Das Auswärtige Amt und die Kolonien (eBook)
598 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-80714-5 (ISBN)
Carlos Haas war von 2013 bis 2020 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und ist seit April 2020 Akademischer Rat a. Z. am Historischen Seminar der LMU München. <br> <br> Lars Lehmann ist Wissenschaftlicher Koordinator des Schelling-Forums der Bayerischen Akademie der Wissenschaften an der Universität Würzburg. <br> <br> Brigitte Reinwald ist Professorin für die Geschichte Afrikas am Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover. <br><br> David Simo ist emeritierter Professor für German Studies an der Université de Yaoundé 1 in Kamerun. Er ist Reimar-Lüst-Preisträger der Alexander von Humboldt-Stiftung und der Fritz Thyssen Stiftung.
Das Auswärtige Amt und die Kolonien Geschichte – Erinnerung – Erbe
Carlos Alberto Haas, Lars Lehmann, Brigitte Reinwald, David Simo
Die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte verändert die Koordinaten bundesrepublikanischer Erinnerungskultur. Eine kritische Beschäftigung mit der Kolonialzeit und ihren Folgen ist neben die Auseinandersetzung mit dem «Dritten Reich», dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust getreten. Der Blick auf die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gestaltet sich neu. Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Kultur, Wissenschaft und Zivilgesellschaft streiten über einen angemessenen Umgang mit dem deutschen Kolonialismus: Handelt es sich hierbei um einen Wendepunkt im Geschichtsverständnis oder eher um eine Weitung? Im vorliegenden Band geht es nicht darum, den mühsam gewachsenen geschichtspolitischen Konsens über die besondere Verantwortung für die deutschen Verbrechen der NS-Zeit in Frage zu stellen. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, das historische Bewusstsein zu erweitern und zu überlegen, wie heute verantwortungsvoll mit der deutschen Kolonialzeit umzugehen ist – auch und gerade vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit. Es sollte möglich sein, verschiedene Gewalt- und Verbrechenskomplexe in ihrem jeweiligen historischen Kontext nebeneinander stehen zu lassen, zumal sich der Schmerz der Opfer nicht aufwiegen lässt: «Leiden kennt keine Richterskala».[1]
Eng mit diesen Überlegungen verbunden ist die Frage, wie die vielfältige bundesrepublikanische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ihr Verhältnis zu den Menschen in den ehemaligen Kolonien und im globalen Süden gestalten will. Für eine solche Positionierung ist das kritische Wissen um die historischen Bezüge essentiell. Selbstverständlich ist die Diskussion auch außerhalb Deutschlands von großer Tragweite. Die Gesellschaften in den ehemaligen deutschen Kolonien, das heißt im heutigen Ghana, in Togo, in Kamerun, in Namibia, in Burundi, Ruanda und Tansania, in Papua-Neuguinea, in Nauru und auf den Marshallinseln sowie im Osten Chinas führen eigene Diskurse über den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit. Erinnerungskulturelle und geschichtspolitische Fragen nehmen materielle Dimensionen an, wenn es um Entschädigungszahlungen oder die Restitution geraubter Kulturgüter geht. Entsprechende Forderungen an die Bundesrepublik sind dabei mehr als nüchterne Interessenpolitik. In ihnen spiegelt sich vielmehr die Auseinandersetzung afrikanischer und ozeanischer Gesellschaften mit den langfristigen und tiefgreifenden Folgen der gewaltvollen europäischen Kolonialherrschaft für ihre eigene Identität, Geschichte und Kultur. Für diese Auseinandersetzung ist die Frage zentral, unter welchen Vorzeichen diese Gesellschaften ihre Beziehungen zu Deutschland (und anderen vormaligen Kolonialmächten) überhaupt ausgestalten können und wollen. Daher gilt es, die Kolonialherrschaft gemeinsam mit den Gesellschaften der ehemaligen Kolonien aufzuarbeiten, möglichst ohne nach wie vor bestehende Ungleichheiten zu reproduzieren.
Seit dem Ende des Kaiserreichs hat der deutsche Nationalstaat zahlreiche Transformationen erfahren. Gleichwohl gibt es strukturelle und insbesondere institutionelle Kontinuitäten, die bis in unsere Gegenwart reichen. Das deutsche Außenministerium ist hierfür ein besonders eindrückliches Beispiel. Das Auswärtige Amt war mit seiner Kolonialabteilung bzw. dem daraus hervorgegangenen Reichskolonialamt bis 1918/19 ein wichtiger Akteur des deutschen Kolonialismus. Über die Zeit der Weimarer Republik und der NS-Diktatur hinweg hat sich das Amt bis in die Berliner Republik des 21. Jahrhunderts erhalten.
Umso verwunderlicher ist es, dass das Auswärtige Amt in der aktuellen erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Debatte durchaus als Akteur in Erscheinung tritt, gleichzeitig aber seine Verantwortung und seine historische Rolle im deutschen Kolonialismus kaum thematisiert werden. Wenn die Frage der nationalen Verantwortung überhaupt zur Sprache kommt, wird sie häufig auf einzelne historische Personen verengt, insbesondere auf Reichskanzler Otto von Bismarck oder Kaiser Wilhelm II.
Aus der geschichtswissenschaftlichen Binnenperspektive betrachtet, mag dies daran liegen, dass der Fokus auf das Auswärtige Amt einen mehr oder weniger fest vorgegebenen nationalen Rahmen aufspannt. Ein solches Setting steht scheinbar im Widerspruch zu aktuellen historiografischen Themenschwerpunkten, insbesondere der Globalgeschichte und der transnationalen Geschichte. Darüber hinaus haben vermutlich auch bestimmte Diskursmechanismen zur bisherigen Vernachlässigung dieses zentralen Akteurs geführt – die Organisationsgeschichte eines Ministeriums eignet sich auf den ersten Blick eher weniger für plakative Zuspitzungen. Allerdings erschließen sich staatliche politische Praktiken und damit korrelierende Denkmuster, die sich im deutschen Kolonialismus artikulierten, vor allem durch die Analyse konkreter Akteure. Die Verwaltungselite im Auswärtigen Amt ist eine solche Akteursgruppe. Der vorliegende Sammelband wirft daher Schlaglichter auf historische Konstellationen, in denen sich die Rolle des Auswärtigen Amts im Kolonialismus exemplarisch greifen lässt. Welche Verantwortung kommt dem Amt nun eigentlich zu?
Das Auswärtige Amt hat aufgrund seines aktiven, allzu oft jedoch vor allem reaktiven Verhaltens eine Mitverantwortung für Gewalt und Verbrechen in den deutschen Kolonien sowie für die langfristigen Folgen kolonialer Herrschaft, die bis in unsere Gegenwart spürbar sind. Das Amt stürzte sich unvorbereitet in das koloniale Projekt und stützte sich dabei vor allem auf einen mentalen Rahmen, der sich bereits vor der formalen Kolonialzeit entwickelt und aktualisiert hatte, nicht zuletzt während der Verhandlungen mit anderen europäischen Partnern. Eine klar strukturierte Verwaltungspraxis scheiterte häufig bereits am Gegensatz zwischen der Planung in der Metropole und deren konkreter Umsetzung in der kolonialen Peripherie. Das Auswärtige Amt bediente sich kolonialer Denkmuster, Kategorien und Handlungsmodelle, jedoch fehlten Erfahrung, Wissen über die realen Verhältnisse und Routinen bei der Ausübung kolonialer Herrschaft. Die hieraus resultierenden Fehleinschätzungen und Fehlurteile begünstigten und verstärkten Unmenschlichkeit und Brutalität in den Kolonien.
Die Angehörigen des Auswärtigen Amts dachten und handelten in den Kategorien von Superiorität und Inferiorität. Aufgrund ihrer Herkunft, Kultur und Geschichte sahen sie sich den Menschen im globalen Süden überlegen. Hierin waren sie weiten Teilen der deutschen Gesellschaft und anderen europäischen Gesellschaften ähnlich.
Bis in die jüngere Vergangenheit hat sich das Auswärtige Amt seiner Verantwortung für den deutschen Kolonialismus nicht gestellt. Was waren die Gründe? Mit dem Versailler Vertrag von 1919 endete die formale deutsche Kolonialherrschaft. Doch koloniales Denken lebte lange Zeit in der Mitte der deutschen Gesellschaft fort – so auch im Auswärtigen Amt. Der Revisionismus in der Weimarer Republik bezog sich nicht nur auf die verlorenen Staatsgebiete des Deutschen Reiches in Europa, sondern speiste sich vorrangig aus der Nichtakzeptanz des «Verlusts» der Kolonien in Afrika, Asien und Ozeanien. Dieser vermeintlich unverschuldete Verlust an Weltgeltung wog umso schwerer, als andere europäische Mächte weiterhin Kolonien beherrschten. In der Zeit der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs verbanden sich nationalkonservative, monarchistische und antirepublikanische Haltungen im Auswärtigen Amt mit den expansionistischen und rassistischen Ideologemen des Nationalsozialismus.
Indifferenz und Ignoranz, Passivität und Relativierung prägten die bundesdeutsche Außenpolitik der Nachkriegszeit gegenüber den ehemaligen Kolonien und Regionen des globalen Südens. Die Bundesrepublik verortete sich im westlichen Bündnis, ein gutes Verhältnis zu den USA und den Partnern in der EG hatte außenpolitische Priorität. Grundsätzlich war die stärkere Einbindung Deutschlands in weltregionale Zusammenhänge ab den 1970er Jahren vom Lagerdenken des Kalten Krieges geprägt. Ein ernsthaftes Interesse für die komplexen Realitäten der Weltregionen im globalen Süden gab es vor diesem Hintergrund nicht. Wenn es bei der Imagination und Konstruktion des Westbündnisses doch einmal um den globalen Süden ging, betonte die Bundesrepublik die vermeintliche eigene koloniale Unbelastetheit.
Heute ist das Amt ein Protagonist in den Auseinandersetzungen über die koloniale Vergangenheit. Mit seinen diplomatischen Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien bzw. allgemein zu Ländern des globalen Südens ist es maßgeblich an Verhandlungen über...
Erscheint lt. Verlag | 16.5.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 | |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Außenpolitik • Auswärtige Amt • Erinnerung • Geschichte • Historiografie • Kaiserreich • Kolonialabteilung • Kolonialgeschichte • Kolonialismus • Politik • Reichskolonialamt • Wiedergutmachungsversuche |
ISBN-10 | 3-406-80714-3 / 3406807143 |
ISBN-13 | 978-3-406-80714-5 / 9783406807145 |
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