Vielfalt (eBook)
272 Seiten
Duden (Verlag)
978-3-411-91426-5 (ISBN)
Einleitung
Ein solch aufwendiges Werk mit 100 Autor*innen zu schreiben, lässt unweigerlich die Frage nach dem Warum? aufkommen: Warum gibt es so viele Themen und Autor*innen — und welches Anliegen verfolgt dieses Buch? Die Antworten darauf lassen sich kaum auf einen Nenner bringen. In meinen vielen Gesprächen zu dem Sachbuch habe ich festgestellt, dass alle Beteiligten eine etwas andere Vorstellung davon haben, weshalb sie dabei sind, was sie sich davon erhoffen und wieso ihr Thema eine Relevanz für Vielfalt haben könnte. Auch was Vielfalt und Diversity eigentlich zu bedeuten haben, wird von den Autor*innen, die ihre Texte unabhängig voneinander geschrieben haben, unterschiedlich interpretiert. Das finde ich bemerkenswert: Die 100 vielfältigen Blickwinkel tragen dazu bei, dass die 100 Kapitel nicht nur thematisch vielfältig aufgestellt sind, sondern sich das ganze Buchprojekt auch nur unter einem eher unklaren Begriff wie Vielfalt einordnen lässt. Allein dieses scheinbar Unkonkrete stimmt schon neugierig!
Vielfalt und Diversity sind übrigens keine Synonyme, obwohl die Begriffe als eine Übersetzung des jeweils anderen so verstanden werden können. Bei Duden online wird der Begriff Vielfalt1 mit »Fülle von verschiedenen Arten, Formen o. Ä., in denen etwas Bestimmtes vorhanden ist, vorkommt, sich manifestiert; große Mannigfaltigkeit« erklärt, wohingegen Diversität2 nur als Synonym für »Vielfalt, Vielfältigkeit« steht. Das aus dem Englischen entlehnte Wort Diversity3, das auch im Deutschen genutzt wird, wird differenzierter als Vielfalt gedeutet: »(als positiv wahrgenommene) Vielfältigkeit, Individualität innerhalb einer Gruppe2 oder der Gesellschaft (z. B. hinsichtlich Alter, Herkunft, Geschlecht[sidentität], Sexualität, Weltanschauung, körperlicher und geistiger Fähigkeit)«. Während Vielfalt also eher »nur« als Aufzeigen dieser »Mannigfaltigkeit« zählt, wird Diversity gerade im Englischsprachigen (aber auch zunehmend im Deutschsprachigen) als wichtige Form der Antidiskriminierungsarbeit4 und auch als Bildungsarbeit gesehen: Diversity ermöglicht die Teilhabe für alle Menschen. Sie schließt also nicht nur alle mit ein, sondern sie geht uns alle auch noch etwas an. Auch von diesen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen handelt dieses Buch. Und es möchte beides versuchen: Vielfalt und Diversity. Einerseits diese Vielfalt aufzeigen, aber andererseits auch deutlich benennen, wo es noch hakt — und dort, wo es noch zwickt, konstruktive Lösungsvorschläge einbringen.
Die Idee für dieses Buch entstand Ende 2021, als ich ein kleines Diversity-Lexikon5 mit mehreren Autor*innen für die Fachzeitschrift journalist des Deutschen Journalisten-Verbands entwarf. In dem Medienmagazin gebe ich seit 2015 Schreibtipps und analysiere dafür »Worte und Wörter«, mit denen Journalist*innen häufiger falschliegen oder sie Schwierigkeiten haben. Dieses Know-how gebe ich seit Jahren in Vorträgen, Workshops und Interviews weiter. Auch mit der Floskelwolke (2014–2023) und einem Piper-Sachbuch habe ich zusammen mit meinem Kollegen Udo Stiehl die Unsauberkeiten in der deutschen Sprache — gerade im Kontext von Nachrichten — besprochen. Fragen, die mir immer wieder im Journalismus begegnen, waren ebenfalls Beweggründe für die Umsetzung dieses Buchs: Weshalb werden einige Begriffe immer wieder falsch verwendet? Manchmal aus Versehen, aber auch bewusst und manipulativ. Weshalb liest man beispielsweise noch immer von einem euphemistischen »Familiendrama«6, unterlässt zugleich aber, das Thema Femizid zu benennen? Wieso schreibt man von einer Person, die angeblich »an den Rollstuhl gefesselt« sei, statt sachlich zu formulieren: »Die Person ist auf einen Rollstuhl angewiesen« oder gar mit einem positiven Dreh: »Dank des Rollstuhls kann diese Person wieder am Leben teilhaben«? Wieso wird der Begriff woke gekapert und für etwas vermeintlich Linkes umgedeutet? Weshalb gibt es altbekannte Themen, die trotz einer hohen Verbreitung und Aktualität immer wieder neu erklärt werden müssen? Was bedeutet queer noch mal? Sollte das nicht längst bekannt sein? Da wird es beim Unterschied zwischen Inklusion und Integration schon schwieriger, obwohl diese Themen Millionen Menschen betreffen. Und dann gibt es noch scheinbar oder tatsächlich neue Begriffe, die dennoch längst bekannt sein sollten, wie Person of Color, Klassismus, Bias und Care-Arbeit.
Ich beobachte aber auch, dass die Kenntnis dieser Begriffe mit einer unnötigen Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden — und dadurch viele Menschen in den Diskursen exkludiert. Zum Beispiel wissen viele nicht, was exkludieren bedeutet: nämlich ausschließen. Wenn über »marginalisierte Personengruppen« (siehe Marginalisierung) oder Intersektionalität gesprochen wird, ist es zwar wichtig, dass diese Fachbegriffe verwendet werden. Andererseits lässt man viele Menschen ratlos zurück, anstatt zumindest in einem Nebensatz zu erklären, was die Wörter eigentlich bedeuten. Es ist dann auch deshalb eine paradoxe Rhetorik, weil man ja mit diesen Themen auch jene Menschen ansprechen und erreichen möchte, die Interesse signalisieren und bestenfalls auch die, die längst abgeschaltet haben. Eine inklusive Sprache wäre aus meiner Sicht zielführender. Denn natürlich kann man von niemandem verlangen, alle 148.000 Stichwörter des aktuellen Rechtschreibdudens7 zu kennen. Es geht weniger um pedantisches Besserwissen einzelner Schlagworte, schon gar nicht um »Sprachpolizei«, sondern eher um das Wissen, was hinter den Wörtern steckt und wie wir die Herausforderungen, die sie benennen, gesellschaftlich anpacken können. Ein gutes Beispiel ist Ableismus. Der englische Begriff ableism tritt in den USA verstärkt8 seit den 1970er-Jahren auf. Im deutschsprachigen Raum findet er erst seit wenigen Jahren Verbreitung, wie die Verlaufskurve9 des Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache aufzeigt. Doch das Thema gibt es seit Menschengedenken: die Diskriminierung gegenüber Menschen mit Behinderungen — und selbst diese Deutung reicht nicht aus, um das facettenreiche Thema zu erklären. Wussten Sie übrigens, dass jede zehnte Person in Deutschland eine schwere Behinderung hat und nur drei Prozent mit einer Behinderung geboren wurden?
Dieses Diversity-Wörterbuch war aus mehreren Gründen herausfordernd, denn es unterscheidet sich von regulären Wörterbüchern und es möchte trotzdem ein wörterbuchähnliches Format darstellen:
1. Obwohl 100 Kapitel viel sind, repräsentativ können sie nicht sein. Das liegt schon alleine an der großen Menge an möglichen Themen, die einen Bezug zu Diversity bzw. Vielfalt haben: In der Vorbereitung dieses Buchs sammelte ich mehr als tausend Stichwörter und recherchierte Hunderte potenzielle Autor*innen. Dieses Sachbuch mit »nur« einhundert Beiträgen darf daher als Auftakt verstanden werden.
2. Wir haben versucht, eine breite Palette abzubilden: Diskriminierung, Religion, Medizin, Behinderungen, Digitalisierung, Sprache, Kultur, Queer, Medien, Geschlecht, Naturwissenschaften und viele Themen, die in unserer Gesellschaft gerade besonders relevant sind und viel diskutiert werden. Das Thema Sprache kommt — und hier sind wir dem Namensgeber des Verlags, Konrad Duden, verpflichtet — in jedem Kapitel vor.
3. Jedes einzelne Thema böte Stoff für mehrere Bücher, um die gesamte Bandbreite zu erklären. In den Kapiteln wird ein Fokus gesetzt, werden Beispiele gegeben und Aspekte kompakt zusammengefasst, um das Wichtigste zu vermitteln. Mit den Quellen und Medientipps (siehe Was dieses Buch enthält) geben die Autor*innen aber zusätzlich Empfehlungen zu weiterer Literatur. Diese Medien sollen Sie unterstützen, wenn Sie mehr über ein Thema erfahren möchten.
4. Die Kapitel sind Einordnungen von Expert*innen, die sich zur Sache hervorragend auskennen. Manche Einschätzungen decken sich nicht unbedingt mit denen anderer kompetenter Autor*innen und manchmal auch nicht damit, wie sie im Duden stehen. Um die Qualität und den Anspruch an ein Wörterbuch zu sichern, gab es zahlreiche Vorgaben und es wurde durch Lektorat, Korrektorat und Sensitivity-Reading alles gründlich geprüft und einem Fakten- und...
Erscheint lt. Verlag | 6.3.2024 |
---|---|
Reihe/Serie | Duden - Sachbuch |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Ableismus • Behinderung • Cis • Diversity • Gender • Inklusion • Klassismus • marginalisiert • Mysogenie • TERF • Vielfalt • woke |
ISBN-10 | 3-411-91426-2 / 3411914262 |
ISBN-13 | 978-3-411-91426-5 / 9783411914265 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 3,4 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich