Kind im Schatten (eBook)
752 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3062-4 (ISBN)
Andrea Elliott arbeitet als investigative Journalistin für die New York Times. Für ihre Artikelserie 'An Imam in America' erhielt sie 2007 den Pulitzer-Preis. Für 'Invisible Child' erhielt sie ihn 2021 erneut. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaften und Journalistik und ging danach zum Miami Herald. Andrea Elliott lebt mit ihrem Mann und den zwei Kindern in New York.
Andrea Elliott arbeitet als investigative Journalistin für die New York Times. Für ihre Artikelserie "An Imam in America" erhielt sie 2007 den Pulitzer-Preis. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaften und Journalistik und ging danach zum Miami Herald. Andrea Elliott lebt mit ihrem Mann und den zwei Kindern in New York.
Kapitel 1
Sie erwacht von Atemgeräuschen.
Die kleineren Kinder liegen durcheinander unter Mänteln und Wolldecken, ihre Brustkörbe heben und senken sich im Dunkeln. Sie rühren sich noch nicht. Ihre Schwester ist immer die Erste.
Sie sieht sich im Raum um, erkennt nur Umrisse – die Andeutung eines Kinns oder einer Augenbraue im Licht, das von der Straße heraufdringt. Mäuse huschen über den Boden. An der Decke krabbeln Kakerlaken. Der Hahn des kleinen Waschbecken tropft und tropft, an einem rostigen Rohr sprießt Schimmel.
Ein paar Meter weiter steht der gelbe Putzeimer, den sie als Toilette benutzen, dort liegt auch die Matratze, auf der eng umschlungen Mutter und Vater schlafen. Wie Strahlen verteilen sich ihre insgesamt acht Kinder in alle Richtungen um sie: zwei Jungen und fünf Mädchen, in ihrer Mitte das Baby, dessen Gitterbett von einem Föhn auf einer Plastikkiste gewärmt wird.
Sie haben gelernt, überall zu schlafen. Sie schnarchen in asthmatischen Zügen neben einem Riss in der Wand, aus dem das Sägemehl rieselt. Sie husten, manchmal murmeln sie im Traum. Nur ihre Schwester Dasani ist wach.
Für eine Elfjährige ist Dasani winzig und sehr schreckhaft. Sie hat ein zierliches ovales Gesicht und leuchtende Augen, die alles eulengleich beobachten. Ihre Mimik pendelt zwischen Misstrauen und Staunen. Die Leute machen häufig Bemerkungen darüber, wie hübsch sie ist – hohe Wangenknochen und kastanienbraune Haut –, doch diese Kommentare scheinen nie anzukommen. Immerhin weiß sie, dass sie mit perfekten Zähnen gesegnet ist. Wenn man von einer Spange höchstens träumen kann, sind gerade Zähne ein Lottogewinn.
Dasani gleitet unter ihrer Decke hervor und tritt ans Fenster. Frühmorgens an Tagen wie diesem kann sie über ganz Brooklyn sehen, über die Dächer und die Sozialwohnungen und den glänzenden East River. Ihre Augen können bis nach Manhattan reisen, bis auf die Spitze des Empire State Buildings, dem ersten New Yorker Wolkenkratzer mit über hundert Stockwerken. Solche Fakten rezitiert sie in einem Singsang nach dem Motto »Schau, was ich weiß«. Sie fixiert diesen fernen Tempel, die himmelweisende Spitze, die von Versprechungen erleuchtete Fassade.
»So bekomme ich das Gefühl, dass da draußen was los ist«, sagt sie. »Ich habe viel Möglichkeiten. Echt wahr. Ich hab viel zu sagen.«4
Eines der ersten Dinge, die Dasani sagt, ist, dass sie rannte, bevor sie gehen konnte. Sie ist sehr gerne Erste – die Erste, die geboren wurde, die Erste, die in die Schule ging, die Erste, die eine Prügelei gewonnen hat, die Erste, die auf der Ehrentafel stand. Sie ist ein Kind von New York City.
Selbst Dasanis Name zeugt von einer gewissen Größe. Ganz kurz vor ihrer Geburt war die gleichnamige Wassermarke bis in die Bodegas von Brooklyn vorgedrungen und dort ihrer Mutter ins Auge gefallen, die sich solchen Luxus nicht leisten konnte. Wer bezahlte schon für Wasser in Flaschen? Allein der Klang der Marke – Dasani – beschwor ein anderes Leben herauf. Er stand dafür, dass an der Wende zu einem neuen Jahrhundert eine neue Bevölkerung in den Startblöcken stand, um Brooklyn für sich zu erobern.
Als Dasani am 26. Mai 2001 zur Welt kam, war das alte Brooklyn im Verschwinden begriffen.5 Ganze Wohnblocks sollten saniert werden, die Familien umgesiedelt, ihre Geschäfte geschlossen, ihre Geschichten ausgelöscht durch eine so umfassende, so kometenhafte Gentrifizierung, wie keine Wassermarke der Welt es hätte andeuten können. Und während für die einen der Wohlstand wuchs, verstärkte sich für die anderen die Armut;6 damit wuchs Dasani – wie ihr Name es versprach – an einem nie da gewesenen Ort auf.
Ihre Skyline strotzt von luxuriösen Hochhäusern, Leuchtzeichen eines neuen Gilded Age. Der Wohlstand der Stadt ist bis an die Randzonen vorgedrungen, bringt Pour-over-Kaffee und hausgemachte Donuts an Orte, die einst als marode galten. So auch Dasanis Geburtsviertel, Fort Greene in Brooklyn, wo renovierte Stadthäuser mit gepflegten Gärten und beheizten Marmorböden entstehen. Nur wenige Schritte entfernt stehen zwei Komplexe mit Sozialwohnungen und dazwischen eingeklemmt eine städtische Notunterkunft für Wohnungslose, in der die Heizung nicht funktioniert und die Lebensmittel verderben.
An einem Nordfenster im vierten Stock dieser Einrichtung sitzt jetzt Dasani und blickt nach draußen. Beinahe ein Viertel ihrer Kindheit hat sie in der Auburn Family Residence verbracht, in der ihre Familie – insgesamt zehn Personen – in einem einzigen Zimmer lebt. Im Herbst 2012 ist Dasani hinter den Mauern der Unterkunft Teil einer unsichtbaren Schar von über 22 000 wohnungslosen Kindern – so viele, wie in Amerikas ungleichster Metropole7 noch nie zuvor gezählt wurden.8 Beinahe die Hälfte der 8,3 Millionen Einwohner von New York leben nahe oder unter der Armutsgrenze.9
Dasani kann sich im Blick aus ihrem Fenster verlieren, bis die Geräusche im Auburn Shelter sie wachrütteln. Die Geräusche bedeuten ganz unterschiedliche Dinge. Sie sortiert sie wie schmutzige Wäsche. Die leisesten Geräusche sind ungefährlich – das Heulen eines von Bauchweh geplagten Kleinkinds weiter hinten im Flur, das hungrige Gebell der Chihuahuas der Dame aus Puerto Rico, die Junkies, die in irgendeinem abgefahrenen Rausch durch die Sozialbausiedlung irren. Sie können kreischen wie Straßenkatzen, aber keiner hört zu.
Die wichtigen Geräusche klingen anders. Laut und schnell, rhythmisch abgehackt. Das Rattern von Schüssen. Das Schlagen von Fäusten. Das Pochen eines Wachmanns an der Tür. Wann immer das zu hören ist, fängt Dasani an zu zählen.
Sie zählt ihre Geschwister, immer zwei und zwei, so, wie ihre Mutter gesagt hat. Zuerst die Daumenlutscher: die sechsjährige Hada und die siebenjährige Maya, die sich eine kleine Matratze teilen. Dann die Zehnjährigen: Avianna, die am lautesten schnarcht, und Nana, die langsam erblindet. Zum Schluss die Brüder: der fünfjährige Papa und der elfjährige Khaliq, die ihr metallenes Stockbett zur boys-only-Festung erklärt haben.
Sie sind alle da, sechs schlummernde Kinder, die alle dieselbe abgestandene Luft atmen. Wenn Gefahr droht, weiß Dasani, was zu tun ist. Sie rüttelt sie wach. Sie schärft ihnen ein, still zu sein. Dann lassen sie sich lautlos auf den Boden fallen.
Alle bis auf Baby Lee-Lee, die kreischt wie eine Sirene. Immer noch vergisst Dasani, auch das jüngste Kind mitzuzählen. Sie ist im März geboren und zerreißt die Luft mit ihren Schreien. Bis dahin hatte Dasani sich für eine Babyexpertin gehalten. Sie konnte Windeln wechseln, Bäuerchen herausklopfen, eine fiebrige Stirn ertasten. Sie erkannte sogar den Unterschied zwischen Geschrei vor Hunger und Geschrei vor Müdigkeit.
Lee-Lees Schreien aber war anders. Nur eine Mutter konnte es beruhigen, und ihre Mutter war weg.
Vor fast einem Jahr hatte das städtische Jugendamt (ACS) die vierunddreißigjährige Chanel Sykes von ihren Kindern getrennt, nachdem sie einer Opioid-Sucht verfallen war. Auch ihr Mann hatte eine lange Drogenvergangenheit. Doch unter gerichtlicher Aufsicht war er bei den Kindern geblieben. Er wurde clean, während seine Frau einen Entzug antrat.
Jetzt ist Chanel zurück, das Sorgerecht wurde ihr wieder zuerkannt. Immer noch brüllt das Baby. In der Regel ist es dieses Geräusch, das Dasanis Trance durchbricht und sie dazu bringt, das Fenster zu verlassen und Lee-Lees Flasche zu holen.
Dasani tastet sich durch den Raum, den sie »Haus« nennt – 48 Quadratmeter, darin ihre Familie und alles, was sie besitzen. Zahnbürsten, Liebesbriefe, ein Wörterbuch, Fahrräder, eine Xbox, Geburtsurkunden, Skippy Erdnussbutter, Unterwäsche. In einer Schachtel haust Dasanis Schildkröte, die mit Wurststückchen und einem gelegentlichen Tortillachip durchgefüttert wird. An der Wand hängen ausgewählte Kunstwerke der Kinder: eine helle Filzstiftsonne, eine Blumenwiese, ein geschlängelter Weg. Jeder Zentimeter des Zimmers ist belegt.
»Wir haben alle unseren Platz«, sagt Dasani.
Jeder Platz wird regelmäßig gefegt, mit Chlorbleiche besprüht und mit Mäusefallen bestückt. Früher haben die Mäuse Dasani mit ihrem Dreck und ihren Bissspuren terrorisiert. Heute ist Zimmer 449 ein Schlachtfeld, auf dem sich die Kinder und die Nager ihre Gefechte liefern – bis zu einem Dutzend Leichen sind es pro Woche. Eine Maus zu töten ist ein Triumph.
»Wir verbrennen sie!«, erklärt Dasani ohne jede Spur der Tierliebe, die ihrer Schildkröte vorbehalten bleibt. »Wir nehmen Stöckchen und stechen ihnen die Augen aus! Wir brechen ihnen das Genick. Wir ersticken sie mit Salz!«
Im schummerigen Chaos von Zimmer 449 sucht sie fieberhaft nach Lee-Lees Milchpulver, das von der Unterkunft gestellt wird, aber häufig abgelaufen ist. Dasani wirft einen Blick auf das Verfallsdatum. Jetzt muss die Flasche erwärmt werden. Das geht nur, indem sie den Raum verlässt, was seine eigenen Gefahren mit sich bringt. Bis Ende dieses...
Erscheint lt. Verlag | 30.11.2023 |
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Übersetzer | Elsbeth Ranke |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | afroamerikanisch • Armut • Brooklyn • Empire State Building • investigativ • Journalismus • New York • New York Times • Pulitzer • Sozialstaat • Wohnungslosigkeit |
ISBN-10 | 3-8437-3062-8 / 3843730628 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3062-4 / 9783843730624 |
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