Wir. Tagebuch des Untergangs (eBook)

eBook Download: EPUB
2024
448 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-32529-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir. Tagebuch des Untergangs - Dmitry Glukhovsky
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Ein Kaleidoskop voller akkurater, hellsichtiger und ungeschönter Beobachtungen des Bestsellerautors zur politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Russlands während der letzten 10 Jahre bis heute. Glukhovskys scharfer Blick auf die Ereignisse bietet eine erhellende Analyse der inneren und äußeren Verfasstheit des Landes und zeigt, warum Russland sehenden Auges in den Untergang steuert - und wie lange sich das schon abzeichnete. Ein klarer Blick auf die frühen Signale und den Sog des russischen Niedergangs und zugleich ein brillantes Panorama der Gegenwart von einem Meister der satirischen, scharfzüngigen Erzählkunst.

Dmitry Glukhovsky ist ein russischer Schriftsteller und Dramatiker. 1979 in Moskau geboren, machte er seinen Abschluss an der Hebräischen Universität Jerusalem. Er schreibt für die internationale Presse, darunter THE GUARDIAN, LA LIBERATION, DIE ZEIT und NOVAYA GAZETA. Glukhovsky ist Autor zahlreicher Bestseller, darunter der Welterfolg »METRO 2033«. Seine Bücher wurden in 40 Sprachen übersetzt. Als entschiedener Kritiker des Putin-Regimes wurde Dmitry Glukhovsky zum »ausländischen Agenten« erklärt und 2023 von einem Moskauer Gericht in Abwesenheit zu 8 Jahren Haft verurteilt. Er lebt im Exil.

Instagram: @glukhovsky, Twitter: @glukhovsky, Facebook: @glukhovskybooks

was ist mit russland passiert?


Aus heutiger Perspektive mag man kaum glauben, dass Russland noch vor wenigen Jahren ein ganz anderes Land war – oder schien es nur so? Heute ist es in einen schier endlosen Krieg mit der Ukraine verwickelt, hat längst aufgehört, sich den Anschein einer Demokratie zu geben, frönt dem Obskurantismus ebenso wie dem Fundamentalismus, unterstützt offen terroristische Gruppierungen und marginale Regime – und ist dabei selbst zum randständigen Terrorstaat geworden. Dass dieses Land noch vor wenigen Jahren eben nicht zurück in die hermetisch abgeriegelte, abgestandene Sowjetvergangenheit, sondern vorwärts in eine gemeinsame, freie, einige und offene Welt strebte, scheint heute unglaublich, ja unmöglich.

Es hat einmal eine Zeit gegeben, da brach diese Großmacht mit dem Totalitarismus, zog freiwillig ihre Panzerarmeen aus Europa ab und hieß Amerika mit offenen Armen willkommen. Warum ist es heute wieder ein Schurkenstaat, der einen tiefen Groll auf die ganze Welt zu hegen scheint? Wie und wann hat sich diese Wandlung vollzogen? Und vor allem: Hat sich diese bösartige Mutation nur in den staatlichen Strukturen vollzogen oder auch im ganzen Land, in den Menschen?

Warum hat das russische Volk, als es in den Ukrainekrieg hineingezogen wurde, dem Blutvergießen nicht widersprochen, sich nicht widersetzt? Warum gibt es in diesem Land tatsächlich Menschen, die den Krieg aufrichtig befürworten? Wie kommt es, dass Menschen aktiv an diesem Krieg teilnehmen – sei es aus Habgier oder weil sie nun eine ohnehin vorhandene Neigung zur Barbarei ausleben können?

Warum tut die absolute Mehrheit meiner Landsleute so, als gäbe es diesen Krieg einfach nicht, als hätten sie nichts damit zu tun – selbst dann noch, wenn er sie persönlich betrifft?

In meinen fiktionalen Werken habe ich oft ein überzogenes, apokalyptisches Bild der Welt und der Lage in Russland gezeichnet. Es ging mir dabei aber stets darum, meine – häufig jungen – Leserinnen und Leser vor den Gefahren zu warnen, die totalitäre Propaganda, imperiale Nostalgie und mangelnde Bereitschaft, aus den Katastrophen der Vergangenheit zu lernen, mit sich bringen. Ich hätte nie gedacht, dass die düsteren Panoramen meiner Bücher auf einmal Wirklichkeit werden, dass Russland einen Eroberungskrieg gegen ein Bruderland anzettelt und dem Westen auch noch mit Atomkrieg droht – wodurch die grotesken Szenarien einer nuklearen Apokalypse im kollektiven Bewusstsein banalisiert werden.

Leider stellt die Realität derzeit sogar die absurdesten Fantasien in den Schatten – und verwandelt diese in genaue Prognosen. Aber eine Prognose ist unmöglich ohne ein grundsätzliches Verständnis für die Strukturen der heutigen russischen Macht und der heutigen russischen Gesellschaft. Um zu erahnen, was kommt, muss man zuerst begreifen, was geschehen ist.

Wie also konnte sich Russland von einem demokratischen Staat in eine totalitäre Diktatur neosowjetischen Zuschnitts verwandeln? Die Antwort liegt auf der Hand: Russland war nie eine Demokratie – und ist noch immer keine totalitäre Diktatur. Stattdessen war Russland in den letzten 30 Jahren nie etwas anderes als eine durch und durch korrupte Bananenrepublik nach lateinamerikanischem oder afrikanischem Muster. Nur dass meine Heimat nicht mit Bananen, sondern mit Gas und Öl handelt – und die Welt damit erpresst.

Heute wird die einstige Großmacht Russland von inkompetenten, mittelmäßigen Menschen regiert, die rein zufällig ans Ruder der Macht gekommen sind und nun am wunden Euter des Landes hängen, bis sie es auf den letzten Tropfen leer gesogen haben. Um ihren Status um jeden Preis zu erhalten, versuchen diese Günstlinge und Hochstapler dem Volk weiszumachen, ihre Macht sei sakraler Natur. Und gerade weil sie genau wissen, dass ihnen diese Macht rein zufällig in die Hände gefallen ist, bemühen sie sich so verzweifelt, ihre nackten Hintern mit irgendwelchen heldenhaften Mythen zu bedecken.

Wenn sie anfangs noch versuchten, einen fortschrittlichen, demokratischen, modernen Staat zu simulieren, sind sie heute krampfhaft bemüht, unsere Bananenrepublik als furchtgebietende Wiedergängerin der stalinschen Sowjetunion darzustellen. Dabei dienen all diese hastig beschmierten Pappkulissen in Wirklichkeit nur dazu, die wahren Prozesse in unserem Land zu verschleiern: Prozesse der Fäulnis, Prozesse fieberhafter Plünderei, hastigen Sich-in-die-Taschen-Stopfens von Volkseigentum.

Es ist eine unendliche Geschichte von Betrug und Selbstbetrug – das geknechtete, rechtlose Volk, dessen einziger Traum es ist, ein ganz normales Leben zu führen, wird von den Machthabern nach Strich und Faden belogen: Ein solches Leben müsse ihm, dem einfachen Volk, verwehrt bleiben, ja, es schade ihm sogar, denn es gelte, dem Vorbild der Väter und Großväter zu folgen und alles der einen historischen Mission unterzuordnen. Man sei umzingelt von Feinden, werde »bedrängt von dunklen Kräften«, wie in dem alten Revolutionslied, das noch heute in der russischen TV-Propaganda erklingt. Die Größe und Herrlichkeit des Landes dient somit als Rechtfertigung für das kümmerliche Dasein, das seine Bevölkerung fristet.

Aber wie kann es passieren, dass sich ein Volk, das gerade erst das Joch des Pharaos abgeworfen und den Weg in die Freiheit angetreten hat, in der Wüste auf einmal wieder nach der Knute sehnt und sich am Ende freiwillig zurück unter die Aufsicht seiner einstigen Unterdrücker begibt?

Die Veränderung unseres Landes kam nicht über Nacht und nicht von selbst. Sie war ein schleichender Prozess, gesteuert von staatlichen und staatstreuen Medien, begleitet von vermehrter Propaganda und zunehmenden Repressionen, bis irgendwann jedem Menschen in Russland klar wurde, wie man zu denken hatte und wie besser nicht. Und doch herrschte in Russland noch wenige Jahre vor der Annexion der Krim 2014 eine ganz andere Stimmung: Von einer Rückeroberung der einstigen sowjetischen oder zarischen Herrschaftsgebiete träumte nur eine Minderheit, die Mehrheit verlangte dagegen eine Modernisierung des Landes sowie dessen weitere Annäherung an den Westen. Selbst heute noch – trotz gewaltiger Bemühungen und schier unbegrenzter Ressourcen der Propaganda, trotz öffentlich verkündeter Repressionen, trotz Vernichtung des politischen Aktivismus und totaler Zensur – gelingt es den Machthabern nicht, in Russland ein Einheitsdenken zu oktroyieren. Dennoch ist der offene Widerstand gegen das Regime und den von ihm angezettelten Krieg gebrochen, und der Krieg wird – ebenso wie Putins gesamtes paranoid-revanchistisches Projekt – von breiten Teilen der Bevölkerung unterstützt.

Dieses Buch versammelt Artikel und Kolumnen, die seit 2012 auf verschiedenen Medienplattformen erschienen sind. Meist habe ich darin wichtige oder sogar richtungsweisende Ereignisse kommentiert und die Reaktion der Gesellschaft darauf festgehalten. Wichtig ist für mich ein Ereignis immer dann, wenn sich daran wesentliche Strukturen des politischen und gesellschaftlichen Lebens, der Geschichte und Geschicke Russlands erkennen und begreifen lassen.

Die Texte sind hier in chronologischer Reihenfolge angeordnet – wie im Logbuch eines Raumfahrers, der gerade in ein Schwarzes Loch fällt. In ihrer Gesamtheit ergeben sie aber noch etwas anderes: ein aus vielen Mosaiksteinchen zusammengesetztes Wandbild, das die heutige Katastrophe Russlands darstellt und zugleich ebenjenes Russland beschreibt, das diese Katastrophe gerade durchlebt.

Um den Leserinnen und Lesern die historischen Zusammenhänge in Erinnerung zu rufen, haben wir den meisten Texten kurze (manchmal auch längere) »Kontext«-Informationen vorangestellt. Dies erschien mir wichtig, denn viele Ereignisse und Diskussionen, die noch vor wenigen Jahren die Öffentlichkeit bewegten, sind heute bereits vergessen. Nicht selten werfe ich in meinen Texten einen Blick in die Zukunft – und weil ich mich dabei auch immer wieder geirrt habe, bedürfen sie einer nachträglichen Einordnung. Wo immer es mir notwendig und sinnvoll erschien, habe ich sie durch einen kommentierenden »Rückblick aus der Zukunft« ergänzt.

Viele dieser Texte habe ich aus der Sicht jener Menschen geschrieben, die damals mit mir in Russland lebten – aus »unserer« Sicht also. Ich schrieb »wir glauben« oder »wir fühlen«, denn ich versuchte, Prozesse zu diagnostizieren, die in ganz Russland vor sich gingen, fühlte mich als Teil seiner Bevölkerung.

Die Frage ist: Kann ich, der ich mich heute in politischer Emigration befinde und in meiner Heimat als ausländischer Agent gebrandmarkt, zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt und zur Fahndung ausgeschrieben bin, kann ich mir überhaupt das Recht herausnehmen, im Namen aller Russen zu sprechen?

Wer ist eigentlich dieses »wir«? Lässt sich das sprichwörtliche »russische Volk« – manchmal auch »multinationales Volk Russlands« genannt – überhaupt beschreiben? Lassen sich alle Menschen, die in Russland leben, einfach so über einen Kamm scheren? Was haben sie denn gemein außer ihrem roten Pass sowie der Pflicht, dem Kreml Steuern zu zahlen und für seine Kriegsabenteuer ihr Leben zu riskieren? Gehören Intelligenzija und Mittelstand unbedingt zum »Volk« dazu? Fühlen und denken sie genauso wie die hypothetischen »Massen«?

Dennoch scheint mir, dass es mir in diesen Texten zumindest bisweilen gelungen ist, gewisse Komplexe, gewisse neuralgische Punkte, gewisse Bestrebungen und Träume zu erspüren und festzuhalten, die inzwischen für viele Bewohner Russlands – bei allen Unterschieden – einen gemeinsamen Nenner...

Erscheint lt. Verlag 2.10.2024
Übersetzer M. David Drevs
Sprache deutsch
Original-Titel МЫ. ДНЕВНИК ПАДЕНИЯ
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2024 • Alexei Nawalny • Angriffskrieg gegen die Ukraine • Boris Nemzow • Diktatur • eBooks • Exil • Krieg • Metro • Metro 2033 • Neuerscheinung • Opposition • Politische Analyse • Putin • Regierungskritik • Russland • Ukraine • Verfolgung
ISBN-10 3-641-32529-3 / 3641325293
ISBN-13 978-3-641-32529-9 / 9783641325299
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