Der verwaltete Wahnsinn (eBook)

Eine Sozialgeschichte des Irrenhauses

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
202 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560427-4 (ISBN)

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Der verwaltete Wahnsinn -  Dirk Blasius
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Dirk Blasius versucht mit den Methoden der modernen Sozialgeschichte und unter Ausschöpfung bislang unbekannter Quellen, für das 19. und beginnende 20. Jahrhundert die Geschichte der Psychiatrie aus der Perspektive der Betroffenen zu schreiben. Er zeigt, daß die bürokratische Überformung der Psychiatrie, ihre Einbindung in das System staatlicher Sicherheitsinteressen - ein System, in dem die Geisteskranken nach wie vor nur verwaltet und in das gesellschaftliche Abseits geschoben werden - bereits im 19. Jahrhundert beginnt und die ?Lage der Psychiatrie heute? noch weitgehend prägt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Dirk Blasius, geboren 1941, Dr. phil., Professor em., lehrte von 1974 bis 2006 Rechts-, Verfassungs- und Sozialgeschichte an der Universität/GHS Essen. Autor zahlreicher Bücher, u. a. »Der verwaltete Wahnsinn. Eine Sozialgeschichte des Irrenhauses« (1980), »Ehescheidung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert« (1992) und »Zerbrochene Geschichte. Leben und Selbstverständnis der Juden in Deutschland« (als Hg., 1991).

Dirk Blasius, geboren 1941, Dr. phil., Professor em., lehrte von 1974 bis 2006 Rechts-, Verfassungs- und Sozialgeschichte an der Universität/GHS Essen. Autor zahlreicher Bücher, u. a. »Der verwaltete Wahnsinn. Eine Sozialgeschichte des Irrenhauses« (1980), »Ehescheidung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert« (1992) und »Zerbrochene Geschichte. Leben und Selbstverständnis der Juden in Deutschland« (als Hg., 1991).

II Irre und Irrenhäuser in der frühen ›bürgerlichen Gesellschaft‹


1. Die Vorgeschichte der modernen Irrenversorgung


Das 19. Jahrhundert läßt sich mit guten Gründen als der Zeitabschnitt ansehen, in dem sich die moderne Irrenfürsorge herausgebildet hat. Die vorausliegenden Jahrhunderte waren Vorgeschichte, mehr eine Geschichte des Wahnsinns als eine gesellschaftlichen und staatlichen Bemühens um den Wahnsinnigen. Der Irre taucht im Mittelalter zwar schon als Objekt städtischer Armen- und Gesundheitspflege auf, behält aber in dieser theozentrischen Welt dennoch seine Sonderstellung als Symbolfigur des Heils wie des Unheils, göttlicher Gnade wie göttlicher Prüfung und Strafe. Irre wurden z.T. in ausbruchssicheren Türmen jenseits der Stadtmauern verwahrt, oft auch nach dem Abklingen von Epidemien in Seuchenhäuser gesteckt; vereinzelt ›hielt‹ man sie auch in besonderen Irrenzellen, die sich meist in der Nachbarschaft städtischer Hospitäler befanden. Das Irrenwesen war im Mittelalter parochial organisiert, und auf der Gemeindeebene konnten sich durchaus unterschiedliche Verhaltensweisen herausbilden. Dennoch überwog die Furcht das Mitleid, führte Verunsicherung zu drastischen Sicherheitsmaßnahmen.

Neben einer kommunalen Wurzel der Irrenfürsorge gibt es eine monasteriale. Klöster und Orden nahmen sich der Irren an und übertrugen die mönchischen Tugenden von Armut, Keuschheit und Gehorsam auf die Irrenbehandlung. Im autoritären Stil der späteren psychiatrischen Einrichtungen lebt ohne Zweifel diese ›kirchliche‹ Komponente fort.

In der Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit war der Irre präsent, aber als einzelner und nicht als Massenphänomen. Das änderte sich mit dem rapiden Bevölkerungszuwachs im Zeitalter des Absolutismus. In den europäischen Großstaaten wie in den großen deutschen Territorialstaaten war jetzt die Landesherrschaft gefordert. Auf Gemeindeebene ließ sich das Irrenwesen, nicht zuletzt aus Gründen finanzieller Überbürdung, nicht mehr organisieren. Diese quantitative Seite muß gesehen werden, wenn auch die soziale Raumplanung des absolutistischen Staates eng mit seinen Ordnungsprinzipien zusammenhing. Der Irre konnte einer Gesellschaft nicht länger anheimgestellt bleiben, der selbst ein straffes bürokratisches Korsett eingezogen wurde. Das ordnungs- und sicherheitspolitische Kalkül der absolutistischen Staatsbürokratie erfaßte den Irren und definierte ihn sowohl als sozial Schwachen wie als Störer der sozialen Ordnung.

In Deutschland haben die Maximen des absolutistischen Staates eine lange Lebensdauer gehabt, und damit hängt auch jene Kontinuität in der Einschätzung des Irren zusammen, die ihn in die Nähe des Verbrechers rückte. Im Zeitalter des Absolutismus wurden Irre, deren Zugehörigkeit zur menschlichen Gesellschaft im Mittelalter und in der Renaissance trotz aller Härte des Umgangs unbestritten war, von der Straße und damit aus dem öffentlichen Bewußtsein verbannt und gemeinsam mit Kriminellen, Bettlern und Landstreichern, Arbeitslosen, Dirnen, politisch Unliebsamen und Geschlechtskranken hinter Schloß und Riegel gebracht. So waren die Tollhäuser zu dieser Zeit zugleich Zucht-, Korrektions- und Arbeitshäuser. Sie waren übrigens auch ein wichtiger Posten im ökonomischen Kalkül des absolutistischen Staates. Die hier zentrierten ›Subjekte‹ waren billige Arbeitskräfte, die man gewinnbringend an Manufakturisten verpachten konnte. Arbeitshäuser waren oft auch für in staatlicher Regie betriebene Manufakturen ein wichtiger ›Produktionsfaktor‹.

Das Zeitalter des Absolutismus war für den Irren ein Zeitalter massiver Repression. Erst die vom Geist der Aufklärung gestiftete und geprägte philanthropische Grundhaltung einer breiteren Öffentlichkeit durchbrach die herrschende administrative Reglementierung. Der Irre wurde im Heer der gesellschaftlich Abgeschriebenen neu entdeckt, und man drang bei ihm auf menschenwürdige Behandlung.

In Frankreich wurden Irre ›von ihren Ketten befreit‹, nachdem durch die französische Revolution die Menschenrechte als Gestaltungsnormen gesellschaftlicher Ordnung geschichtliche Anerkennung erlangt hatten. Auch in England, Amerika und Deutschland begegnet zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine gesellschaftlich breit gelagerte Bereitschaft zur Irrenreform. Man hat dieser Bewegung den »Charakter einer sozialen Bewegung« zusprechen wollen.[14] Doch hier ist Vorsicht geboten. Das alte bürokratische Muster der Irrenverwahrung war geschichtlich noch keineswegs am Ende. Es wurde allerdings überlagert von Aktivitäten, die von den Keimzellen der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft ausgingen: vom Bildungsbürgertum und dem noch schwachen Wirtschaftsbürgertum. Die Aushöhlung der alten Feudalordnung und die Formgewinnung einer bürgerlichen Klasse, das sind die gesellschaftsgeschichtlichen Koordinaten, die der Irrenreformbewegung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren historischen Ort zuweisen. Sie versuchte, einen neuartigen Umgangsstil mit dem Geisteskranken auch institutionell zu verankern. Er sollte in besonderen Anstalten untergebracht und dort, so weit nur irgend möglich, nicht in seiner Freiheit beschränkt werden (no restraint therapy). Der Optimismus der Aufklärung, den Menschen aus seiner Unmündigkeit herausführen zu können, wurde auf den Irren und seine Behandlung übertragen. Wie in England und Amerika kam es auch in Deutschland zum Bau psychiatrischer Krankenhäuser. Sie waren in gewisser Weise Modellanstalten und geprägt vom ›Mythos der Heilbarkeit‹ von Geisteskrankheit. In diesem Mythos ist zugleich bürgerliches Sendungs- wie Selbstbewußtsein eingefangen. Diese Modellanstalten veränderten aber nun keineswegs die gesamte Irrenlandschaft. Sie waren nicht viel mehr als ein Tropfen auf einem heißen Stein und konnten besonders das Schicksal der ›armen Irren‹ keineswegs bessern.

Noch einen anderen Gesichtspunkt gilt es neben der die Irrenreform vorantreibenden Aufklärungsparole zu betonen. Es war nicht nur gesellschaftlicher Optimismus, der zur Entdeckung des Irren führte, sondern auch eine Art gesellschaftliche Angst, die mit den Irritationen zusammenhing, die der ›bürgerliche‹ Modernisierungsschub in weiten Kreisen der Klasse des Bürgertums hinterließ. Jedenfalls wurden Zivilisation und Wahnsinn in einen engen Zusammenhang gebracht.

Betrachtet man die Entwicklung des Irrenwesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – in Europa, aber auch in Amerika, so fällt der Gleichklang fürsorgerischer Maßnahmen auf. Überall begegnen verwandte Lösungen der Irrenfrage, überall trifft man auf Debatten, in denen es um den Wahnsinn ging. Das läßt einen gesellschaftsgeschichtlichen Zusammenhang vermuten. Das mit der französischen Revolution einsetzende bürgerliche Zeitalter brachte eine Entflechtung der alten Statusgesellschaft wie auch die Statuierung eines von der Gesellschaft abgehobenen Staates, der seine gesellschaftlichen Kontrollfunktionen durch Rationalisierung der Verwaltung und die Neuordnung des Polizei- und Justizwesens ausbaute. Ohne Frage liegt in der Entwicklungsgeschichte der meisten europäischen Gesellschaften die Ausbildung eines neuen Typs staatlicher Fürsorgepolitik begründet.

Etwas abgehoben von der deutschen und französischen Entwicklung ist diejenige Englands und Amerikas. In Frankreich stellte das Gesetz vom 30. Juni 1838 über die Irren die erste große gesetzgeberische Maßnahme dar, die für eine Kategorie aus dem großen Heer der gesellschaftlich Abgeschriebenen (dazu gehörten z.B. Arme, Bettler, Landstreicher, Findelkinder) ein Recht auf Fürsorge und Pflege anerkannte.[15] Rein quantitativ waren Irre – übrigens nicht nur in Frankreich – gegenüber Armen ohne große Bedeutung. Zur Zeit der Revolution gab es einige tausend Wahnsinnige, 1834 beliefen sich Zählungen auf kaum zehntausend. Dem standen ca. 2 Millionen Arme, dreihunderttausend Bettler, hunderttausend Landstreicher und hundertdreißigtausend Findelkinder gegenüber. Woran liegt es, so ist mit Recht gefragt worden, daß gerade Irre zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wurden und daß die Irrengesetzgebung allen anderen Fürsorgemaßnahmen um fünfzig Jahre vorauslief und sie an Systematizität übertraf?[16]

Was für Frankreich angeführt wurde, läßt sich auch auf andere europäische Staaten übertragen: für die entstehende bürgerliche Gesellschaft stellte gerade der Irre eine besondere Herausforderung dar. Diese mußte diese Gesellschaft deshalb annehmen, weil es um die Glaubwürdigkeit ihrer Prinzipien ging. Das »Pathos des Wahnsinns« paßte nicht zu den ernsthaften bürgerlichen Angelegenheiten von Ordnung, Recht, Verwaltung, Finanzen, Disziplin, Polizei und Regierung.

Das synchrone Aufgreifen der Irrenfrage in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl in Europa wie in Amerika ist auffällig; die Behandlung dieser Frage ist jedoch stark von den jeweiligen nationalen Traditionen abhängig. Wie in Frankreich war es in Deutschland – Preußen spielte auch hier für die übrige deutsche Staatenwelt den Vorreiter – der Staat, der zwar nicht auf dem Gesetzgebungswege, aber durch seine Verordnungstätigkeit das Irrenwesen neu zu organisieren versuchte. Inwieweit in Preußen-Deutschland der bürokratische Modernisierungsimpetus auf das Irrenwesen abfärbte, wird noch zu schildern sein. Auch in Holland kam es 1841 zu einem ersten Irrengesetz, das stark unter französischem...

Erscheint lt. Verlag 15.9.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Aachen • Anstalt • Anstaltsfürsorge • Anstaltspsychiatrie • Anstaltswesen • Bonn • Deutschland • Düsseldorf • Familienpflege • Hermann Feldmann • Irrenanstalten • Irrenfrage • Irrenfürsorge • Irrenhaus • Irrenproblem • irrenreform • Irrenüberwachung • Josef Hemmerling • landeskrankenhaus • Nationalsozialismus • Psychiatrie • Sachbuch • Siegburg • Sozialgeschichte • Wilhelm Griesinger
ISBN-10 3-10-560427-8 / 3105604278
ISBN-13 978-3-10-560427-4 / 9783105604274
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