Grundformen der (Bewegungs-) Entwicklung - Lehr- und Übungsbuch (eBook)
312 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-35081-7 (ISBN)
WIE SICH DER MENSCH ENTWICKELT
Um die einzelnen Elemente der Grundformen der Entwicklung zu verstehen, lohnt es sich, zuerst einen Blick auf die ontogenetische Entwicklung des Menschen zu werfen, denn die inhaltliche Beschreibung dieser Formen bezieht sich auf die Entwicklung eines Menschen von der Geburt an bis zum Tode.
1 WAS VOR DER GEBURT GESCHIEHT
Bereits im Moment seiner Entstehung ist die Beziehungsfähigkeit im ungeborenen Kind angelegt. Der zukünftige Mensch ist auf Beziehung angewiesen. Jede einzelne Zelle ist lebendig, nimmt wahr und reagiert auf ihre Umwelt: Sie lernt. Ohne Lernen gibt es keine Entwicklung und auch kein Überleben.
Unsere Gene stellen nur Optionen bereit – sie legen nicht endgültig fest, wer wir sind und sein werden. Sie sind zwar die Bedingungen für die Entstehung von Proteinen (Eiweissstoffen), müssen aber dazu an- oder ausgeschaltet werden. Dies hängt von Stimuli aus der Umwelt ab (Krens & Krens, 2006).
In diesem Kapitel soll kurz beleuchtet werden, was wir bis heute über die vorgeburtliche Entwicklung wissen. Zuerst werfe ich einen kurzen Blick auf die Entwicklung der Sinnesorgane (Kapitel 1.1) und ihren Einfluss auf das nachgeburtliche Leben. In Kapitel 1.2 befasse ich mich mit dem Einfluss der Nabelschnur auf die vorgeburtliche Entwicklung und zeige die Auswirkungen von Stress auf die Hirnentwicklung (Kapitel 1.3: Der vorgeburtliche Stress & 1.4: Die vorgeburtliche Entwicklung des Gehirns). Zum Schluss unternehme ich einen kurzen Exkurs zur «Triebfeder» des Lernens (Kapitel 1.5: Lernen durch menschliche Beziehung).
1.1 DIE ENTWICKLUNG DER SINNESORGANE
Im Folgenden sollen sowohl die Entwicklung der Sinnesorgane vor der Geburt als auch ihr Einfluss auf das Leben nach der Geburt vorgestellt werden.
1.1.1 TASTEN UND BERÜHREN
Bereits in der achten Schwangerschaftswoche reagiert der etwa 2,5 Zentimeter grosse Embryo, wenn seine empfindlichen Lippen etwas berühren. Etwa zur gleichen Zeit können gezielte intentionale Bewegungen erkannt werden. So spürt das werdende Kind die Berührung auf dem Bauch der Mutter und bewegt sich zuverlässig zu der Seite, auf der die Hand liegt (Alberti, 2012).
1.1.2 RIECHEN UND SCHMECKEN
Ebenfalls ab der achten Schwangerschaftswoche kann das Ungeborene das Fruchtwasser riechen und schmecken. So beeinflussen die Ernährungsgewohnheiten der Mutter das Geschmacks- und Geruchsempfinden des Kindes. Diese frühe Entwicklung des Geschmack- und Geruchsinns führt auch dazu, dass das Kind seine Mutter nach der Geburt am Duft der Muttermilch wiedererkennt (Hüter & Weser, 2015). Dies bedeutet, dass die Sinneswahrnehmungen des Ungeborenen auf eine nachgeburtliche Verbundenheit angelegt sind. Dadurch erhält das Kind Sicherheit, und sein Vertrauen in die nachgeburtliche Welt verstärkt sich. Sein kleines Gehirn kommt zur Ruhe – eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Gehirnentwicklung.
1.1.3 HÖREN
Ungeborene Kinder reagieren auf zahlreiche Geräusche. Leise Töne scheinen sie zu geniessen, laute erschrecken sie. Sie unterscheiden bereits freundliche von aggressiven Stimmen und reagieren intensiv auf den Herzschlag der Mutter: Klopft das Herz der Mutter schnell, wird auch das Herz des ungeborenen Kindes intensiver klopfen. Beruhigt sie sich, kann sich auch das Kind entspannen. Die Stimme der Mutter ist den Ungeborenen bereits bekannt. Sie nehmen diese nicht nur von aussen war, sondern auch über die Schwingungen der Wirbelsäule und des Beckens (Greuter, 2003).
1.2 DIE NABELSCHNUR
Schon am 13. oder 14. Tag nach der Befruchtung existiert eine Nabelschnurverbindung zwischen Mutter und Kind. Die Verbindung verläuft in zwei Richtungen: Über die Plazenta gelangt mit Sauerstoff und Nährstoffen angereichertes Blut sowie Antikörper in den Körper des Embryos oder des Fötus. Das Ungeborene gibt Kohlendioxid und Endprodukte des Stoffwechsels wieder an die Plazenta ab. Auch unerwünschte Stoffe können die Plazentaschranke passieren: Viren, Bakterien, Medikamente und verschiedene Drogen können so in den Körper des Embryos oder Fötus gelangen. Darüber hinaus werden auch verschiedene Hormone, zum Beispiel Adrenalin, übertragen. Ist die Mutter gestresst, steigt ihr Adrenalinspiegel an. Diesen Anstieg bekommt das Kind mit, weil das Hormon die Plazentaschranke überwindet. Die Mutter gibt also ungewollt ihren Stress an das Kind weiter. Der Fötus ist über die Nabelschnur an das emotionale Erleben der Mutter angeschlossen, denn Gefühlszustände haben auch eine physiologische Basis. So können wir mit den Worten des Gynäkologen Peter Fedor Freyberg feststellen: Das Ungeborene «trinkt mit, es raucht mit, es liebt mit und hasst mit, es vergnügt sich mit und es leidet mit. Es empfindet [die] Herztöne [der Mutter] mit, erschrickt, wenn sie erschrickt» (Freyberg, 2015).
1.3 DER VORGEBURTLICHE STRESS
Stress wird durch verschiedene Faktoren hervorgerufen. Stress ist auch nicht gleich Stress – es wird zwischen Eustress, also dem als interessant und spannend empfundenen Stress (z. B. ein Wettbewerb, auf den man sich vorbereitet hat) und Disstress unterschieden. Disstress wird als unangenehm und überfordernd empfunden. Dauert dieser Zustand länger an, zieht er gesundheitliche Folgen nach sich. Disstress kann durch äussere Lebensbedingungen (z. B. chronischer Lärm, Hektik), psychosoziale Reize sowie innere Denk- und Emotionsprozesse hervorgerufen werden (Krens & Krens, 2006). Wenn sich die Mutter grosse Sorgen macht, zum Beispiel wegen finanzieller Engpässe, oder sie durch Beziehungsprobleme zusätzlich belastet wird, besteht das Risiko, dass sie unter Disstress leidet. Diese Stressform bewirkt (auch) beim ungeborenen Kind die Aktivierung der «Stressachse», eine Abfolge verschiedener chemischer Reaktionen. Wird diese Stressachse sehr häufig aktiviert, wird das Gehirn des Fötus zu funktionellen und strukturellen Anpassungen gezwungen. Sein Gehirn ist noch nicht fertig – es passt sich also den Umweltbedingungen an. Föten, die im Säuglingsalter häufig mütterlichem Stress ausgesetzt sind, zeichnen sich im späteren Leben oft durch eine erhöhte Stressempfindlichkeit aus. Diese Stressempfindlichkeit kann die Lernfähigkeit und das Neugierverhalten beeinflussen.
Stresshormone führen ausserdem dazu, dass sich die Blutgefässe zusammenziehen. Dieser Mechanismus beeinträchtigt die Sauerstoffzufuhr beim ungeborenen Kind und führt zu zusätzlichem Stress.
1.4 DIE VORGEBURTLICHE ENTWICKLUNG DES GEHIRNS
Wir wissen heute, wie stark das werdende Kind mit seiner Mutter verbunden ist und wie stark die Gehirnentwicklung von den gemachten Erfahrungen abhängt. Sie bilden einen ständigen Strom von Lernerfahrungen.
Die Nervenzellen im Gehirn vermehren sich, lernen voneinander und bilden immer komplexere Netzwerke mit immer weiteren Verschaltungen.
Die strukturelle und die funktionelle Entwicklung gehen dabei Hand in Hand: Neues kann nur auf Altem aufbauen (Hüter & Weser, 2015). Aus diesen Gründen hat all das, was in der vorgeburtlichen Lebensphase passiert, Auswirkungen auf die folgende Entwicklung. Dabei ist zu bedenken, dass jedes Kind nicht nur reagiert, sondern auch selbst aktiv ist. Wie das geschieht, hängt von seiner Gen-Ausstattung und seiner ureigenen, einmaligen Lebendigkeit ab.
Die menschliche Entwicklung ist aber so komplex und vielschichtig, dass es niemals nur ein einziges Ursache-Wirkungs-Prinzip gibt. Viele Zusammenhänge sind uns noch gar nicht bekannt. Es lässt sich also nicht voraussehen, wie sich bestimmte, vorgeburtliche Belastungen auf das Kind auswirken. Unser Gehirn kann allerdings lebenslang dazulernen und uns zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens ermöglichen, einen anderen Weg einzuschlagen.
1.5 LERNEN DURCH MENSCHLICHE BEZIEHUNG
«Viele Wahrnehmungen, die die Welt des ungeborenen Kindes ausmachen, sind Reize, die sozusagen von ‹aussen› kommen, weil sie aus dem mütterlichen Organismus oder aus der direkten Lebensumgebung der Mutter stammen. Sie können das Kind erreichen, weil es von Anfang an auf ‹Empfang› eingestellt ist. Es ist von Beginn an auf ‹Beziehung›, ‹Kontakt› und damit auf ‹Lernen› ausgerichtet» (Hüter & Weser, 2015, S: 102). Die Beziehung zwischen Mutter und Kind während der Schwangerschaft ist einer ständigen Wandlung unterworfen. Sie hängt vom Entwicklungsstadium und von der Befindlichkeit der werdenden Mutter ab.
Neben der Nabelschnur, die die physiologische Bindung zwischen Mutter und Kind darstellt, geschieht diese Kommunikation auch direkt über die Sinnesorgane des Kindes. Es nimmt über verschiedene Sinnesmodalitäten wahr, was die Mutter tut und wie sie sich fühlt.
QUELLEN LITERATUR
Alberti, B. (2012). Die Seele...
Erscheint lt. Verlag | 6.9.2024 |
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Verlagsort | Ahrensburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie |
Geisteswissenschaften ► Psychologie | |
Schlagworte | Bewegung und Persönlichkeit • Entwicklungspsychologische Sichtweise • Förderung der Persönlichkeit • Haltung • Lehr- und Übungsbuch für Körpertherapeut:innen • Voraussetzungen psychischer und physischer Gesundheit |
ISBN-10 | 3-384-35081-2 / 3384350812 |
ISBN-13 | 978-3-384-35081-7 / 9783384350817 |
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