Türkei verstehen (eBook)
656 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12260-2 (ISBN)
Gerhard Schweizer, 1940 in Stuttgart geboren, promovierte an der Universität Tübingen in Empirischer Kulturwissenschaft. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Wien, wenn er nicht gerade auf Reisen recherchiert und Material für neue Reportagen und Bücher sammelt. Er ist einer der führenden Experten für die Analyse der Kulturkonflikte zwischen Abendland und Orient und gilt als ausgewiesener Kenner der islamischen Welt. Gerhard Schweizer hat dazu mehrere Bücher veröffentlicht, die als Standardwerke gelten. Einem breiten Publikum wurde er vor allem durch seine Bücher über den asiatischen und arabischen Raum bekannt.
Gerhard Schweizer, 1940 in Stuttgart geboren, promovierte an der Universität Tübingen in Empirischer Kulturwissenschaft. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Wien, wenn er nicht gerade auf Reisen recherchiert und Material für neue Reportagen und Bücher sammelt. Er ist einer der führenden Experten für die Analyse der Kulturkonflikte zwischen Abendland und Orient und gilt als ausgewiesener Kenner der islamischen Welt. Gerhard Schweizer hat dazu mehrere Bücher veröffentlicht, die als Standardwerke gelten. Einem breiten Publikum wurde er vor allem durch seine Bücher über den asiatischen und arabischen Raum bekannt.
Der Türke in unseren Köpfen – und die Wirklichkeit
Atatürk, Erdoğan – und ein neuer Blick auf die Türkei
Wenn man Westeuropäer, besonders Deutsche, fragt, welche Namen türkischer Politiker ihnen spontan einfallen, nennen sie überwiegend nur zwei Namen: Atatürk und Erdoğan.
Der eine hat sich ins historische Gedächtnis auch der Europäer als der Begründer der Republik Türkei verewigt, der mit seiner Vorstellung von »Türkischer Moderne« maßgeblich die Entwicklung seines Landes bestimmt hat. Der andere beherrscht seit seinem überraschenden und fulminanten Wahlsieg im November 2002 die Schlagzeilen der internationalen Medien mit seiner Botschaft einer »Islamisch-Türkischen Moderne«. Erdoğan ist zum mächtigsten Politiker seit Atatürk geworden, und er beansprucht, Atatürk in wesentlichen Grundfragen zu korrigieren und sich neben dem Begründer der Republik Türkei einen ebenso bedeutenden Platz zu sichern. Auffallend ist Erdoğans Ehrgeiz, bis 2023 als Staatspräsident im Amt zu bleiben und mit derselben Machtfülle wie einst Atatürk das Jahrhundert-Jubiläum der Republik Türkei zu feiern.
Recep Tayyip Erdoğan hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Führer der »konservativ-islamischen« Partei »Gerechtigkeit und Entwicklung« (AKP) die Türkei vor dem Beinahe-Staatsbankrott gerettet, hat dem Land eine Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs und sozialer Stabilität beschert, hat den religiösen wie ethnischen Minderheiten mehr Rechte eingeräumt. Das alles sind Errungenschaften, die Erdoğan zum Hoffnungsträger machten, von dem man erwartete, dass er längst fällige Reformen in einer ideologisch erstarrten Republik einleiten werde.
Derselbe Politiker ist aber seit einigen Jahren dabei, diesen Ruf gründlich zu ruinieren. Er neigt zunehmend zu einem engstirnigen Nationalismus, geht hart gegen ethnische Minderheiten vor, engt die Meinungs- und Pressefreiheit ein – und kehrt damit in mancherlei Hinsicht zur Politik seiner Vorgänger zurück, ja, verschärft sie. Hinzu kommt eine Außenpolitik, welche die Türkei in die Bürgerkriegswirren des Nahen Ostens getrieben hat. So erlebt die Türkei nach einer mehr als zehn Jahre dauernden Phase der Stabilität nicht nur einen neu aufflammenden Konflikt mit der kurdischen Minderheit, sondern auch eine verstärkte Auseinandersetzung zwischen säkular und islamisch orientierten Türken sowie eine wachsende Konfrontation mit radikal-islamischen Bewegungen.
Wie hat es zu einer solchen erneuten Zuspitzung kommen können? Was unterscheidet Erdoğan von Atatürk, was von anderen führenden türkischen Politikern der vergangenen Jahrzehnte?
Diese Frage versuchte ich bereits in einem Buch zu beantworten, das 2008 unter dem Titel Die Türkei. Zerreißprobe zwischen Islam und Nationalismus erschien. Der Titel hat seine traurige Aktualität behalten. Ich hatte mich, wie viele andere westliche Beobachter, damals von dem Optimismus leiten lassen, dass die »Zerreißprobe« ihre eigentlich kritische Phase bereits hinter sich habe. Es könne Erdoğan mit seiner (anfangs) sehr pragmatisch ausgerichteten Politik gelingen, einen historischen Kompromiss zwischen den ideologisch einzementierten Fronten von Säkularisten, Laizisten und Islamisch-Konservativen herzustellen. Erdoğan könne also mit Augenmaß jene Fehlentwicklungen korrigieren, die durch die einseitige politische Dominanz einer säkularisierten Bevölkerung in urbanen Ballungsräumen gegenüber einem religiös-konservativ verwurzelten Volk in Kleinstädten und Dörfern entstanden war. Was aber sind die gesellschaftlichen Kräfte, die die Türkei im Inneren immer noch und immer wieder bis zum Zerreißen anspannen? Welches sind die gesellschaftlichen Kräfte, die eine tiefgreifende Veränderung verhindern?
Um diese Ambivalenz verständlich zu machen, habe ich 2016 das Buch unter dem Titel Türkei verstehen. Von Atatürk bis Erdoğan aktualisiert. Hier gehe ich auf die Ursachen ein, weshalb Erdoğan auf dem Höhepunkt seiner Macht und seines Erfolgs bereits 2008 begann, in die Krise zu steuern. Diese Entwicklung lässt sich aber nur vor dem Hintergrund früherer Jahrzehnte begreifen. Für die einerseits machtvolle Stellung der Türkei innerhalb der islamischen Welt wie auch für die unbewältigten Probleme sind neben Atatürk und Erdoğan eine Reihe weiterer Politiker verantwortlich. Um nur einige zu nennen, die in meinen Ausführungen ebenfalls einen breiten Raum einnehmen: Ismet Inönü, Adnan Menderes, Turgut Özal, Süleyman Demirel, Bülent Ecevit, Necmettin Erbakan, Abdullah Gül, Ahmet Davutoğlu.
Zur Darstellung kommt in diesem Zusammenhang aber auch, dass sich in der Türkei durch die »Zerreißprobe« zwischen sehr unterschiedlichen politischen Ideologien eine äußerst vielfältige Kultur entwickelt hat. Gerade in der Türkei haben muslimische Theologen, Wissenschaftler wie auch Literaten beträchtlichen Einfluss, um den Islam aus den Fesseln einer unreflektiert gelebten Tradition zu lösen. Sie stehen in Opposition nicht nur zu radikal-islamischen Ideologen, sondern auch zum »konservativen Islam« von Erdoğans AKP, darüber hinaus zu einer undifferenzierten Religionskritik säkularer Nationalisten.
Nicht der Islam bildet die Ursache für die Krise der Türkei, sondern die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die einen Diskurs über Reformen der Religion, ja überhaupt einen vorurteilslosen Gedankenaustausch erschweren. Es ist der fehlende Pluralismus besonders in der Politik. Diese Struktur, die weit zurückreicht bis in das Sultanat der Osmanen, ist bisher von keinem Reformer grundsätzlich durchbrochen oder hinterfragt worden. Eine solche Problematik teilt die Türkei allerdings mit nahezu allen Ländern der islamischen Welt – letztlich auch mit vielen nichtmuslimischen Ländern in Asien, Afrika, Lateinamerika. Schon aus diesem Grund wäre es falsch, die Krisensituation in der Türkei monokausal mit einem angeblich nicht reformierbaren Islam zu koppeln.
Aber weil im Oktober 2005 die offiziellen Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union begonnen haben, konzentriert sich die Frage auch darauf: Könnte die Mitgliedschaft ausgerechnet eines islamischen Landes nicht die Identität »abendländischer Kultur« gefährden? Kann ein Muslim mit seiner so anders gearteten Religion und Kultur geistig überhaupt in Europa ankommen? Es sind Fragen, die seit der zugespitzten Krisensituation unter Erdoğan sich wieder besonders auf den türkischen Muslim verlagern und noch mehr als bisher scharfe Diskussionen auslösen. Sobald wir jedoch die vielschichtigen Probleme der Türkei näher betrachten, ergeben sich eine Reihe von Überraschungen.
Islam und Verwestlichung
»Ich bin in Europa angekommen!« Der türkischstämmige Diskussionsteilnehmer sagte es mit Nachdruck. Er antwortete auf die Behauptung eines Deutschen, die Türken könnten geistig niemals in Europa ankommen; ihre andersartigen Traditionen machten es ihnen grundsätzlich unmöglich.
Das Wortgefecht entzündete sich auf einer Islam-Tagung in Deutschland. Der Ort ist austauschbar; derartige Konfrontationen sind exemplarisch besonders für Städte, in denen muslimische Zuwanderer ganze Wohnviertel prägen.
Der türkischstämmige Mann, etwa 30 Jahre alt, erklärte, er sei in Köln geboren und habe dort Abitur gemacht, sei deutscher Staatsbürger und kenne Deutschland besser als die Türkei. Auch seine Eltern, die vor 40 Jahren aus Istanbul zugewandert seien, hätten keine Schwierigkeiten gehabt, in Europa anzukommen. Warum auch? Bereits Atatürk habe der Türkei den Weg nach Europa gewiesen, die Scharia abgeschafft und durch eine Gesetzgebung nach westlichem Vorbild ersetzt, dies wollten viele Deutsche noch immer nicht wahrhaben.
Aber der Islam? Der Islam als Religion, widersprach ihm heftig einer der deutschen Diskussionsteilnehmer, sei doch eine zutiefst fremde Religion, die sich niemals mit europäischen Werten vereinbaren lasse. Da möge von türkischen Politikern noch so sehr betont werden, ihr Land sei unterwegs nach Europa. Der Islam selbst verhindere geistig jede Integration in Europa, das zeige doch gerade die aktuelle Entwicklung in der Türkei.
Im Publikum entstand Unruhe. Es war ein gemischtes Publikum, überwiegend Deutsche, aber auch einige Deutschtürken, Vertreter einer integrierten Mittelschicht, deren Familien schon seit einer oder zwei Generationen in der neuen Heimat lebten. Bei der erwähnten Islam-Tagung hatte ich über die geistige Verwandtschaft von Islam und Christentum referiert. Nur ein Teil des Publikums stimmte mir zu, nicht der Islam sei das eigentliche Problem, sondern die mangelnde Information über die fremde Kultur.
Solche Diskussionen werden auf Islam-Tagungen besonders prononciert geführt. Aber Auseinandersetzungen über die »Fremdheit« der islamischen Kultur werden in europäischen Medien bekanntlich oft noch viel emotionaler ausgetragen und gewinnen dann Breitenwirkung mit Folgen für die Beziehungen zwischen westlichen und muslimischen Völkern. In Deutschland spielt naturgemäß der Bezug auf den türkischen Islam sowie die politisch unruhige Entwicklung in der Türkei eine...
Erscheint lt. Verlag | 16.12.2023 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Regional- / Landesgeschichte |
Naturwissenschaften ► Geowissenschaften ► Geografie / Kartografie | |
Schlagworte | Abendland • abendländische Welt • Billig • eBook • E-Book • günstig • Islam • Islamische Welt • Islamisierung • Islamkonflikt • Islamwissenschaften • Kultur • Kulturwissenschaften • Taschenbuch • Türkei |
ISBN-10 | 3-608-12260-5 / 3608122605 |
ISBN-13 | 978-3-608-12260-2 / 9783608122602 |
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