Das Zeugenhaus
Goldmann Verlag
978-3-442-15417-3 (ISBN)
- Titel erscheint in neuer Auflage
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Im November 1945 beginnt in Nürnberg der Prozess gegen die hohen Repräsentanten der NS-Diktatur. Eine Villa am Stadtrand dient als Gästehaus für Zeugen der Anklage sowie der Verteidigung. Auf engstem Raum treffen Schuldige, Mitläufer, Opfer und solche, die sich immer arrangieren, aufeinander. Christiane Kohl recherchierte die ungeheuerlichen Vorgänge im Haus und erzählt hautnah von der dramatischen Verstrickung jedes Einzelnen in jenem Augenblick, als die Welt über Deutschland zu Gericht saß.
Christiane Kohl, geboren 1954, war Korrespondentin in Bonn, Pressechefin im Umweltministerium von Hessen und "SPIEGEL"-Redakteurin, bevor sie als Italienkorrespondentin der Süddeutschen Zeitung nach Rom ging. Heute ist sie SZ-Korrespondentin für Ost-Deutschland und lebt in Dresden. Bereits in ihrem ersten Buch "Der Jude und das Mädchen" gelang ihr auf der Basis akribischer Recherche ein beklemmendes Stimmungsbild aus dem Nazi-Deutschland der 30er Jahre.
Zwei Gästebücher und ein Verdacht Wenn mein Freund Wolfgang nicht dabei gewesen wäre, hätten die beiden alten Herren wahrscheinlich gar nicht angefangen, davon zu erzählen. Aber so begannen sie plötzlich, sich gegenseitig zu überbieten mit ihren Geschichten. Wir saßen am großen Fenster im alten Mühlenraum meines Elternhauses, einer ehemaligen Wassermühle, die vor vielen Jahren zu einem großzügigen Wohnhaus umgebaut worden war. Tagsüber bot sich von dort ein herrlicher Blick in das Grün der Landschaft. Jetzt aber war es dunkel, nur das fahle Licht unserer Tischlampe beleuchtete die am nahe gelegenen Bach stehenden Bäume, die sich wie düstere Gestalten aus dem schwarzen Brei der Nacht hervorhoben. Mein Vater hatte eine gute Flasche Wein aus dem Keller geholt, und so saßen wir in munterer Runde, als das Gespräch die heiklen Themen der Vergangenheit berührte. Vom Krieg hatte mein Vater schon früher erzählt, von seiner Gefangenschaft und den drei Abschüssen als Sturzkampfflieger. Doch was er nun berichtete, war von anderer Art. Mein Vater wirkte verlegen,er lachte immer mal wieder, während er über jene unruhigen Tage im Berlin der 30er Jahre erzählte, als er dort Jura studierte. Die Nazizeit, das war die Zeit seiner Jugend gewesen, und er hatte sie – dessen war ich mir stets sicher gewesen – nicht unbeteiligt an den Ereignissen durchlebt. Wann immer ich ihn jedoch danach fragte, nie hatte ich eine konkrete Antwort erhalten. An diesem Abend aber war alles anders. Da breitete mein Vater detailliert Erlebnisse aus seinem Alltag im Nationalsozialismus vor uns aus, in einer Offenheit, wie ich sie noch nie an ihm beobachtet hatte. Auch Bernhard, unser Hausfreund, gab, davon angeregt, immer neue Anekdoten zum Besten. Bernhard von Kleist war damals 79 Jahre alt, hatte wasserblaue Augen und einen leichten Gehfehler, der von einer Kriegsverletzung herrührte. Seit einigen Jahren lebte er im Haus meiner Eltern, der Bärenmühle in Nordhessen. Er war der Unterhalter unserer Mutter, die sich ihr Leben lang vor nichts so sehr gefürchtet hatte wie vor Langeweile. Es kam immer mal wieder zu Eifersüchteleien zwischen Bernhard und meinem Vater. In diesem Augenblick aber herrschte vollendete Harmonie zwischen ihnen. Beide erzählten sie ohne Pause, und nur das Kaminfeuer knisterte zuweilen so laut, dass es den Redefluss der Männer übertönte. Unsere Mutter drehte sich demonstrativ dem Flammenspiel zu, sie konnte es nicht leiden, wenn sich die Gespräche im Hause ernsthafteren Themen zuwendeten. Mein Freund Wolfgang Korruhn, ein bekannter Fernsehreporter, wollte einen Dokumentarfilm über die Verwicklungen des Chemiekonzerns IG Farben in die systematische Vernichtung der Juden durch die Nazis drehen. Bernhard von Kleist erwies sich in diesem Zusammenhang als interessanter Gesprächspartner, denn er war Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen gewesen. Wir saßen noch lange zusammen. Später in der Nacht machte ich mir Notizen, und so weiß ich noch heute so ziemlich jede Einzelheit, die an diesem 31. August 1980 gesprochen wurde. Bernhard war kurz in seinem Zimmer verschwunden und tauchte bald darauf mit einem etwas abgegriffen wirkenden Album unterm Arm wieder auf. Das Buch war in hellbraunes Leder gebunden, das von einer dünnen Goldlinie gerahmt wurde, auch die Blattränder waren mit einer hauchdünnen Goldschicht eingefasst. Vorsichtig,als würde er ein Schatzkästlein öffnen, klappte der alte Herr die beiden Buchdeckel auseinander. Leicht vergilbte Buchseiten kamen zum Vorschein, die mit vielerlei Handschriften bekritzelt waren – das braune Lederbändchen war ein Gästebuch. Behutsam blätterte Bernhard von Kleist darin und hatte im Nu mehrere Einträge gefunden, mit denen sich Herren der IG Farben in lauteren Sprüchen verewigt hatten. Da dankte ein Chemiemanager in schnörkeligen Schriftzügen »für das Versüßen bittrer Stunden«. Im Nürnberger Gerichtsgebäude, so konnte sich von Kleist noch dunkel erinnern, hatte der Mann über die Entwicklung des Zyklon B Auskunft geben müssen, jenes Rattengiftes, mit dem Millionen Menschen in den Vernichtungslagern getötet worden waren. Es gab viele Namen in dem Gästebuch. Einige waren in großzügigen Bögen aufs Papier geworfen und kaum zu entschlüsseln. Andere konnte ich beinahe auf den ersten Blick entziffern. Robert Havemann hatte sich eingetragen, ein Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, der später in der DDR zum Dissidenten wurde. Ein paar Blätter weiter las ich die Unterschrift von Fritz Wiedemann – »ein ehemaliger Adjutant von Adolf Hitler«, wie Bernhard auf meinen fragenden Blick hin erklärte: »Er ist uns ein guter Freund geworden«, fügte er fast stolz hinzu. Der Publizist Eugen Kogon, der lange im Konzentrationslager Buchenwald gesessen hatte, war im Gästebuch ebenso vertreten wie ein Mann namens Edinger Ancker, der ausweislich seiner Eintragung ein Mitarbeiter des berüchtigten NSDAP-Chefs Martin Bormann gewesen war. Ich sah den schmissigen Namenszug von Rudolf Diels, dem »Gründer der Gestapo«, wie von Kleist eilfertig erklärte. Und ich las die krakelige Handschrift einer Gisa Punzengruber, unter deren Namen jemand mit Bleistift den Hinweis »KZ-Zeugin« angefügt hatte. Immer weiter blätterte ich in dem Buch, und langsam fühlte ich einen leisen Schauer unter der Haut: Wie hatten sich diese höchst unterschiedlichen Menschen so kurz nach dem Ende der NS-Zeit in einem gemeinsamen Gästebuch verewigen können? Wer hatte diese Leute zusammengebracht, und warum? Das Gästebuch stammte aus einem Zeugenhaus, das während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse eingerichtet worden war. Die Zeugen waren in zwei nebeneinander stehenden Villen am Nürnberger Stadtrand untergebracht, berichtete von Kleist. Seine Frau Annemarie, die längst verstorben war, habe zeitweise als Leiterin der Häuser fungiert. Es musste eine schier unglaubliche Atmosphäre dort geherrscht haben, denn wie die Eintragungen im Gästebuch belegen, hatten NS-Funktionäre und einstige Widerstandskämpfer gleichzeitig unter einem Dach gewohnt. Während sich Täter und Opfer der Nazizeit andernorts mühelos aus dem Weg gehen konnten, saßen sie hier ab Herbst 1945 praktisch Abend für Abend gemeinsam an einem Tisch. »Wie war die Stimmung?«, platzten Wolfgang und ich beinahe gleichzeitig heraus, wir wollten jetzt jede Einzelheit über diese merkwürdige Herberge erfahren. Doch von Kleist reagierte mit spürbarer Zurückhaltung: »Es wurde viel Bridge gespielt«, meinte der alte Herr gedehnt, während er an seiner Zigarette zog, »man rauchte Zigarren, trank amerikanischen Whiskey und diskutierte über die Fragen der Zeit.« »Selbstverständlich«, fügte er in pedantischem Ton hinzu, »wussten die Herren sich auch in schwierigeren Situationen zumeist wie Gentlemen zu benehmen.« Wolfgangs Film über die IG Farben wurde, soweit ich weiß, nie realisiert. Doch für mich gab der Abend in der Mühle den Anstoß zu einer Recherche, die mich über viele Jahre beschäftigen sollte. Was hatte sich in jenem Haus abgespielt, in dem sich so kurz nach dem Krieg deutsche Geschichte im Wortsinne ganz hautnah vollzogen hatte? Auf den vergilbten Seiten von Bernhards Gästebuch war festgehalten, was in keiner Gerichtsakte dokumentiert ist: die privaten Ängste und Selbsttäuschungen von Menschen, die während der NS-Zeit mitschuldig wurden, ebenso wie die Bitternis und Wut überlebender Naziopfer. Die Gäste in dem Zeugenhaus – so war mein erster Gedanke – hatten auf engstem Raum durchlebt, was die Deutschen noch heute beschäftigt: Diskussionen über die Naziverbrechen, Schuldzuweisungen, Selbstverleugnungen – und immer wieder die Frage, warum das Unglaubliche hatte geschehen können. Einer der Männer, die das Haus gut gekannt hatten, war Robert M.W. Kempner gewesen. Der einstige US-Ankläger war nach dem Ende der Nürnberger Prozesse in Deutschland geblieben, er unterhielt eine Anwaltspraxis in Frankfurt. Einige Jahre nach dem Abend in der Mühle traf ich ihn in einem Hotel in Königstein, wo er damals vorzugsweise residierte. Das Hotel Sonnenhof war eine prächtige, mit Türmchen und Erkern versehene Villa, die in einem riesigen Park lag und einen herrlichen Blick in die Landschaft bot. Im Innern atmete das Haus freilich einen etwas verblichenen Charme, die Polstermöbel wirkten durchgesessen, die Bezüge waren abgenutzt. Kempner hatte im »Grünen Salon« Platz genommen, einem mit einer großen Fensterfront ausgestatteten Raum. Neben ihm saß seine langjährige Assistentin Jane Lester, die ich später noch häufiger treffen sollte. Die beiden waren ein nicht alltägliches Paar: Kempner, damals schon Ende 80, hatte schlohweißes Haar, seine Augen schauten aus tiefen Höhlen hervor, doch er saß aufrecht in seinem Stuhl und schien immer noch der Poltergeist zu sein, der er während der Nürnberger Prozesse gewesen war. Jane Lester, eine zierliche Person mit langem, grauweißem Haar, die seit den Tagen von Nürnberg für Kempner arbeitete, musste in ihrer Jugend eine sehr gut aussehende Frau gewesen sein. Jetzt wirkte sie zurückhaltend, doch es war unschwer zu erkennen, dass eigentlich sie die Zügel in der Hand hielt. Kempner erinnerte sich noch lebhaft an das Haus und seine Gäste. Es sei »ein Kunststück für sich gewesen«, die politisch völlig unterschiedlich beheimateten Zeugen »einfühlsam unterzubringen«, hatte er schon in seinen Memoiren geschrieben. Jetzt erzählte Kempner, dass es in dem Haus zuweilen auch recht turbulent zuging. Einzelne Bewohner seien immer mal wieder durch Damenbekanntschaften aufgefallen, als deren Folge sich dann allerlei Verwicklungen ergeben hätten, sowohl im Hause als auch außerhalb, berichtete der alte Herr schmunzelnd. Wenn der etwas schwerhörige Kempner mal eine Frage nicht verstand, wiederholte Jane Lester sie ihm. Die alte Dame lebte ebenfalls seit vielen Jahrzehnten in Deutschland, doch sie hatte sich einen starken amerikanischen Akzent bewahrt, sodass ihre Stimme noch immer klang, als sei sie soeben erst aus den USA angereist. Irgendwann kam Kempner auf die Hausdame des Zeugenhauses zu sprechen: »Eine ungarische Gräfin, blond, blauäugig und bildhübsch«, berichtete er und deutete an, dass auch sie in den Nürnberger Tagen der Prozessgeschäftigkeiten zu den begehrten Damenbekanntschaften gezählt hatte – »es gab viele einzelne Männer und eine Menge attraktiver Frauen«, plauderte der alte Herr, »da war es fast zwangsläufig, dass sich die eine oder der andere trafen«. An den Namen der Hausdame erinnerte sich Kempner nicht mehr, doch die Baronin von Kleist konnte er diesen Beschreibungen zufolge nicht meinen – es musste also noch eine andere Hausdame das Zeugenhaus geleitet haben. Wieder vergingen einige Jahre, bis ich schließlich Mitte der 90er Jahre nach Nürnberg fuhr. Novalisstraße 24, so lautete die im Gästebuch vermerkte Adresse der Villa. Der erste Eindruck war enttäuschend. Klein und geduckt stand das Gebäude da, ein Würfel mit heruntergezogenem Dach, von ein paar höheren Kiefern umgeben –das Haus wirkte eher schlicht. Drinnen öffnete mir Elisabeth Kühnle, auch sie eine Dame, von über 80 Jahren. Holzdielen knarrten,während sie mich ins Wohnzimmer führte. Eine wuchtige, auf Hochglanz polierte Anrichte beherrschte den Raum, nach Form und Farbe zu urteilen musste sie noch aus der Vorkriegszeit stammen. Über einzelne Möbelstücke waren weiße Spitzendeckchen gebreitet, und irgendwo stand ein Radio, das ebenfalls die Zeit überdauert zu haben schien. Elisabeth Kühnle plauderte gleich in ihrem glucksenden fränkischen Dialekt los: Ja, die Baronin von Kleist, die sei hier früher auch gewesen – »die tat immer ganz adelig, dabei war sie eine geborene Müller oder so«. Doch zuvor habe eine Gräfin das Haus geführt, eine wirkliche Adelige. »Das war die Kálnoky«, erklärte Frau Kühnle sachkundig und geriet ins Schwärmen: »Was für eine Person! Ein Bild von einer Frau, und eine richtig feine Dame.« Gräfin Kálnoky habe anfangs die Häuser geleitet, später sei sie dann in die USA ausgewandert. Während der Nürnberger Prozesse hatte Elisabeth Kühnle noch nicht in der Novalisstraße gewohnt. Das Haus gehörte seinerzeit ihrer Tante Elise Krülle. Die junge Frau Kühnle, damals frisch verheiratet, kam aber öfter zu Besuch, und so hatte sie natürlich auch die Gräfin Kálnoky kennen gelernt. Elise Krülle war nach dem Krieg früh verstorben, ihr Sohn Gerhard erbte das Haus und verkaufte es an seine Cousine Elisabeth. Eines Tages hatte sich die Gräfin Kálnoky bei der neuen Besitzerin gemeldet. Danach kamen ein, zwei Postkarten aus Amerika. Dann war der Kontakt jedoch wieder abgerissen, und nun hatte die alte Dame in Nürnberg keine Ahnung, wo genau die Gräfin in den USA zu finden wäre – falls sie überhaupt noch lebte. Im Winter 1995 klingelte ich an der Tür von Ingeborg Gräfin Kálnoky. Sie wohnte in einem Vorort von Cleveland im US-Bundesstaat Ohio in einer winzigen Wohnung, die hinter einem riesigen Einkaufszentrum lag. Über den Gotha, das Verzeichnis der Adelsfamilien, hatte ich ihren Alterswohnsitz ausfindig machen können. Der kleine Wohnraum war voll gestopft mit Erinnerungsstücken. Schachteln lagen herum, aus denen zerknitterte Bilder hervorquollen, auf einem Tischchen stand ein postergroßes, gerahmtes Foto – darauf war das Zeugenhaus in der Novalisstraße zu sehen. Sauber gebündelt stapelten sich vergilbte Dankesbriefe von früheren Gästen, daneben lag ein braunes Büchlein. Den schon etwas speckigen, mit einem leinenartigen Stoff bezogenen Einband schmückten drei Rhomben in unterschiedlichen Farben, die Seiten mussten schon häufig umgeblättert worden sein, sie hielten nur noch notdürftig zusammen. Doch die vielen Unterschriften auf den Blättern ließen keinen Zweifel aufkommen: Vor mir lag ein weiteres Gästebuch des Nürnberger Zeugenhauses, Novalisstraße 24. Das Büchlein erinnerte an ein Poesiealbum aus Jungmädchenzeiten. Auch die Gräfin hatte sich trotz ihres hohen Alters eine erstaunliche Jugendlichkeit bewahrt: Sie saß aufrecht in ihrem Sessel, zwischen den schulterlangen, weißen Haaren blitzte eine mehrreihige Perlenkette hervor, die sie immer mal wieder mit ihren langen, sorgfältig lackierten Fingernägeln zurechtzupfte. Es war unschwer zu erkennen, dass die mittlerweile 87-jährige Dame einmal eine ausnehmend schöne Frau gewesen war. Sie hatte zahlreiche Verehrer gehabt, wie sich bald aus ihren Erzählungen ergab. Doch zunächst stellte mir die Gräfin mit ihrer kehligen Stimme und einem verschmitzten Lächeln ihren aktuellen »Lebenspartner« vor: einen schwarzen Kater namens Russel. Gemeinsam blätterten wir im Gästebuch, wobei Ingeborg Gräfin Kálnoky mal hier und mal dort auf interessante Namenszüge wies. Die erste Eintragung datierte vom Oktober 1945, als Karl Haushofer, ein ehemaliger Lehrer des späteren Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß, das Gästehaus besucht hatte. Haushofers Text las sich schwülstig und schwer. »Wir haben über Reinkarnation und solche Dinge gesprochen«, erinnerte sich die Gräfin und fügte lapidar hinzu: »Nicht lange nach seinem Besuch im Gästehaus hat er sich umgebracht.« Auch der Flugzeugkonstrukteur Willy Messerschmitt war ihr noch gegenwärtig – »er wollte für uns einen Staubsauger erfinden«. Heinrich Hoffmann, der Leibfotograf Adolf Hitlers, war ein Dauergast im Zeugenhaus gewesen. »Furchtbar abergläubisch«, kommentierte die alte Dame: »Als ich einmal aus Spaß einen Regenschirm in seinem Zimmer öffnete, hat er sich zu Tode erschrocken.« Waren da nicht auch Zeugen, die aus Konzentrationslagern kamen? »Oh ja«, sagte Kálnoky: »Ein Bauer, der in Dachau gesessen hatte, war da, er hat mir Strümpfe gestopft.« Mehrfach hätten Gruppen von einstigen KZ-Häftlingen im Zeugenhaus logiert, sie seien aus Majdanek, Treblinka oder Mauthausen gekommen. In solchen Momenten habe sie stets Angst gehabt, dass Hoffmann, der Leibfotograf, die Stimmung verderben könnte: »Er hatte doch so eine furchtbar große Klappe«, und habe stets alles geleugnet, was während der NS-Zeiten an Schrecklichkeiten geschehen war. »Aber denken Sie nur«, fügte sie hinzu, »wenn die KZler abreisten, hat er am Ende noch die Adressen mit ihnen ausgetauscht.« Ich blieb ein paar Tage in Ohio, um ausgiebig über jedes Detail zu sprechen, das die alte Dame noch erinnern konnte. Abends saß ich an dem gemütlichen Esstisch bei ihrer Tochter Lori Bongiovanni, die eigentlich Eleonora hieß und mit ihrem Mann in einem schönen Landhaus ein paar Kilometer weit entfernt wohnte und die Mutter täglich versorgte. Eleonora war zehn Jahre alt gewesen als Ingeborg Kálnoky die Leitung des Zeugenhauses übernahm. Sie verband noch einige Erinnerungen damit – etwa, dass die Kinder sich gern einen Spaß daraus gemacht hatten, die GIs, die als Wachposten vor den Häusern standen, mit Wasser zu bespritzen. Auch ihr jüngerer Bruder Farkas Kálnoky, den ich Jahre später in Paris treffen sollte, hatte noch ein paar Kindheitsbilder aus Nürnberg vor Augen. Beispielsweise, wie er an einem Weihnachtsabend zwischen den Füßen von vier leibhaftigen Generälen herumkroch und mit seinen neu geschenkten Spielzeugsoldaten eine Feldschlacht simulierte. Das Zeugenhaus war offenkundig ein Ort der Gegensätze: Schmerz und Freude, Lachen und Weinen, Bitternis und Überheblichkeit lagen ganz nah beieinander. Auf knappstem Raum lebten Menschen zusammen mit Erfahrungen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Immer wieder gab es empfindliche Berührungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Amerikaner hielten die Zeugenherberge gut abgeschirmt vor neugierigen Blicken und Fragen. In den zahlreichen Büchern, die über die Nürnberger Prozesse verfasst wurden, wird die Villa in der Novalisstraße kaum erwähnt, obgleich das Zeugenhaus mehr als drei Jahre lang, von 1945 bis 1948, betrieben wurde und in dieser Zeit weit über 100 Zeugen beherbergte. Zum 30. Jahrestag des Prozessbeginns 1975 hatte die einstige Hausdame Ingeborg Gräfin Kálnoky selbst, mithilfe einer Ghostwriterin, ein Buch herausgegeben, das in den USA unter dem Titel »The Guest House« erschienen ist. Darin berichtet sie unter anderem, wie sie 1945 von den Amerikanern mit der Leitung des Zeugenhauses beauftragt wurde: »Keep things running smoothly«, so wurde ihr aufgetragen, »sorgen Sie dafür, dass alles ruhig verläuft.« Was 1975 in »The Guest House« zu lesen war, stimmt jedoch nicht immer mit dem Erfahrungsbericht überein, den Kálnoky ohne großen zeitlichen Abstand zu den Geschehnissen bereits in den 40er Jahren verfasst hatte, und von dem 1949 Auszüge in einer Münchener Zeitung veröffentlicht worden waren. Aber auch darin hatte die Gräfin nicht alle Begebenheiten notiert, wie mir recht bald aus den Gesprächen mit ihr und anderen Zeitzeugen klar wurde. Sicher konnte sie aus damaliger Sicht vieles nicht wissen.
Reihe/Serie | Goldmann Taschenbücher |
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Zusatzinfo | 16 S. s/w-Bildteil |
Sprache | deutsch |
Maße | 125 x 183 mm |
Gewicht | 240 g |
Einbandart | Paperback |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Schlagworte | NS-Opfer • NS-Täter / NS-Verbrecher • NS-Verbrecher • Nürnberger Prozess / Nachfolgeprozesse • Nürnberger Prozess, Wehrmachtsverbrechen, Anklage, Schuld, Nachkriegsdeutschland, Judenvernichtung, NS-Deutschland, Alliierte, Weltgericht, Stunde Null |
ISBN-10 | 3-442-15417-0 / 3442154170 |
ISBN-13 | 978-3-442-15417-3 / 9783442154173 |
Zustand | Neuware |
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