Baltische Reise (eBook)

Vielvölkerlandschaft des alten Europa

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
300 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560119-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Baltische Reise -  Verena Dohrn
Systemvoraussetzungen
14,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Dieser Bericht über das Leben in der Vergangenheit der russischen und deutschen Ostseeprovinzen und über Erlebnisse und Begegnungen in der Gegenwart der jungen Nationalstaaten, über Wissenschaft, Kunst, Literatur ruft manches Vertraute in Erinnerung, öffnet vor allem aber den Blick für bisher Unbekanntes, für die Besonderheiten dieser einstigen Vielvölkerlandschaft am nordöstlichen Rand Europas. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Prof. Dr. Verena Dohrn, Slawistin und Historikerin, wurde 1951 in Hannover geboren.

Prof. Dr. Verena Dohrn, Slawistin und Historikerin, wurde 1951 in Hannover geboren.

Unterwegs


»Geschnürtem Bündel irgendwann folg ich nach. Hab genug
zur Zeit am Weg. Dort, geschnürt,
kann nichts veralten.

Dort: die Zeitung in einer erloschenen Sprache, die anzeigt
der Großeltern Hausauktion,
der Großeltern Hausauktion,
ins Modejournal gewickelte Stille, gesammelt im
Trümmerfeld der Stadt nach dem Feuer,
Kreuzworträtsel, in jedem
die eine und andere nicht erratene Kombination,
und Briefe unter Verschluß.

Lange jetzt werd ich durchblättern den Weg.«

(Amanda Aizpuriete)

Schon seit dem Morgen lassen Männer die Flaschen kreisen – Wodka, schampanskoje, Bier; andere gehen die kilometerlange Autoschlange auf und ab, steigen, um sich die Zeit zu vertreiben, auch um handelseinig zu werden in Schleppergeschäften, mal hier, mal da in einen Wagen, während sich Busse, Laster, Personenwagen Meter für Meter vorwärts quälen, dann wieder stundenlang stehen, ein Fahrzeug nach dem anderen die schmale, staubige Landstraße entlang, ehe sie, hinter dem Knick, am Abend endlich, in drei Reihen auf dem geteerten Platz der Warteschleife zum Stehen kommen.

Mit Glasscherben, Korken, Kippen, anderem Dreck übersät, atmet die Asphaltdecke noch die Hitze des Hochsommertages. Zwei Männer mit nacktem Oberkörper stehen einander gegenüber, schwankend der eine, der mit der Zunge schnalzt, die Muskeln spielen läßt, und der andere, sein Gegner, ein schmächtiges Kerlchen, zitternd vor Wut. Ohne auch nur einen Finger zu krümmen, schlägt der Muskulöse dem Kleinen, daß es kracht, mit der Stirn aufs Nasenbein, tritt ihn zugleich blitzschnell in die Seite. Frauen stehen um die beiden herum, ringen die Hände, reden mit Engelszungen. Tags zuvor schon seien die Hitze, der Betrug den Wartenden zu Kopf gestiegen, sagt jemand, hätten sie Dränglern und Geschäftemachern die Reifen aufgeschlitzt, ein Auto umgekippt. Ich kurble das Fenster hoch, bereite mir – Luxus im Vergleich zur polnischen Familie mit den beiden Kindern im Schiguli nebenan und schlicht, gemessen an den Deutschen mit ihren Federbetten im Mercedes hinter mir – auf dem Rücksitz das Lager für die zweite Nacht an der litauisch-polnischen Grenze zwischen Lazdijai und Suwalki, dem Nadelöhr, 1992 dem einzigen Landweg, der die baltischen Staaten mit dem Westen verbindet. Eine Baustelle, kein Übergang sei die Grenze auf der polnischen Seite, sagen die Leute, deshalb der Stau. Polen wolle den baltischen Ländern den Zugang zum Westen erschweren. Derweilen verdient die litauische Mafia an diesem Desaster durch Schleppergeschäfte. Hinter dem Hügel soll der Schlagbaum sein; unüberwindlich scheint er, brutal das Gesetz, das diesen Ort regiert, grenzenlos die Ohnmacht der Reisenden. Zur Qual werden im Autogefängnis, umgeben vom Schmutz des Asphaltplatzes, vom Dunst der Lkw-Abgase, Erinnerungen an die Reise …

Die baltischen Länder sind klein, ländlich, ihre Hauptstädte nur einige Autostunden voneinander entfernt, die Grenzübergänge zwischen ihnen erst seit der Unabhängigkeit installiert, sie zu überwinden, ist zumindest für westliche Reisende ein Kinderspiel. Estland hat nicht mehr als anderthalb Millionen Einwohner (sechzig Prozent Esten), Lettland zweieinhalb (fünfzig Prozent Letten), Litauen dreieinhalb (achtzig Prozent Litauer). Kompliziert sind die Allianzen und Differenzen. In allen drei Ländchen niedrige Holzhäuser, wilde Weinranken und glatte, rechteckige, graublau schimmernde finnische Pflastersteine. Gemeinsam sind ihnen die Häfen am mare balticum als Tore zum Westen und das offene Gelände nach Osten hin. Litauer und Letten gehören ethnisch, sprachgeschichtlich zusammen; beide sind indoeuropäischer, Esten hingegen finnougrischer Herkunft. Die Esten seien skandinavisch verschlossen, zuweilen dickköpfig, heißt es, die Letten pragmatisch, anpassungsfähig, böse Zungen behaupten: feige, und die Litauer – »die letzten Heiden Europas«, wie der polnische Dichter Czeslaw Miłosz schreibt – kämpferisch, stolz, eigen; wer ihnen übel will, sagt, sie seien verschlagen und hätten vom Sowjetsystem am meisten profitiert.

Litauen war im Mittelalter ein Großfürstentum, dann Teil des Polnisch-Litauischen Reiches, blieb überwiegend katholisch. Est-, Liv- und Kurland hingegen wurden von deutschen Orden kolonisiert; hier siegte die Reformation. Hansestädte entstanden. Als der Ordensstaat zerfiel, blieb Kurland als Herzogtum selbständig. Der östliche Teil Livlands, Lettgallen, ging ans polnische Reich. Est- und Livland wurden Provinzen des polnischen, des schwedischen, später des russischen Reiches. Nach den Polnischen Teilungen gehörte das gesamte Baltikum, gehörten auch Kurland, Lettgallen, Litauen zum zaristischen Rußland. Dennoch gab im baltischen Norden weiterhin die deutschbaltische Kultur, im Süden nach wie vor die polnische Adelskultur den Ton an. Die einheimischen Letten, Esten und Litauer blieben lange Zeit Bauern und Landarbeiter; nur in Litauen hielt sich neben diesen ein polonisierter Adelsstand. Mit Hilfe deutscher Lehrer und Pastoren entwickelten sich im Laufe des vergangenen Jahrhunderts in Liv-, Kur- und Estland, in Litauen von Preußisch-Litauen her die baltischen Sprachen und Literaturen. Als die nationalen Bewegungen aufkamen, in den polnischen Aufständen bedrohliche Formen annahmen, griff die zaristische Regierung stärker in die Verwaltung der baltischen Provinzen ein, begann sie zu russifizieren, auf diesem Wege die revolutionäre Bewegung ins Baltikum zu tragen.

Nach dem Ersten Weltkrieg unterstützte Westeuropa den baltischen Kampf um Unabhängigkeit. Seinem Interesse, den russischen Drang nach Westen zu begrenzen, verdankten Lettland, Estland und Litauen ihre erste Eigenstaatlichkeit. Beim zweiten Mal ergriff Westeuropa im Kampf der Balten um die Unabhängigkeit in der zerbrechenden Sowjetunion relativ spät Partei.

 

Ich fahre umher. Die Euphorie der Jahre 1989, 1990, 1991 ist dahin, das »Abwickeln« hat begonnen, die Armut, die Arbeitslosigkeit, das Tau- und Drähteziehen um Macht, Einfluß, Beziehungen, den Anschluß an die westliche Welt. Die alten Hansestädte, die Burgruinen aus der Ordens- und der litauischen Fürstenzeit, gotische Kirchen, die Klöster und Kirchen des Wilnaer Barock, kurländische Schlösser, verfallende Gutshäuser säumen die Wege. Zaristische Festungen, orthodoxe Garnisonskirchen ergänzen das historische Bild. Die Gotteshäuser der Baptisten, Adventisten, Pfingstler, die hölzernen Bethäuser der russischen Altgläubigen, die wenigen Synagogen, die geblieben sind, geben sich erst auf den zweiten, dritten Blick zu erkennen. Ich fahre umher, übernachte mal bei Bekannten von Bekannten, mal für zwanzig Mark in einem kleinen funkelnagelneuen estnischen Motel an der Chaussee, mal für einen Dollar in einer Holzhütte auf dem verwüsteten Gelände eines ehemaligen Sommerlagers in Jūrmala am Rigaer Strand, wo der Sand noch immer mehlfein und weiß, das Meer jedoch verseucht, zum Baden nicht geeignet ist. Der Strand reicht von Majorenhof bis Schlock und war für Sergej Eisenstein, Ossip Mandelstam wie für alle Rigenser mit unvergeßlichen Kindheitserinnerungen verbunden. Zu meiner Überraschung hat mir ein Mann an der Straße auf jiddisch den Weg zum Sommerlager am jam, dem Meer, erklärt. Meist aber schlage ich abends, müde von langen Stadtspaziergängen, irgendwo auf dem Land, da wo Menschen wohnen, das Zelt auf gegen ein Päckchen Kaffee, Tee, ein paar Mark; auf der Apfelbaumwiese eines lettgallischen Dorfschulleiters, zwischen Scheune und Ziehbrunnen auf einem Bauernhof hoch über dem Ufer der Düna, wo mir der Bauer erzählt: Einst habe sich hier der Baron von Korff aus Kreuzburg, berauscht von der Schönheit der Aussicht, die sich ihm bot – über die Schwemmwiesen auf den sich durch die Landschaft schlängelnden Strom – ein Landhaus errichten lassen. Welch ein Kontrast dazu das Hotel Klaipėda mit seinen memeldeutschen Heimwehtouristen in der litauischen Hafenstadt! Als sei die Zeit stehengeblieben, spricht man dort von der Kurischen Nehrung, von Nidden, Rossitten, dem König-Wilhelm-Kanal. Abends, wenn die Herrschaften zu Bett gegangen sind, kommen Jugendliche aus der Stadt ins Hotelrestaurant, berauschen sich an Wodka, striptease und den »Scorpions«, dem sound der westlichen Welt, der sich dem Osten zuwendet. Ich aber reise der Geschichte von Ermordeten hinterher.

Jahrhundertelang, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs und noch einmal in der Zwischenkriegszeit, lebten Letten, Litauer, Esten, Deutsche, Russen, Weißrussen, Polen, Juden, Schweden und Finnen als Nachbarn im Baltikum. Waren Menschen unterschiedlichen Standes, verschiedener Sprache, Tradition, Konfession, mischten sich selten, verständigten sich jedoch, arbeiteten miteinander, kannten die Sprachen der Nachbarn zumindest vom Hören, hatten das Fremde täglich vor Augen, nahmen – oft ohne es zu merken – doch Einfluß aufeinander. Ein großer Tag im Jahr war das heidnische Johannisfest der Letten, Litauer und Esten. Die hohen christlichen – katholischen, protestantischen, orthodoxen – Feste waren je nach Landschaft mehr oder weniger anerkannte Feiertage. Üblich war’s, am christlichen Sonntag »beim Juden« einkaufen zu gehen. Unübersehbar die taschlich-Zeremonie, wenn die Juden, um sich ihrer Sünden zu entledigen, Brotkrumen in die Flüsse oder Seen warfen zu Rosch Haschana. Anfang der dreißiger Jahre lebten im damals polnischen Wilno allein fünfundfünfzigtausend Juden, mehr...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Aizpute • Alja • ansiedlungsrayon • Asyl • Auswahlbibliographie • Baltikum • Bärentöterstraße • Baron • Baßja • Bürgerkrieg • Burschenschaften • Dampfboot • Domberg • Erster Weltkrieg • Estland • Fallstein • Feiertag • Fenster • Forschungsstelle • Freiheitsallee • Freiheitsplatz • Fruma Kucinskiene • Gedenkstätte • Gediminas • Gefangenenlager • Gemüseviertel • Ghettotor • Gogolstraße • Hansestadt • Hauptstraße • hilfspaket • Holzhaus • Jakobikirche • Judenherberge • Juri Lotman • Kaiserwald • Kolchosenfuhrpark • Konflikt • Krankenhaus • Krieg • Krokodil • kulturautonomie • Kurlandischen • Lettland • Litauen • Mauer • Militär • Militäruniform • Nationalsozialismus • Netti Shurakowskaja • Partisane • Perestroika • Plünderung • Pulverkeller • Rabbinerseminar • Reise • Reisebericht • Reportage • Restaurant • Rezession • Riga • rombinus • Rosa Herz • Rosa Lipmann • Sachbuch • Schleppergeschäft • Schule • Schulenstraße • Spritpreis • Städtchen • Switski • Synagoge • Tallinn • Tartu • Überschwemmung • Unabhängigkeit • Vielvolkerlandschaft • Vilnius • Wallstraße • Wasserhandelsweg • Wengeroff • Wilna • Wodka • Wolkenband • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-10-560119-8 / 3105601198
ISBN-13 978-3-10-560119-8 / 9783105601198
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 6,7 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich