängig von dessen Auslösung, durch »psychogene«, »endogene« oder »somatogene« Faktoren, auf der gleichen Stoffwechselstörung basiert. Auch müssen wir uns ernsthaft fragen, ob nicht alles, was als reaktive oder neurotische Depression oder als depressive Entwicklung infolge von dauerhaften (bewußten) Milieubelastungen angesehen wird, meist mit auf einer konstitutionellen Prädisposition beruht, es sei denn, es habe eine Extremsituation vorgeherrscht, die das Leiden hervorgerufen hat.

Wir halten es bei diesem Aspekt mit Ludwig Binswanger (1960), der, sich auf Bumke (1924) stützend, betont, dem Beiwort »reaktiv« lediglich die Bedeutung einzuräumen, daß man sagen könne, »der Kranke wäre ohne diesen Anlaß jetzt nicht krank geworden; aber er wäre auch trotz des Anlasses gesund geblieben, wenn er nicht seine Konstitution in sich trüge.« Damit nimmt Binswanger an, daß alle, die diese depressive Grenzsituation als Möglichkeit in sich haben, genetisch prädisponiert sind.

Von den depressiven Befindlichkeiten, die immer eine mehr oder weniger begrenzte Zeit des »Aus-der-Welt-gestellt-Seins« darstellen, haben wir die normale Trauer abzugrenzen, wie es Freud in seinem Werke »Trauer und Melancholie« (1916) getan hat. Trauer führt einen Menschen nicht in eine Grenzsituation, sondern in einen Zustand, in dem er ihm widerfahrenes Leid gefühlsmäßig verarbeitet. Die Trauer bringt den Menschen nicht wie die Depression außerhalb der Leidensfähigkeit. Trauer kann, bei ihrer Verarbeitung, eine Bereicherung mit sich bringen. Aus den Depressionen entsteht in der Regel, nach deren Überwindung, kein erlebnismäßig bereicherndes Vorstellungsvermögen, es sei denn, es werde nach Aufhellung aus der Depression versucht, das krankhaft Erlebte mit einem Psychotherapeuten – oder eventuell allein – durchzuarbeiten (Bodenheimer, 1957). Es hat ein Aufstieg aus dem Zustand einer schmerzenden Leblosigkeit stattgefunden, die, außer bei besonderer Bemühung, nicht oder kaum als solche erinnerbar ist. An die Trauer kann sich der Betroffene später entsinnen. Er vermag davon zu berichten, nicht ohne daß zumindest eine gewisse emotionelle und kognitive Bereicherung damit verbunden wäre. Es ist daher nicht richtig, wenn wir bei den (»endogenen« oder...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte AIDS • Depersonalisation • Depression • Drogen • Grenzen • Grenzsituation • HIV • Körperverfremdung • Mangelerfahrung • Massenentwicklung • Psychologie • Psychose • Sachbuch • Zwang
ISBN-10 3-10-560637-8 / 3105606378
ISBN-13 978-3-10-560637-7 / 9783105606377
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