Ein Kopf voll Gold -  Saskia Niechzial

Ein Kopf voll Gold (eBook)

Was neurodivergente Kinder brauchen und wie wir sie stärken können
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
288 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86828-2 (ISBN)
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Jedes fünfte Kind hat eine Diagnose oder einen Verdacht auf ADHS, Hochbegabung, Legasthenie, Dyskalkulie, Autismus, Dyspraxie oder AVWS. Dieses Buch unterstützt Eltern dabei, die Stärken neurodivergenter Kinder zu erkennen und zu fördern. Was ist zu tun, wenn das Kind sich falsch fühlt, wenn es überfordert ist von seinem »Gefühlsvulkan« oder wenn es in der Schule nicht mitkommt? Kompetent, verständnisvoll und sehr persönlich (auch zwei ihrer Kinder und sie selbst sind neurodivergent) unterstützt die bekannte Grundschulpädagogin Saskia Niechzial Eltern mit Hilfen für Familienleben, Kindergarten und Schule sowie Hintergrundwissen zu jeder Diagnose. Sie zeigt ihnen, wie sie das Selbstbild und die Selbstständigkeit ihrer Kinder unterstützen können und wo und in welchen Netzwerken und Anlaufstellen sie Informationen zu Therapiewegen, Medikamenten und Fördermöglichkeiten finden. Auch für Lehrpersonen bietet sie Rat und Unterstützung.

Saskia Niechzial ist Grundschulpädagogin, Bestsellerautorin und dreifache Mutter. Sie wurde durch ihren Blog www.liniert-kariert.de und ihren gleichnamigen Insta-Account bekannt, dem fast 200.000 Leser:innen folgen, sowie als Bildungsexpertin für zahlreiche Medien, u.a. die Online-Zeitschrift »OhhhMhhh«. Auch als Autorin von Kinderbüchern und als Expertin für Neurodivergenz ist sie vielen Eltern vertraut. Aus ihrer Erfahrung als Pädagogin und als Mutter hat sie sich als Ziel gesetzt, den Clash zwischen einer Schule, die traditionalistisch aufgestellt ist, und der neuen Familienwelt zu überwinden. Mit ihrer Familie lebt Saskia Niechzial in Hannover.

Kapitel 1

Neurodivergenz: Ein Begriff mit neuer Perspektive


Wie der Titel bereits vermuten lässt, wird in diesem Buch der Begriff der Neurodivergenz beziehungsweise die Zuschreibung »neurodivergent« eine zentrale Rolle spielen. Es sind verhältnismäßig junge Beschreibungen, aber sie sind bedeutungsvoll aufgeladen. Denn sie stehen für jahrzehntelanges Ringen um gesellschaftliches Inkludieren von Personengruppen, deren Gehirn anders funktioniert, als dies den allgemeinen Erwartungen entspricht. Diskussionen um Begrifflichkeiten sind ein wichtiger Prozess. Wenn es darum geht, neurodivergenten Menschen aufgeschlossen und stärkenorientiert zu begegnen, dann hat die Wahl unserer Worte einen bedeutenden Einfluss. Und so macht es beispielsweise einen Unterschied, dass wir auf Beschreibungen wie »normal« und »nicht normal« verzichten. Sprache formt Denken. Sprache formt Haltung.

Neurodivers oder neurodivergent?


Bei meiner Recherche für dieses Buch ist mir immer wieder begegnet, dass die Begrifflichkeiten Neurodivergenz/neurodivergent und Neurodiversität/neurodivers selbst in Fachbeiträgen durcheinandergebracht oder äquivalent gebraucht werden. Dabei können und müssen sie klar unterschieden werden.

Neurodiversität beschreibt schlichtweg die gesamte Vielfalt neurologischer Gegebenheiten innerhalb einer Gruppe. So wie wir uns im äußeren Erscheinungsbild voneinander unterscheiden, groß oder klein sind, verschiedene Haarfarben haben, so gilt das auch für die Art und Weise, in der unser Gehirn uns wahrnehmen, denken und fühlen lässt. Jeder Mensch zeigt da individuelle Ausprägungen. Dieser Blickwinkel entstand in den 1990er-Jahren. Maßgeblich an dieser Bewegung beteiligt war Judy Singer. Sie wehrte sich als Tochter einer autistischen Mutter entschieden gegen die Pathologisierung von Denkstrukturen und Verhaltensweisen, die nicht der gesellschaftlich festgesetzten Norm entsprachen.1 Zentrale Idee des Konzepts der Neurodiversität ist es, neurologische Vielfalt als gewinnbringende Selbstverständlichkeit zu sehen und nicht als etwas, das mit allen Mitteln angeglichen werden müsse. So ist der Weg geebnet, das Potenzial und die Stärken der jeweils unterschiedlichen Funktionsweisen unserer Gehirne zu erkennen und auch zu nutzen.

Neurodivergenz beschreibt das Phänomen, dass es innerhalb dieser vorhandenen Vielfalt Personen mit abweichenden, also divergenten neurologischen Strukturen gibt, die außerhalb dessen liegen, was als generelle Norm wahrgenommen wird. In unserer Gesellschaft und Kultur wurden beispielsweise über die Jahrhunderte trotz unserer äußerlichen Vielfältigkeit immer bestimmte, sich durchaus aber wandelnde Erscheinungsbilder als »normschön« etabliert. Und ebenso ordnete man auch bestimmte Verhaltensweisen sowie Denk- und deren Wahrnehmungsstrukturen als das Reguläre ein. Alle Menschen, die sich anders verhielten oder wahrnahmen, fielen aus diesem Rahmen und galten als auffällig. Und genau diese Unterscheidung wird seit Anfang der 2000er-Jahre mit den gegenüberstehenden Begriffen »neurotypisch« und »neurodivergent« beschrieben. Neurodivergente Gruppen oder Einzelpersonen entsprechen also in der Funktionsweise ihres Gehirns nicht der neurotypischen Norm. Die autistische Aktivistin Kassiane Asasumasu beschreibt dies so: »Neurodivergent bezieht sich auf neurologisch abweichend von typisch. Das ist alles.«2

Gängige Beispiele für neurodivergente Formen sind:

  • Autismus-Spektrum

  • ADHS

  • Legasthenie

  • Tourette-Syndrom

  • Dyskalkulie

  • Hochbegabung

  • Dyspraxie

  • AVWS (= Auditive Verarbeitung- und Wahrnehmungsstörung)

Auch Hochsensibilität, Synästhesie, Epilepsie, das Downsyndrom, Depression oder Gehirnveränderungen infolge von Trauma werden oft als weitere Formen von neurologischer Divergenz genannt.3 Es gibt tatsächlich keine klare Trennschärfe, welche Formen sich letztlich unter diesem Begriff sammeln lassen. Wer sein Kind oder seine Schüler*innen in einer dieser Richtungen wiederfindet, darf sich in den Ausführungen und Anregungen dieses Buches repräsentiert fühlen.

Die Gegenüberstellung »neurotypisch« im Gegensatz zu »neurodivergent« wird aber durchaus auch kritisch gesehen. Denn neurotypisch ist letztlich ja kein tatsächlicher Zustand der Normalität, sondern eben eine kulturell und gesellschaftlich konstruierte Norm, die es zu überdenken gilt. Bisweilen ermöglichen diese Begriffe aber erst mal einer neurologischen Minderheit, sich selbst besser beschreiben zu können und das Reden über ihr Leben und ihre Erfahrungen zu erleichtern, ohne dabei die stark urteilenden Bezeichnungen »normal« oder »nicht normal« benutzen zu müssen.

Woher kommt’s?


Bei den meisten neurodivergenten Formen ist eine endgültige Klärung der genauen Ursachen noch nicht komplett abgeschlossen. Was mittlerweile aber als gesichert gilt, ist die genetische Komponente. Darum ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass neben dem Kind auch weitere Familienmitglieder neurodivergent sind. Im Bereich des Autismus-Spektrums stehen außerdem die Einnahme verschiedener Medikamente sowie bestimmte Krankheiten der Mutter während der Schwangerschaft (z. B. Röteln, oder auch Diabetes) und einige Geburtskomplikationen im Verdacht, Risikofaktoren für Kinder zu sein.4 Impfungen sind heutzutage als Ursache für Neurodivergenz ausgeschlossen.

Ein recht neues Forschungsfeld, das derzeit deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommt, ist die Kommunikation und Wechselwirkung zwischen Darm und Gehirn. Konkret wird dabei untersucht, welcher Zusammenhang zwischen Darmbakterien und Erscheinungsformen wie zum Beispiel Autismus bestehen kann. Auch wenn sich noch keine fundierten Aussagen ableiten lassen, so verstärken sich Vermutungen, dass hier Wechselbeziehungen bestehen, die wiederum Türen für neue Therapie- und Unterstützungsmöglichkeiten öffnen würden.5

Und letztlich haben natürlich auch Umweltfaktoren und psychosoziale Faktoren Einfluss auf neurodivergentes Verhalten, auch wenn sie nicht als direkte Ursache gelten. Erziehungsansätze sind also ausdrücklich nicht der Grund für eine Neurodivergenz. Ungünstige Entwicklungsbedingungen können allerdings herausfordernde neurodivergente Merkmale deutlich verstärken, während günstige Voraussetzungen im Umfeld eine Potenzialentfaltung fördern.6

Störung, Krankheit, Behinderung?


Neurodivergenz ist eine gleichwürdige, aber eben nicht neurotypische Variante menschlicher Denk- und Wahrnehmungsstrukturen. Die Frage ist bislang aber noch, wie wir die zugeordneten Formen (ADHS, Autismus-Spektrum, Legasthenie etc.) kategorisieren. In der momentanen Diagnostik werden viele dieser Varianten offiziell mit dem Begriff der Störung umschrieben (z. B. »Autismus-Spektrums-Störung«). Diese Bezeichnung wird von neurodivergenten Menschen meist abgelehnt, weil eine negative Bewertung mitschwingt: »Da stört etwas. Da ist etwas nicht so, wie es für uns sein soll. Das muss behoben werden.« Darum wird in der alltäglichen Sprache auf den Zusatz »Störung« eher verzichtet und gesagt: »Das Kind liegt im Autismus-Spektrum«. Gleichzeitig steckt in dem Begriff eine Perspektive, die ich als selbst neurodivergente Person durchaus wahrnehme. Denn manchmal stört mein Gehirn mich sehr wohl bei der Durchführung von Aktivitäten oder Vorhaben. Ich möchte etwas wirklich gerne umsetzen, aber die Art, wie ich denke und fühle, macht es mir schwerer, das auch zu tun. Ein Leidensdruck, den ich von vielen neurodivergenten Menschen...

Erscheint lt. Verlag 4.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Familie / Erziehung
ISBN-10 3-407-86828-6 / 3407868286
ISBN-13 978-3-407-86828-2 / 9783407868282
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