Franz Kafka (eBook)

Leben und Werk

(Autor)

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2011 | 1. Auflage
144 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-61531-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Franz Kafka -  Thomas Anz
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«Mein Roman bin ich, meine Geschichten sind ich», hat Franz Kafka 1913 an Felice Bauer geschrieben. Diesen Satz nimmt Thomas Anz ernst, und er zeigt zugleich, wie der jüdische Schriftsteller seine Vater-, Berufs-, Frauen- und Künstlerkonflikte so stark und suggestiv ins Exemplarische stilisiert hat, dass sie zu beklemmenden Mustern moderner Identitätsprobleme werden konnten. Wohl beläßt Anz diesem Einzelgänger, der die eigene Isolation zur Bedingung künstlerischer Existenz erklärt hat, seine Eigenart, aber er sieht ihn nicht isoliert von seiner - der «expressionistischen» Generation, nicht einer Zeit entrückt, deren Kämpfe und Konflikte Franz Kafkas Werk geprägt haben.

Thomas Anz ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Marburg.

Cover 1
Zum Buch 2
Über den Autor 2
Titel 3
Impressum 4
Inhalt 5
I. Wer war Franz Kafka? 7
1. Kafka und seine Interpreten 7
2. Probleme des Verstehens 9
3. Kafka-Wirkungen 13
4. Kafka und die Moderne 16
5. Literarische Autobiographik 19
6. Ein Selbstportrait: Brief an den Vater 23
7. Kämpfe um Macht: Söhne und Väter 30
II. Kindheit und Jugend im literarischen Rückblick 42
1. Fakten 42
2. Kindheit und Jugend in der Autobiographik des Erwachsenen 44
3. Erziehungsprozesse: Der Verschollene, Ein Bericht für eine Akademie 53
III. Literarische Anfänge, Studium und Beruf 64
1. Schreibanfänge 64
2. Studium und Freundschaften 67
3. Berufskonflikte 69
4. Die Verwandlung 73
IV. Literarischer Durchbruch und Kampf um Felice Bauer 81
1. Chronik der lebensentscheidenden Jahre 81
2. Konstanz der Konflikte – Aspekte zur «Einheit» des Gesamtwerkes 84
3. Das Urteil 89
4. Ferne Frauen – Briefverkehr mit Felice Bauer 96
5. Machtapparate der Moderne: Der Prozess, In der Strafkolonie 106
V. Krankheit zum Tode 120
1. Die Krankheit und ihre Folgen 120
2. Milena Jesenská, Das Schloss und Ein Hungerkünstler 124
3. Todesarten 129
Anmerkungen 133
Literaturhinweise 136
Personenregister 141

II. Kindheit und Jugend im literarischen Rückblick


 

1. Fakten


Am 3. Juli 1883 wurde Franz Kafka als erstes Kind des jüdischen Kaufmanns Hermann Kafka und seiner Frau Julie, geb. Löwy, in Prag geboren. Den Vornamen Franz erhielt er zu Ehren des Kaisers. 1885, als Franz Kafka etwa zwei Jahre alt war, bekam er einen Bruder namens Georg. Der starb fünfzehn Monate nach der Geburt. 1887 kam der zweite Bruder Heinrich zur Welt. Er starb sechs Monate nach der Geburt. Es folgten drei lebenskräftigere Schwestern: Gabriele, genannt Elli, geboren 1889, als der ältere Bruder sechs Jahre alt war; Valerie, genannt Valli, ein Jahr später geboren; und Ottilie, genannt Ottla, 1892 geboren. Sowohl die Eltern als auch die drei Schwestern haben Franz Kafka überlebt.

Der Vater war bei der Geburt seines ersten Sohnes 31 Jahre alt. Er stammte aus einem kleinen Dorf in Südböhmen mit etwa hundert Einwohnern, hatte selbst eine entbehrungsreiche Kindheit in höchst ärmlichen Verhältnissen, ließ sich 1881, nach einem unsteten, doch durchaus erfolgreichen Leben als hausierender Wanderhändler, in Prag nieder und arbeitete sich mit kämpferischer Energie in den deutsch-jüdischen Mittelstand Prags empor. Zum sozialen Aufstieg verhalf ihm nicht zuletzt die 1882 geschlossene Ehe mit Julie Löwy. Sie war ihm standesmäßig überlegen, brachte einiges Geld mit in die Ehe und half damit ihrem Mann, ein bald florierendes Galanterie- und Modewarengeschäft in der Prager Altstadt zu eröffnen.

Die Mutter stammte aus einer angesehenen assimilierten deutsch-jüdischen Tuchhändler- und Brauereifamilie. Diese Familie war nicht nur weitaus wohlhabender, sondern auch von deutlich höherem Bildungsniveau als die Familie des Vaters. Von dessen angestrengtem Bemühen um sozialen Aufstieg und gesellschaftliches Prestige zeugen nicht zuletzt die häufigen Wohnungswechsel in Prag von schlechteren in bessere Gegenden und Häuser. Als der sechsjährige Franz Kafka im September 1889 eingeschult wurde, war er mit den Eltern bereits fünfmal umgezogen. Dass der Vater für ihn eine deutsche Volksschule wählte, entsprach seinem Aufstiegswillen, den er auch auf seinen einzigen Sohn übertrug. Zur Verbesserung seiner Sozialchancen musste ein Jude in Österreich die Staatssprache der Monarchie beherrschen. Die Oberschicht in Prag bestand aus Deutschen. Etwa 90 Prozent der Einwohner, deren Anzahl zwischen 1880 und 1910 von etwa 260.000 auf 440.000 anwuchs, waren Tschechen; regiert jedoch von Deutschen. Aus Deutschen und Juden setzten sich die restlichen 10 Prozent zusammen. Die jüdische Minderheit musste sich gegenüber zwei Seiten gleichzeitig behaupten: gegenüber der tschechischen Mehrheit und der deutschen Übermacht. Die Hälfte der Prager Juden bekannte sich zum Tschechischen als Hauptsprache, die andere Hälfte erklärte sich dem deutschen Kulturbereich zugehörig. Die Assimilation an die Deutschen bot dem aufstrebenden jüdischen Mittelstand bessere Möglichkeiten zum Aufstieg in die führende Schicht der Großkaufleute, des Finanz- und Versicherungswesens und der freien Berufe. Um 1900 wurden 90 Prozent der jüdischen Studenten in Prag deutschsprachig ausgebildet.[28]

Die ethnischen und sozialen Spannungen in der von drei Kulturen durchmischten Stadt waren enorm. Neben der «Deutschen Knabenschule» am Fleischmarkt, die Kafka von 1889 bis 1893 besuchte, lag eine tschechische Volksschule mit der Inschrift «Ein tschechisches Kind gehört in die tschechische Schule». Die Verteidigung der eigenen Sprache stand im emotionalen Zentrum des damaligen Kampfes um die jeweils eigene ethnische und kulturelle Identität, eines Kampfes, der schon unter Schülern ausgefochten wurde. Bei den häufigen Prügeleien zwischen den Schülern der beiden Nationalitäten verlor Kafkas späterer Freund Oskar Baum sein Augenlicht.

Kafka war in den ersten vier Schuljahren (in denen seine drei Schwestern geboren wurden) ein guter und auch bei den Gleichaltrigen beliebter Schüler. Nach dem Bestehen der Aufnahmeprüfung ins Gymnasium besuchte er (ab September 1893) das «Staatsgymnasium mit deutscher Unterrichtssprache in Prag Altstadt». Kafka war in diesem Gymnasium mit besonders hohen Leistungsanforderungen ein durchschnittlicher Schüler. Erhebliche Schwierigkeiten bereitete ihm nur das Fach Mathematik. Im Sommer 1901, im Alter von 18 Jahren, bestand er die Reifeprüfung. Zwei seiner Mitschüler behaupteten später, dass sie den Hausbesorger des Griechischlehrers bestochen und so vorzeitig Einsicht in die Prüfungstexte bekommen hätten und dass Kafka an dieser Aktion beteiligt gewesen sei. Kafka selbst meinte später, er habe das Abitur «zum Teil nur durch Schwindel» bestanden. (N2 197) Doch solche Erinnerungen gehören schon zu den Selbststilisierungen, die den Rückblicken des Erwachsenen auf seine Kindheit und Jugend durchwegs anhaften.

2. Kindheit und Jugend in der Autobiographik des Erwachsenen


Schriftstellerbiographien stehen unter Erklärungsdruck. Sie sind oft angestrengt darum bemüht, Späteres aus Früherem abzuleiten, so auch das literarische Werk des erwachsenen Autors aus der lebensgeschichtlichen Situation des Kindes und des Jugendlichen. Die Kafka-Biographik bleibt dabei weitgehend auf die Selbstaussagen des Dichters angewiesen. Das unabhängig von ihnen gewonnene Wissen über Kafkas Kindheit und Jugend liefert nur wenige Ansatzpunkte zur Erklärung seines Werkes. So hat man zum Beispiel gerne auf das Prager Lokalkolorit hingewiesen, das mit dem Gassengewirr der Altstadt, den Türmen, Brücken, winkligen Ecken der Hinterhöfe, den vielen Toren und der Dunkelheit von Durchgängen die dargestellte Welt in Kafkas Werken atmosphärisch geprägt habe. Oder auf die prekäre Situation der Juden, die, von den tschechischen Nationalisten als Deutsche befehdet und von den Deutschen als Juden ausgegrenzt, vom Zugang zu den höheren Machtpositionen der Gesellschaft durch bürokratische Verordnungen ferngehalten wurden. Oder auf die große Bedeutung der Familie, die zur Isolation der Juden im Privatleben (nicht im Geschäftsleben) ein integratives Gegengewicht bildete.

Ziemlich detaillierte Kenntnisse hat die Literaturwissenschaft, vor allem dank der Arbeiten von Klaus Wagenbach und Hartmut Binder, über Kafkas Schulzeit gesammelt, über mögliche Prägungen durch Freunde und Lehrer. Man weiß beispielsweise von Kafkas frühen Auseinandersetzungen mit zwei damals einflussreichen und einander zum Teil entgegengesetzten Bewegungen: dem Zionismus und dem Sozialismus. Kafka scheint sich im Gymnasium gegen den Zionismus seines Schulfreundes Hugo Bergmann entschieden und dem Sozialismus zugewandt zu haben. Seine Reserviertheit gegenüber dem Zionismus hielt lange an, trübte später zeitweilig auch sein freundschaftliches Verhältnis zu Max Brod und schlug erst in den letzten acht Jahren seines Lebens in ungeteilte Sympathie um. Man weiß unter anderem auch von einem die Schüler offensichtlich beeindruckenden Lehrer der Naturwissenschaften, durch den Kafka vermutlich intensiver mit dem Darwinismus und auch mit dem Positivismus des in Prag lehrenden Ernst Mach in Berührung kam. Eine in den letzten Schuljahren wichtige Orientierungsfigur hatte Kafka in dem Freund Oskar Pollak. Durch ihn wurde er Abonnent der bürgerlich-konservativen Zeitschrift Der Kunstwart. In diese Zeit fällt auch die nähere Auseinandersetzung mit Nietzsche.

Hauptquelle zur biographischen Rekonstruktion von Kafkas Kindheit und Jugend sind die vielen Tagebuch- und Briefstellen, in denen er sich selbst dazu geäußert hat. Aus ihnen indes biographische Erklärungen seines späteren Werkes abzuleiten, ist aus mehreren Gründen hoch problematisch. Dafür zwei repräsentative Beispiele: Im Brief an den Vater steht eine Passage, die immer wieder als Beleg für ein traumatisches Kindheitserlebnis genommen und zur psychologischen Erklärung charakteristischer Merkmale seiner Erzähltexte verwendet wurde. Kafka schildert hier die Erinnerung «an einen Vorfall aus den ersten Jahren» so: «Ich winselte einmal in der Nacht immerfort um Wasser, gewiß nicht aus Durst, sondern wahrscheinlich teils um zu ärgern, teils um mich zu unterhalten. Nachdem einige starke Drohungen nicht geholfen hatten, nahmst Du mich aus dem Bett, trugst mich auf die Pawlatsche [Balkon] und ließest mich dort allein vor der geschlossenen Tür ein Weilchen im Hemd stehn. […] Ich war damals nachher wohl schon folgsam, aber ich hatte einen inneren Schaden davon. […] Noch nach Jahren litt ich unter der quälenden Vorstellung, daß der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte und daß ich also ein solches Nichts für ihn war.» (N2 149) Ein wichtiger Kommentar zu Kafkas Erzählungen zieht aus der Passage den Schluss: «Man kann annehmen, daß das Motiv des Ein- und Ausgesperrtseins, das im Zentrum des ‹Verschollenen› und der ‹Verwandlung› steht, letztlich in diesem Ereignis oder ähnlich gelagerten Vorgängen der Biographie Kafkas gründet.»[29] Man könnte jedoch genauso annehmen, dass die Darstellung der Kindheitsszene durch den...

Erscheint lt. Verlag 11.2.2011
Reihe/Serie Beck'sche Reihe
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schulbuch / Wörterbuch Wörterbuch / Fremdsprachen
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte 20. Jahrhundert • Biografie • Biographie • Deutsche Literatur • Franz Kafka • Frauen • Identität • Isolation • Jude • Judentum • Konflikt • Literatur • Moderne • Österreich • Schriftsteller • Weltliteratur
ISBN-10 3-406-61531-7 / 3406615317
ISBN-13 978-3-406-61531-3 / 9783406615313
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