Über Palästina (eBook)

(Autor)

Thomas Meyer (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
272 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60826-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Über Palästina -  HANNAH ARENDT
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Palästina, Israel und die Suche nach der Lösung Über Palästina vereint zwei neu entdeckte, bisher unbekannte Texte von und mit Hannah Arendt. Der Aufsatz »American Foreign Policy and Palestine« wurde 1944 von Arendt vor der Staatsgründung Israels verfasst und erst jetzt in einem Archiv gefunden. 14 Jahre später ist sie Mitglied eines Expert:innen-Rats, der in dem Bericht »The Palestine Refugee Problem« eine Lösung für die Situation der Geflüchteten im Nahen Osten formulierte. Diese beiden außergewöhnlichen Fundstücke belegen eindrücklich Arendts lebenslanges Ringen um einen Frieden in Israel und Palästina. Herausgegeben von Thomas Meyer

Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete sie als Lektorin, danach als freie Autorin. Sie war Gastprofessorin in Princeton und Professorin an der University of Chicago. Ab 1967 lehrte sie an der New School for Social Research in New York.

Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete sie als Lektorin, danach als freie Autorin. Sie war Gastprofessorin in Princeton und Professorin an der University of Chicago. Ab 1967 lehrte sie an der New School for Social Research in New York.

Hannah Arendt


Amerikanische Außenpolitik und Palästina[1]


Schematische zeitgenössische Karte (1944)

 

Die Vertagung der Wagner-Taft Resolution[2] hat der Sache des jüdischen Volkes einen schweren Schlag und darüber hinaus alle amerikanischen Bürger, denen die Sache der Freiheit und Sicherheit der kleinen Nationen am Herzen liegt, in schwere Sorge versetzt. Nicht, als hätte irgendeiner geglaubt, daß durch die Annahme einer Resolution die sehr schweren Probleme Palästinas lösbar oder die sehr hartnäckige Politik des englischen Colonial Office[3] unmittelbar zu beeinflussen waren. Aber die Annahme der Resolution hätte unzweideutig zum Ausdruck gebracht, daß der amerikanische Kongreß als die vom Volke gewählte Körperschaft stark genug ist, um den Experten der Außenpolitik, die ihrem Wesen nach weniger von dem Willen des Volkes als von den täglich sich ergebenden Opportunitäten und Gelegenheiten machtpolitischer Interessen abhängig sind, in grundsätzlichen Fragen immer wieder die Wege zu weisen. Es ist zweifellos ihre Aufgabe, sich um das Öl in Saudi-Arabien[4] zu kümmern, und sie werden daher natürlicherweise leicht dahin kommen, den Willen von 5 Millionen Amerikanern jüdischer Abstammung, ihrem Volke in Europa zu helfen, und die aktive Sympathie ihrer Mitbürger als hinderlich und lästig zu empfinden. Es ist andererseits zweifellos die Aufgabe des Kongresses, auch in solchen Fragen außenpolitischer Art den Willen des amerikanischen Volkes zur Geltung zu bringen. Die Experten mit dem politischen Willen des Volkes in Einklang zu bringen ist die immer wiederkehrende Aufgabe amerikanischer Außenpolitik. Cordell Hull’s neuerliches Statement,[5] in welchem er versprach, dem Kongreß eine Stimme bei den Entscheidungen des State-Departments[6] einzuräumen, liegt im Sinne der besten Tradition der Amerikanischen Republik.

Da Amerika bisher die Einrichtung der Berufsdiplomatie nicht gekannt hat, sind ihr gewisse Erfahrungen, die andere Völker mit den Spezialisten und Experten der Außenpolitik gemacht haben, erspart geblieben. Mit dem Vorwurf, daß sie nicht »realistisch« seien, hat man in Europa seit Jahrzehnten die besten Kräfte der Völker zur Untätigkeit und Einflußlosigkeit verurteilt. Die Realpolitiker haben ungehindert von irgendeiner demokratischen Kontrolle ihre Völker mit Beweisen ihrer Unfähigkeit, Realitäten einzuschätzen und zu beurteilen, geradezu überschütten können. Es hat sich nur langsam herausgestellt, daß hinter dem Schlagwort Realpolitik sich eine opportunistische Tagespolitik verbarg, die wegen ihrer Prinzipienlosigkeit dem ständigen Fluß kleiner Tagesereignisse hemmungslos preisgegeben war und dadurch notwendigerweise einen wirren Zickzack-Kurs verfolgte und schließlich ein Chaos anrichtete, in dem überhaupt keine Ergebnisse mehr festzustellen waren. Der eigentliche Motor, der diese Maschinerie des Opportunismus in Bewegung setzte, war eine utopische und wirklich irreale Sehnsucht nach den guten alten Zeiten, in denen man sein Kapital mit Sicherheit und Profit in den verschiedensten Teilen der Welt anlegen konnte – wie es Chamberlain in schöner Offenheit unmittelbar nach dem Abkommen von München einmal ausgedrückt hat.

Die Palästina-Resolution beruhte auf dem traditionellen Prinzip amerikanischer Außenpolitik, die Sache der Schwachen und Unterdrückten nach Möglichkeit zu stärken und im Sinne von Freiheit und Gleichheit, nämlich im Sinne der prinzipiellen Fundamente der amerikanischen Republik, den Gang der Dinge so weit wie möglich in anderen Ländern der Welt zu beeinflussen. Diese Resolution wurde bestimmten opportunistischen Erwägungen geopfert, hinter denen man keinerlei Prinzip und am wenigsten natürlich ein juden-feindliches vermuten kann.

So etwas kann natürlich immer vorkommen, und wenn es auch in dem vorliegenden Falle ein Volk trifft, das durch die Ereignisse der letzten Jahre und durch einen Herrschaftstypus, mit dem zusammen kein Land und am wenigsten die Vereinigten Staaten die Erde bewohnen können, besonders schwer gelitten hat, so braucht solch ein gelegentlicher Lapsus doch noch nicht allzuviel zu besagen. Leider koinzidiert diese Niederlage des Kongresses in einer grundsätzlichen Frage der amerikanischen humanitären Tradition mit gewissen Tendenzen im Land, die einen vorläufigen Ausdruck in bestimmten Theorien von Amateuren der Außenpolitik gefunden haben und die dem amerikanischen Volk einzureden versuchten, daß es seit 60 Jahren keine Außenpolitik gehabt habe, weil es eine idealistische gehabt habe, daß es nur »große Worte« kenne, aber sich vor Verpflichtungen scheue, daß es realitätsfremd sei und daß seine Tradition von Freiheit und seine Abneigung gegen Unterdrückung leeres humanitäres Gerede sei, das nur dazu diene, es in allen großen Machtfragen der Welt schlecht wegkommen zu lassen, und das man besser heute als morgen gegen wirkliche Interessenvertretung, gegen wirkliches Öl eintausche. Dieser neue Opportunismus ist utopischer als alle Ideale und bestimmt realitätsfremder als die traditionellen humanitären Prinzipien Amerikas. Denn während das wirkliche Öl morgen trotz aller Konzessionen von einem zweiten Aufstand in der Wüste angesteckt und übermorgen durch ein neues Verfahren, synthetisches Öl zu gewinnen, überflüssig gemacht werden kann, beruht die humanitäre Tradition der amerikanischen Außenpolitik auf wirklichen Realitäten der Republik, die sich weder morgen noch übermorgen und jedenfalls nicht über Nacht ändern werden.

Eine der grundlegenden Realitäten amerikanischer Außenpolitik liegt in der Tatsache beschlossen, daß die Bewohner dieses Kontinents nicht vom Mond, sondern aus allen Teilen der Welt, mit denen Amerika in außenpolitischer Beziehung steht, kamen, daß in den letzten 60 Jahren Welle nach Welle von Immigranten aus der alten Welt an den Küsten der Neuen Welt gelandet sind und daß heute von allen europäischen Völkern und den meisten nicht-europäischen Völkern größere und kleinere Teile amerikanische Bürgerrechte genießen. Mit dieser Tatsache, die in der uns bekannten Geschichte einzigartig dasteht, hat amerikanische Außenpolitik immer rechnen müssen. Sie hat zur Folge, daß jede außenpolitische Frage hier auch eine wichtige innenpolitische Spiegelung erfährt. Jedesmal, wenn eines der vielen Mutterländer der amerikanischen Bevölkerung mit Unterdrückung bedroht war, jedesmal, wenn eines dieser Länder eine wirkliche Freiheitsbewegung entfaltete, hat die amerikanische öffentliche Meinung sich mit der betreffenden Volksgruppe im eigenen Land solidarisiert und die Regierung gezwungen, stärker oder schwächer für die Unterdrückten zu intervenieren. Verpflichtungen waren gerade deswegen, weil man freie Hände für die verschiedenartigsten Interventionen behalten mußte, sehr schwer zu übernehmen und mußten auf ein Minimum beschränkt werden. Was daher von außen leicht wie idealistischer Nonsense, hinter dem keine wirklichen Taten steckten, aussah, war in Wahrheit das Funktionieren einer sehr komplizierten demokratischen Maschine, in welcher die Stimme des gewöhnlichen Bürgers für außenpolitische Entscheidungen wichtiger war als in irgendeinem anderen Staate.

In diesem System hat das State-Department die Funktion, die Interessen der amerikanischen Nation als Ganzes zu vertreten bei genauester Ausnutzung der ungeheuren Vertrauensaktiva, die es auf Grund seiner gemischten Bevölkerung und seiner freiheitlichen Tradition in allen Teilen der Welt genießt. Eine Entfremdung der Außenpolitik vom Volke und vom Kongreß würde in diesem Lande noch schwerere Folgen haben als in den europäischen Ländern. Eine Vernachlässigung der Stimme des Kongresses würde die besten außenpolitischen Karten, jene unvergleichliche intime Beziehung zu allen Teilen der Welt, aus der Hand geben. Sie müßte auf der anderen Seite dazu führen, daß nationale Splittergruppen sich als pressure groups organisieren und partikulare Interessen durchzusetzen versuchen, denen man gelegentlich doch Folge leisten müßte.

Solange die amerikanische Grundlage einer im wesentlichen optimistischen Gesinnung unerschüttert war, haben Kongreß und State-Department sich im wesentlichen ohne allzu große Reibungen ergänzen können. Der...

Erscheint lt. Verlag 27.6.2024
Übersetzer Mike Hiegemann
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte aktuell • Araber und Israel • Essay • Flüchtlinge • Geflüchtete • Israel • Kommentar Nahostkonflikt • Krise • Nachlass Hannah Arendt • Nahostkonflikt • Palästina • Philosophischer Essay • Politische Analyse
ISBN-10 3-492-60826-4 / 3492608264
ISBN-13 978-3-492-60826-8 / 9783492608268
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